Das Pessach-Fest ist eines der höchsten Gedenkfeste Israels und fällt häufig auf den gleichen Termin wie das christliche Osterfest. Das siebentägige Fest erinnert jährlich an die Geschichte der Juden und deren Auszug aus Ägypten. Es beginnt mit der häuslichen Feier des Sederabends des 14. Nisan nach einem bestimmten Ritual und dauert bis zum 22. Nisan. Im Jahre 2010 wird Pessach vom 30. März bis 6. April gefeiert.
Der aus Flamersheim - heute ein Stadtteil von Euskirchen - stammende Joseph („Jupp“) Weiss (16.5.1893-12.9.1976) verfasste den Artikel „Seder 1945 im Kinderhaus von Bergen-Belsen“ wenige Monate nach der Befreiung. Als Judenältester von Bergen-Belsen hatte er das danteske Purgatorium miterleben müssen. Umso größer ist der Kontrast zu dieser Sederfeier im Kinderhaus, die ich erstmals 1983 in meinem Buch „JUDAICA – Juden in der Voreifel“ (S. 441/442) in deutscher Sprache veröffentlichen konnte. Übersetzungen liegen seitdem bereits in mehreren Sprachen vor. Eine neue Hebrew-Übersetzung von Shmuel Emanuel wird in einigen Tagen auf meiner Homepage erscheinen.
Es ist eigentlich gar nicht vorstellbar, dass eine jüdische Sederfeier inmitten des Infernos von Bergen-Belsen abgehalten werden konnte. Während Tausende von Toten unbeerdigt in diesem Konzentrationslager lagen und die Überlebenden jederzeit den Tod vor Augen haben mussten, saßen etwa 30 meist elternlose Kinder mit einem Flamersheimer Juden zusammen und richteten sich trotz der großen Not nach den vorgeschriebenen Regeln ihrer Religion.
„Du mußt heute abend in allen Baracken sprechen", sagte meine Frau bei der Morgenbegrüßung in ihrer Baracke zu mir. -„Was soll ich aber sagen?" antwortete ich. „80 % aller Personen sind krank - Fleckfieber, Erschöpfung! Wir haben Quarantäne, kaum Brot - seit 10 Tagen wird höchstens ein Fünftel unserer uns zustehenden Ration geliefert. Butter und Brotaufstrich kennen wir nicht mehr. Du weißt, ich habe jeden Jomtov gesprochen. Wir haben in den Baracken kleine Zusammenkünfte veranstaltet. Denke an unsere Kinderfeiern von Chanukka und Purim, die für jung und alt erhebend waren. Oder erinnere Dich daran, daß am ersten Chanukka-Abend in allen Baracken, im Krankenhaus in allen Sälen, im Alters- wie im Kinderheim um dieselbe Zeit Lichter angesteckt wurden. Diese Handlung war keine Domäne der Orthodoxie. Juden aller Richtungen beteiligten sich hier - eine nicht zu unterschätzende Leistung in einem der berüchtigsten KZs Deutschlands. Ein Zeichen von Kraft und Lebenswillen von Juden, die 45 Nationen angehören, in menschenunwürdiger Weise in Baracken zusammengepreßt sind!
Aber heute sprechen, wo man sagen müßte: ,Jeder, der komme, der esse mit mir!'- Nein, Mami, das ist zu schwer für mich Ich bin auch nur ein Mensch, und wir haben keine Vorräte mehr, um selbst den Kranken und Erschöpften etwas extra geben zu können. Und neue Zufuhr kommt nicht mehr, und wenn ich rede, muß ich das alles sagen."
„Gerade darum mußt Du reden; der von Dir selbst zitierte Satz aus der Haggada muß der Leitfaden Deiner Ansprache sein." So antwortete meine Frau in ihrer wie immer ruhigen und überzeugenden Art.
Wir hatten selbst eine Einladung, den Seder im Kinderheim mitzufeiern. Ich besuchte abends alle Baracken unserer Gruppe (das KZ Bergen-Belsen bestand aus neun verschiedenen Gruppen, die durch Stacheldraht voneinander getrennt waren) und sagte - kurz geschildert - etwa folgendes:
„Es ist zwar paradox, den Satz aus der Haggada zu zitieren: Jeder, der komme, der esse mit uns!', denn hier ist das Gegenteil der Fall. Alle haben wir Hunger. Wir von der Leitung können Euch nichts mehr besorgen. Es sieht mit unserer Ernährung trostlos aus. Ich kann Euch kein Brot geben, nur mit Worten kann ich Euch Mut zusprechen. Haltet die letzten fünf Minuten aus, es sind die letzten. Wenn wir auch keine Zeitung lesen und kein Radio hören, wir fühlen es!! Wir gehören zu den wenigen europäischen Juden, die dieses Völkermorden vielleicht überdauern werden. Wir müssen durchhalten, weil wir an der Renaissance unseres jüdischen Volkes mitbauen müssen. Wir haben viele Völker untergehen sehen. Selbst nach diesem Kriege wird für uns, die wir persönlich so viele Opfer gegeben haben, auch die Sonne wieder scheinen." Ich hatte etwas Angst, ihnen dieses heute abend zu sagen, aber als ich beim Betreten dieser Baracke sowie aller anderen Baracken sah, daß auf den wenigen zur Verfügung stehenden Tischen, auf den Betten, in den Gängen, Kerzen brannten und überall in kleinen Gruppen Seder gegeben wurde, da fiel mir das Reden leicht, denn hieraus konnte ich entnehmen, daß sie innerlich so dachten wie ich. Ein kräftiges „Omein" bei den Aschkenasim und „Amen" bei den Sephardim war stets die Antwort der Zuhörer am Schluß meiner Ansprache.
Nachdem ich zehnmal gesprochen hatte, kam ich ins Kinderheim, wo man mit dem Beginn des Seder auf mich gewartet hatte. Hier war ich über alles überrascht, und es erfüllt mich heute beim Niederschreiben dieser Zeilen noch mit Stolz, was hier jüdische Menschen trotz aller Erniedrigungen und Leiden jüdischen Kindern boten:
Ein herrlich gedeckter Tisch, Sitzplätze, nach zwei Seiten Bänke, nach zwei Seiten die unteren der dreistöckigen Betten. Einige Familien waren zu Gast, u. a. die Witwe eines vor wenigen Tagen verstorbenen holländischen Oberrabbiners und die Kinder des anderen holländischen Oberrabbiner-Ehepaares, die um dieselbe Zeit an Hungerödemen gestorben waren. Diese so 30 Kinder saßen in den „besten" Lagerkleidern strahlend um den Tisch. Vater Birnbaum gab den Seder in traditioneller Weise mit allen Erklärungen und Beantwortungen aller Fragen der Kinder. Die Sederschüssel war vorschriftsmäßig, wenn auch Ersatz.
Nach dem ersten Teil gab es Essen, einfach herrlich, verschiedene Gerichte. Die Kinder und die Erwachsenen strahlten. Es waren Kunstwerke von Mutter Birnbaum, die mit ihren Töchtern für das leibliche Wohl der Gäste sorgte. Der Wein war ebenfalls prima, wenn auch Ersatz.
Wir haben 15 Monate als Hauptnahrung in Bergen-Belsen Kohl und andere Rüben gegessen; aber nur einmal habe ich den Wert der Rüben anerkannt, das war an diesem Abend. Denn der Inhalt der Sederschüssel, das Essen und der Wein (sprich: Saft) waren zu 90 % Produkte von Rüben, durch die Künstlerhände von Mutter Birnbaum für obige Zwecke geformt.
Der zweite Teil des Seder war ebenso feierlich wie der erste. Die Gesänge wurden von den Kindern bestritten. Ich habe sie nie schöner gehört als von diesen Kinderstimmen. Zum Schluß sangen wir gemeinsam: „Leschana Haba'ah Biruschalaim".
Ergriffen verließen wir das Kinderheim, um in die 'Wirklichkeit' zurückzukehren. Ich begleitete meine Frau und unseren Sohn in ihre Baracken. Dann begab ich mich ins Büro, um mit meinen Mitarbeitern die gewohnte tägliche Namensliste der Verstorbenen im gesamten KZ zu machen. Es waren heute 596, davon etwa 500 Juden."