ZÜLPICH und SINZENICH
Zwei Mädchen aus Sinzenich, Ilse und Ruth Scheuer, überlebten den Holocaust sowie das Vernichtungslager Auschwitz. Beide leben heute verheiratet in den USA und sind inzwischen bekannte Zeugen im Projekt von Steven Spielberg »Survivors of the Shoah« Auschwitz II (Birkenau, February 1944).
Gemeinsam mit ihrer Cousine Evelyn Heilbronn geb. Levy standen sie dem Autor des neuen Buches »Reichskristallnacht - Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande« als Augenzeugen zur Verfügung. Über ihr Schicksal ist im Internet mehr zu erfahren.
Detailliert sind die inzwischen gefundenen Gerichtsunterlagen über die »Reichskristallnacht« in Zülpich und Sinzenich. Die Strafkammer des Bonner Landgerichtes sah diesbezüglich antisemitisches Verhalten bereits für Fakten, die zum 1. April 1933 zurückverfolgt werden mussten. Die gleichen Täter, die in der Pogromnacht vom 10./11. November plünderten, zerstörten, jüdische Familien quälten und sogar weitaus Schlimmeres noch planten, hatten am »Boykottag« von 1933 den jüdischen Arbeiter Voss mit zerschlagener Nase und umgehängtem Schild »Judenlümmel« durch die Zülpicher Innenstadt getrieben und ihn, wegen seiner Separatistenzeit in Kall, per Handglocke den Bürgern vorgeführt.
Das Obergeschoss des sogenannten »Haus Horn« in Sinzenich, heute auf dem Sand Nr. 12, diente zeitweilig als Betraum, während die eigentliche Landsynagoge unauffällig im rückteiligen Bereich des Anwesens lag. Dies war wohl auch der Grund, weshalb sie als einziges jüdisches Gotteshaus des Kreises Euskirchen nicht von den Nationalsozialisten in Brand gesetzt wurde und in baulicher Substanz bis zur Gegenwart überstand - ohne Denkmalschutz!
»Alles ist vorüber!«
Im Januar 2008 berichtete Ruth Scheuer, verh. Nathan (USA), telefonisch, dass sie, ihre Mutter und die Cousine Emmy Kaufmann rechtzeitig ihr Haus in Sinzenich verlassen hatten und in der Dunkelheit über die Felder nach Zülpich liefen. Man hätte sich dauernd umgedreht, um nach einem Feuerschein Ausschau zu halten. In der Römerstadt fanden sie mit anderen Juden im Hause Sommer eine Übernachtungsmöglichkeit.
Am nächsten Morgen kam der Zülpicher Synagogenvorsteher Juhl zu ihnen, beruhigte alle und teilte mit, dass man wieder unbeschadet nach Hause gehen könne. Er sagte: »Alles ist vorüber.«
Dort fanden sie ein Chaos vor. Jedoch waren die Aufräumungsarbeiten bald beendet. Auch die Stimmung in der Dorfbevölkerung hatte sich etwas beruhigt. Große Verluste hatte die Familie von Ludwig Levy, die erfolgreich ihre Auswanderung nach England betrieben und die Koffer in der Sinzenicher Synagoge abgestellt hatte. Während das jüdische Gotteshaus »nur« verwüstet und die Gebetbücher in den nahen Bach geworfen wurden, durchstöberten andere die Koffer der Auswanderer und stahlen das, wofür sie Verwendung hatten. Ein Telefonat mit Evelyn Levy, verh. Heilbronn (USA), ergab, dass sie als kleines Mädchen trotz der Hektik den Gebetsschal des Vaters an sich nahm und ihn heute noch in Ehren hält.
Gefängnisstrafen
Gegen sieben Täter anlässlich der »Reichskristallnacht« am 10./11. November 1938 wurde nach dem 2. Weltkrieg Anklage erhoben, da sie an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Landfriedensbruch teilgenommen hätten. Der Anführer, H.H. aus Zülpich-Hoven, hatte bereits nach Ansicht der Nationalsozialisten Schuld auf sich geladen. Unmittelbar nach der »Reichskristallnacht« verurteilte man ihn zu neun Monaten Gefängnis. Nach dem Kriege folgten weitere zwei Jahre Zuchthaus. Zwei Kameraden aus dem gleichen Ort erhielten sechs Monate Gefängnis, da sie u.a. in den jüdischen Häusern von Zülpich und Sinzenich gewütet hatten.
Anders als in den großen Städten, wo häufig aus ideologischen und antisemitischen Gründen heraus die Juden verfolgt wurden, bereicherten sich die Täter in Sinzenich und Zülpich am Besitz der ihnen persönlich bekannten Juden. Der bereits erwähnte H.H. war gar Angestellter der Stadt Zülpich und hier wegen seines rassistischen Radikalismus bestens bekannt. Daher hinderte ihn und seine SA-Kameraden - in Begleitung von zwei Polizisten, von denen der Beamte F. sogar Fotos machte - keiner daran, sein Unwesen zu treiben.
Die Verteidigung von weiteren Angeklagten war ausgesprochen naiv. Man stellte sich selber als Geschädigte dar! Der eine hatte Schnittverletzungen im Gesicht, weil er am jüdischen Haus Klaber »zufällig« vorbeikam und dabei durch die herabfallenden Glasscherben verwundet wurde, andere hatten Kleidungsstücke und Wertsachen in Besitz, weil man diese für die Juden »aufbewahren« wollte. Es sei Zufall gewesen, dass in Sinzenich beinahe das Baby der Jüdin Horn verunglückt sei!
Der verurteilte G. hatte sich noch den Martinszug in Zülpich angesehen, ehe er mit einigen Kameraden nach Lövenich fuhr, um »von dort Vieh zurückzuholen, das man den armen Juden aus Sinzenich weggetrieben hatte.« Ortsgruppenleiter und Bürgermeister der Römerstadt Zülpich hatten »Edles« vor: Sie wollten die Synagoge angeblich vor dem Feuer retten. Ernsthaft sagten Zeugen aus, dass der Synagogenvorsteher Juhl der Stadt das jüdische Bethaus als Heim für die HJ angeboten habe. Zwar waren die Angeklagten aus Zülpich, Füssenich und Hoven dabei beobachtet worden, wie sie die Bänke aus der Synagoge schleppten, aber sie hätten das nur getan, um »die Umgestaltung von einer Synagoge zum HJ-Heim zu beschleunigen.« Der Kauf sollte nämlich innerhalb von zwölf Stunden notariell abgewickelt werden... Dieser notarielle Vertrag, bei dem kein Vertreter der jüdischen Gemeinde, wohl aber Dr. Friedrich V(...), der Notar, ein Notariatssekretär und der Erwerber anwesend waren, kam sicherlich auf Druck der Stadtoberen zustande.
Wörtlich heißt es:
Die Erschienenen erklärten: Die jüdische Synagogengemeinde Zülpich verzichtet zu Gunsten des Herrn R. B. in Zülpich auf ihr Eigentum, eingetragen im Grundbuch von Zülpich Blatt 524, als Flur 14 Nummer 1465/528 und Nummer 1947/529, Totengasse, bebauter Hofraum (Synagoge), groß 1,82 und 0.66 ar und überträgt den Grundbesitz auf Herrn R(...) B(...). Herr (...) nimmt die Eigentumsübertragung an und verpflichtet sich, das Synagogengrundstück dem Erdboden, gleichzumachen. Die Abbrucharbeiten übernimmt die Stadt Zülpich, die das Altmaterial für ihre Zwecke verwendet.
LINKS
JUDAICA – Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983 (3. Aufl. 1986) |
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JUDENVERFOLGUNG und FLUCHTHILFE im deutsch-belgischen Grenzgebiet, Euskirchen 1990 (Dokumentationsband mit 810 Seiten und 550 Fotos) |
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„REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande, Aachen 2008 |
„REICHSKRISTALLNACHT“ im Altkreis Euskirchen
Teil 2: Euskirchen („Synagogenbrand-Prozess“) Teil 3: Weilerswist und Lommersum |