Über 60 Euskirchener Juden leben in Amerika, Israel und Australien –
Trotz härtester Schicksale sind Verbindungen zur Heimat nicht abgebrochen
Euskirchen — „Das Verhältnis der jüdischen Einwohnerschaft zu ihren christlichen Mitbürgern ist das denkbar Beste: Judenhaß und konfessionelle Unduldsamkeit sind fremde Gewächse, die auf Euskirchener Boden nimmer gedeihen!" Die Prognose des Euskirchener Pädagogen und Heimatforschers Peter Simons aus dem Jahre 1926 sollte innerhalb zweier Jahrzehnte auf grausame Weise widerlegt werden.
Bei Kriegsende lag Euskirchen in Trümmern, die Juden waren der „Endlösung" des Nazi-Regimes anheim gefallen, Tatsachen wie Judenverfolgung, „Reichskristallnacht“ und Deportation ließen sich auch aus Euskirchen nicht mehr wegleugnen.
Ziemlich genau 36 Jahre nach Kriegsende ist man nun in der Kreisstadt soweit, den Opfern der faschistischen Terrorherrschaft ein Mahnmal zu widmen. Landesrabbiner Emil Davidovic wird morgen um 11 Uhr den Gedenkstein auf der kleinen Grünfläche an der Annaturmstraße, wo einst die Synagoge stand, weihen.
Nach — für viele Bürger unverständlich — langen Diskussionen entschied der Stadtrat im vorigen Jahr, 12.000 DM für das Mahnmal bereitzustellen, das an die jüdischen Mitbürger erinnern soll, die im Stadtgebiet, in Großbüllesheim, Kuchenheim, Flamersheim, Kirchheim und Schweinheim gelebt haben. Auf dem Stein, den Bürgermeister- Stellvertreter Franz Roggendorf morgen enthüllen wird, steht folgende Inschrift: „Unseren jüdischen Mitbürgern — den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft".
Zu Beginn des Nationalsozialismus lebten in und um Euskirchen etwa 350 jüdische Mitbürger, die in das kulturelle und politische, wirtschaftliche und soziale Leben voll integriert waren. Die Integration in die Bürgerschaft unterstreicht am ehesten das Fehlen jeglicher „jüdischer Vereine", wenn man von spontan organisierten sportlichen Aktivitäten einmal absieht.
Wie alle anderen Bürger waren in der Kreisstadt und Umgebung die Juden Mitglieder von Kriegervereinen, Turnerbünden, Kegelklubs oder Parteien, so dass bis 1933 auffallende antisemitische Strömungen so gut wie unbekannt waren. Nach Machtübernahme der Nazis änderte sich die Situation schnell.
Im vergangenen Jahr interviewten Gymnasiasten der Marienschule Euskirchener Bürger und stellten dabei fest, daß man recht gut informiert war über die Situation der Juden. Man wußte, daß sie in der Baumstraße, Grünstraße oder Ursulinenstraße in „Judenhäusern" lebten, nur zu bestimmten Zeiten einkaufen durften und auf ihre „Reise in den Osten" warteten, was allerdings mit „harter Arbeit" verbunden wurde.
Im Stadtarchiv befinden sich ungezählte Bittbriefe von Euskirchener Bürgern, die nach dem „Abtransport" der Juden deren Wohnungen haben wollten. Während fanatisierte Nationalsozialisten Juden schikanierten, waren aber andere Euskirchener bereit, ihren verfolgten jüdischen Mitbürgern zu helfen, soweit es ihre Möglichkeiten zuließen.
Den Marienschülern fiel bei ihrer Untersuchung auf, daß man wenig über das Schicksal der jüdischen Mitbürger nach 1952 wußte. Man gewann den Eindruck, daß mit dem Ende des Nationalsozialismus auch das Ende der meisten jüdischen Euskirchener verbunden sei. Und das ist Gott sei Dank nicht der Fall.
„Träume, nichts als Träume!"
Wenn auch das Koblenzer Bundesarchiv eine stattliche Definitivliste umgekommener Mitbürger führt, so weisen die Korrespondenzen mit 60 im Ausland lebenden jüdischen Ex-Euskirchenern, Flamersheimern und Kuchenheimern nach, daß doch noch viele gerettet wurden.
Wer will es leugnen, daß ihr Verhältnis zu ihrer Geburtsstadt oft noch gespalten ist. Der heute in Miami lebende Moritz Schweizer, einst prominenter Repräsentant der jüdischen Gemeinde von Euskirchen, formulierte 1946 in einer für die damalige Zeit unbegreiflichen Toleranz: „Träume, nichts als Träume! — Aber die Erinnerung bleibt, und die läßt noch ihren Glanz über all dem aus jener Zeit ausgebreitet, so daß man stets nur das Schöne nacherlebt!"
Und mit welcher Liebe hing der im Januar 1981 verstorbene Arthur Israel (Isdale) an seiner Heimatstadt Euskirchen, aus der er 1938 flüchtete, um 1945 als britischer Besatzungssoldat wieder einzurücken. Daß man von hier drei Jahre vorher seine Eltern deportierte, hat er allerdings nie verstehen können.
Flamersheim und sein evangelisches Presbyterium plante schon 1979 eine Gedenktafel als Erinnerung an seine jüdischen Mitbürger. Wie sinnvoll wäre allerdings ein persönlicher Kontakt zur „Flamersheimer Kolonie" in Israel. Da lebt Siegfried Oster, einst erfolgreicher Fußballer in seiner deutschen Heimat, und kann sich immer noch nicht überwinden, das Dorf zu betreten. Da konnte Erna Herzberg geb. Herz, im Sommer letzten Jahres leichter über ihren Schatten springen, zumal sie wußte, wer ihren deportierten Eltern vorher noch geholfen hatte.
Auch der Sohn des ehemaligen Synagogenvorstehers Arthur Weiss, Kurt Weiss/Raanana, ist bereit, Vorurteile abzubauen. Er hatte 1934 als letzter jüdischer Schüler am heutigen Emil-Fischer- Gymnasium sein Abitur gemacht und lobte in einem Schreiben vom 15. Januar 1981 die menschliche Haltung seines damaligen Klassenlehrers Hermesdorf. Oskar Aron, geboren in Arloff und seßhaft in Flamersheim, galt lange Zeit als „ältester Briefträger Israels". In seinen Tagebüchern werden die Flamersheimer namentlich aufgeführt, die ihm und seiner Frau Veronika während der „Kristallnacht" geholfen haben.
Die heute 87jährige Rieka Weiss, einst Mönchstraße 64, die heute in der Nähe von Detroit/ Michigan wohnt, überlebte im Konzentrationslager Theresienstadt. Sie bestätigte schriftlich am 11. November 1980: „An der Kristallnacht hat sich die Flamersheimer Jugend nicht beteiligt, aber kein Flamersheimer hatte die Courage, etwas dagegen zu tun!" Überlebt hat zum Beispiel auch Else Oster und manch anderer Jugendlicher, der auf dem Gruppenfoto „Flamersheimer Judenschule 1923" zu finden ist.
Zur „High-Society" avancierte Ilse David, deren Mutter eine in Flamersheim geborene Cleffmann war. Sie wanderte mit dem letzten Schiff vor Ausbruch des Krieges nach Casablanca aus, wo sie in zweiter Ehe den Bruder des früheren französischen Außenministers, Maurice Schumann, heiratete. Noch heute befindet sich ein großer Teil des Weidelandes zwischen Kirchheim und Flamersheim in ihrem Besitz.
Trotz Stadtsanierung ist selbst äußerlich noch jüdisches Geschäftsleben - fast symbolhaft - sichtbar. An der Außenwand des Hauses Bischofstraße 21 ist noch schwach die Werbung der bekannten jüdischen Metzgerei Fröhlich sichtbar. Von den zahlreichen Familienmitgliedern lebt heute nur noch Martha Cleffmann geb. Schnog in Heidelberg. Ihre Flucht zur französisch-belgischen Widerstandsbewegung hat ihr das Leben gerettet. Ihr Haus in der Bischofstraße ist bis heute in ihrem Besitz.
Schweres Überleben
Das Überleben unserer jüdischen Mitbürger war – egal, wo man sich befand - unvorstellbar schwer. Glück hatte der, der bereits rechtzeitig das Unglück voraussah und auswanderte. Die Familie Hanauer, stadtbekannt wegen eines gut florierenden Stoff- und Kurzwarengeschäftes in der Wilhelmstraße, wanderte nach Palästina aus.
Paul Hanauer schilderte die ersten Jahre: „Ich schloß mich einem Kibbuz an. Das Leben war sehr schwer, wenig zu essen; aber schwere Arbeit! Dazu kamen alle diese »Pionierkrankheiten« wie Malaria etc. Die ersten vier bis fünf Jahre wohnten wir nur in Zelten, die in den Winterstürmen manchmal mal wegflogen. Aber das Gefühl der Verbundenheit war so stark, daß man alles ertrug. Mein Vater, Siegfried Hanauer, war 57 Jahre alt, als er mit seiner Frau ins Heilige Land kam. Er arbeitete (früher Geschäftsmann und Mitglied in vielen Euskirchener Vereinen) als landwirtschaftlicher Arbeiter. Aber das Klima und die schwere körperliche Arbeit waren zuviel für ihn. Er starb bereits nach knapp zwei Jahren."
Vor drei Jahren war Schaul (Paul) Hanauer zum letztenmal in Euskirchen, um seinem Enkel die Heimat zu zeigen. Der Rabbiner Bayer, der mit seiner Familie auf der Billiger Straße wohnte, konnte rechtzeitig über Holland nach Kanada emigrieren. Sein Sohn Raphael, heute selber geachteter Rabbiner in Jerusalem, konnte dank des Engagements hilfsbereiter Holländer überleben. Der aus Meckenheim stammende Fritz Juhl, Vetter des gleichnamigen Mitbürgers, aus Zülpich, war mit der Familie Frank befreundet, deren Tochter Anne das weltberühmt gewordene Tagebuch verfaßte. Sein „Untertauchhospes" Benschop wurde jedoch am 8. März 1945 zusammen mit 16 anderen als Geisel von den Deutschen erschossen.
Mit dem Kulturleben der Stadt Euskirchen war auch die Familie Heilberg verbunden, war doch Vater Salomon Heilberg jahrzehntelang jüdischer Religionslehrer, Internatsleiter und Mitglied des Stadtrates. Während seine Familie zum größten Teil ins Ausland flüchten konnte, verstarb er am 18. März 1942 im Exil. Die uns erhalten gebliebene Gedenk- und Trauerrede sollte eine Bereicherung des Stadtarchivs werden.
Man kann nicht jedes Schicksal unserer einstigen Mitbürger darstellen. Aber fest steht, daß mit der Einweihung des jüdischen Gedenksteins die Namen vieler jüdischer Familien verbunden sind.