Gemünd, 9./10. November 1938
Als der 17-jährige Herszel Grynspan aus Hannover am 7. November 1938 in Paris auf den deutschen Botschaftsrat Ernst vom Rath schoss, war dies eine Reaktion auf die erste Deportation vom 28. Oktober, die alle 30.000 polnischen Juden betraf, die mit ihren Familien weiterhin in Deutschland lebten. Grynspans Eltern gehörten zu denen, die man gewaltsam nach Polen ausgewiesen hatte.
Als nun der Botschaftsrat am 9. November 1938 starb, war das für die Nationalsozialisten das Signal zum vorbereiteten »Racheakt« an den in Deutschland lebenden Juden. Während in einigen Großstädten bereits nachts die ersten Synagogen brannten, geschah dies auf dem Land etwas später, in manchen Gemeinden sogar erst am 11. November. Gemünd und Hellenthal/Blumenthal gehörten zu den ersten westdeutschen Landgemeinden, in denen fanatisierte Nationalsozialisten sofort nach dem Aufruf des Propagandaministers Goebbels tätig wurden! Laut den vorliegenden Gerichtsunterlagen initiierte der Judenhasser Wilhelm F(...), Amtsbürgermeister und Ortsgruppenleiter von Hellenthal und seit 1935 SS-Sturmbannführer und SA-Führer im gesamten Altkreis Schleiden, den sofortigen Vollzug des längst geplanten Pogroms.
Der Autor des neu erschienenen Buches Reichskristallnacht befragte am 29. Juni 1986 den ehemaligen Gauleiter von Köln-Aachen, Josef Grohé über seine Eindrücke von den ersten Ausschreitungen während der »Reichskristallnacht«. Angeblich hatte dieser NS-Potentat erst sehr spät von den »Diskriminierungen« gehört, da er angeblich unmittelbar nach der Goebbels-Rede zur Jagd nach Ostpreußen gereist war, was sich übrigens später als unwahr herausstellte. »Mit Schrecken« hätte er erst dort von den »Vorkommnissen und antijüdischen Ausschreitungen« gehört. Vielen anderen soll es ähnlich ergangen sein!
Mit absoluter Genauigkeit kann man die Uhrzeit der Brandstiftung in der Gemünder Synagoge nicht bestimmen. Sie fand auf jeden Fall bereits in der Nacht vom 9.zum10. November 1938 statt. Ein nach dem Kriege anhängiges Gerichtsverfahren gab die Tatzeit mit etwa 2 Uhr nachts an. Das Studium der Gerichtsunterlagen und Zeugenaussagen wirft auch heute viele Fragen auf. Als der »Gemünder Synagogenbrand-Prozess« am 13. Dezember 1948 in Aachen abgeschlossen wurde, da glaubte man, auch in dem kleinen Kurort ein wichtiges Kapitel der Vergangenheitsbewältigung abgeschlossen zu haben.
Wie meist in jener Zeit wollte man mit der »jüngsten Vergangenheit« nicht mehr konfrontiert werden. Die laufende Entnazifizierung hatte zudem ein spezifisches Solidaritätsgefühl entstehen lassen. Viele Zeugenaussagen von früher waren zudem zurückgenommen oder revidiert worden. Mit Erstaunen erfuhren Zeitzeugen, wie harmlos doch manche Kleinstadt-Potentaten gewesen sein wollten. Die Opfer der NS-Zeit und des Rassismus waren dadurch erschüttert. Gemünder Juden, soweit sie überlebt hatten und nur für einen solchen Prozess erstmals wieder nach Deutschland kamen, konnten die Entwicklung der »Synagogenbrand-Prozesse«, die eigenartige Gewichtung der Zeugen und die Urteile überhaupt nicht begreifen. Als im Jahre 1990 die umfangreiche Dokumentation Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet im Buchhandel erschien, wurden endlich weitere Zeugenaussagen bekannt.
Die kleine Synagoge in der Mühlenstraße von Gemünd, die inzwischen liebevoll von dem Anwohner Karl Kaufmann gemalt wurde, bestand seit 1874 und hatte nach Schilderungen der ehemaligen jüdischen Mitbürgerin Gisela Teller verh. Fobar etwa zehn Reihen mit je vier Sitzen auf der linken und auf der rechten Seite. Hinten auf dem Balkon befanden sich die Sitze für etwa 30 Frauen.
In der Nacht vom 9. zum 10. November eilten u.a. auch Ortsgruppenleiter Heinrich L. und Leo H. sowie R.K. dorthin. Ein ehemaliger Bewohner der Dreibornerstraße zeigte später diese Männer am 24. April 1946 bei der Polizeidienststelle in Steinfeld an. Den voreiligen Auftrag zur Schändung der Synagoge hatten die Angeklagten offenbar von dem Hellenthaler Ortsgruppenleiter Wilhelm F. erhalten, der sich seit dem Tod des deutschen Botschaftsangehörigen vom Rath wie toll verhalten haben soll.
Das Buch Reichskristallnacht weist die Brandlegung der Gemünder Synagoge detailliert und minutiös anhand der Gerichtsunterlagen nach. Eine Zeugenaussage scheint dem Autor heute besonders wichtig, wurde aber im Prozess nur wenig beachtet:
Der Ortsgruppenleiter L(...) trug mir daraufhin weiter auf, in den Betraum der Synagoge zu gehen, um dort die brennenden Gegenstände so über die Bänke zu verteilen, dass der Brand besser fortschreite. Ich steckte den Kopf mal durch das Fenster und erklärte dann dem L(...), dass ich das nicht mache. Der gab mir dann zur Antwort: ,Na, dann mache ich es eben selbst.' Er ging auch in den Betraum hinein, kam jedoch nach kurzer Zeit wieder zurück, weil es ihm zu sehr qualmte. Er stieg nur durch das Fenster in die Synagoge hinein und heraus.
Um diese Zeit lag in der Synagoge noch kein Stroh. Es lagen in dem Betraum nur brennendes Papier und glimmende Bücher (...). Alsdann kam von irgendeiner Stelle die Aufforderung, Stroh heranzuschaffen. Es hieß, das Stroh solle bei dem Landwirt K(...) geholt werden. Ich selbst habe dann etwas Stroh mitgeholt. Wir gingen zu vier oder fünf Mann. Insgesamt haben wir nur etwa vier bis fünf Bund Stroh geholt.
Als wir zurückkamen, sollte es nach oben unters Dach getragen werden. Soweit ich mich erinnere, ging der Befehl von L(...) aus. Ich habe diesen Befehl nicht ausgeführt. Ich wollte an der Brandlegung nicht beteiligt sein. Ich war ja überhaupt nur wider meinen Willen in diese Sache hineingeraten. Der Gendarmeriebeamte gab mir dann noch einmal den Auftrag, das Stroh unter das Dach zu bringen. Ich habe auch diesen Befehl abgelehnt. Er schimpfte und brachte seinen Unwillen zum Ausdruck. Inzwischen war der Sturmführer So(...) noch einmal weg gewesen. Als er zurückkam, hatte er einen Benzinkanister bei sich. Allerdings habe ich ihn mit Benzin nicht gesehen. Es hieß nur so, So(...) sei mit einem Benzinkanister hineingegangen. Kurz nachher loderte das Feuer auf, und die Synagoge stand in hellen Flammen. Etwas später hieß es: 'Jetzt wollen wir von Haus zu Haus gehen und die Fensterscheiben der Juden einwerfen.' Ich habe dazu gesagt: 'Ich vergreife mich nicht an fremden Volksvermögen.' Alsdann ging ich nach Hause. Die Hauptverantwortlichen sind für die Inbrandsetzung: der Ortsgruppenleiter L(...) und der SA-Führer So(...). Es waren aber noch mehr SA-Leute anwesend, die ich nicht kenne. Ob aber unter diesen auch ein SS-Mann Schw(...) aus Hellenthal war, weiß ich nicht. Ich betone aber, dass ich keinen der Beteiligten zu schonen brauche. Was in meinen Kräften hegt, werde ich dazu beitragen, die Sache restlos aufzuklären.
LINKS
JUDAICA – Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983 (3. Aufl. 1986) |
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JUDENVERFOLGUNG und FLUCHTHILFE im deutsch-belgischen Grenzgebiet, Euskirchen 1990 (Dokumentationsband mit 810 Seiten und 550 Fotos) |
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„REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande, Aachen 2008 |