Das Amt Kall umfasste zur Zeit des Nationalsozialismus die Gemeinden Golbach, Keldenich, Sistig, Sötenich, Wahlen, Wallenthal und die eigentliche Ortschaft Kall mit seinen etwa 1.800 Einwohnern.
Die Gegend war vollständig landwirtschaftlich strukturiert. Der Amtsbürgermeister wohnte in der Adolf-Hitler-Straße 8, in unmittelbarer Nähe der jüdischen Familien Perlstein und Levy sowie Katz/Roer. Besonders die Familie Perlstein hatte seit 1936 mit diesem Bürgermeister und dessen schikanösen Papierkrieg zu tun. In der nahen Nachbarschaft tobte sich zudem der aus Hergarten stammende Kreisbauernführer Josef G(...) mit seinen »Beobachtungslisten jüdischer Viehhändler« und seinem berüchtigten »rassischen Beurteilungsbogen« aus. Seine vom Antisemitismus triefenden Behauptungen und Beschuldigungen konnten exemplarisch bis heute der Nachwelt erhalten bleiben.
Für weiteren propagandistischen Druck sorgte die nationalsozialistische Presse. Am 9. August 1935 berichtete der Westdeutsche Beobachter, Lokalausgabe Schleiden, über einen der vielen »Stürmerkästen« im Verbreitungsgebiet:
(...) Möge dem Stürmerkasten in Bleibuir der Erfolg beschieden sein, dass bald die ganze Dorfgemeinschaft geschlossen hinter dem Stürmer steht. Es darf in kurzer Zeit in Bleibuir keinen mehr geben, der mit Juden verkehrt. Und wer sich etwa taub stellt, dem wird etwas nachgeholfen werden müssen.
Die Staatspolizei erwähnte auch den kleinen Ort Eicks wegen seiner antisemitischen Haltung: »In Eicks, Bezirk Schleiden, wurde am Eingang des Ortes ein Schild folgenden Inhaltes angebracht: „Jude kehre um, verseuche diesen Ort nicht“. Auch Kall wollte bei den judenfeindlichen Aktionen nicht beiseite stehen. Die SA-Männer, die noch heute auf einem überdimensionierten Foto im Gemeindearchiv zu sehen sind, bewiesen, dass auch in diesem Ort keine Toleranz herrschte, wie dies doch zum Beispiel lange Zeit im »Judendorf Flamersheim« bei Euskirchen (zeitweise bis zu 11 Prozent Juden) praktiziert wurde. Hier registrierte die Geheime Staatspolizei mit Bezug auf einen Bericht des Aachener Regierungspräsidenten:
In Kall wurde am Aushang der Partei ein Zettel angebracht, der 30 Namen von Personen, die in jüdische Geschäften gekauft haben, enthielt. Unter dem Aushang stand: NSDAP-Ortsgruppe Kall, Der Ortsgruppenleiter. An einigen Stellen wurden Personen, die in jüdischen Geschäften eingekauft hatten, auf der Straße fotografiert und ihre Bilder in die Öffentlichkeit gebracht.
Wie nach dem 2. Weltkrieg der Novemberpogrom von 1938 verdrängt oder gar verfälscht wurde, weist das neu erschienene Buch Reichskristallnacht am Beispiel von Kall nach. Gerade in der kleinen Ortschaft, wo jeder den anderen kannte und wenig Mobilität im Bevölkerungszuwachs seit Bestehen der jungen Bundesrepublik festzustellen war, konnte man sich an die Reichskristallnacht grundsätzlich nicht mehr erinnern. Am 5. Februar 1954 teilte sogar die Zivilgemeinde Kall der Jewish Trust Corporation for Germany in Mühlheim/Ruhr folgendes über das Schicksal der Synagoge mit: »An einem Tage im November 1938 waren Jugendliche in die Synagoge in Kall eingedrungen und hatten versucht, die Einrichtung zu zerstören. Sie wurden auf Anordnung der Behörde durch Polizeibeamte daran gehindert. Das Gebäude der Synagoge ist samt Umgebung durch Kriegseinwirkung (Bombentreffer) zerstört worden.
Aber schon 1946 hatte der Gemeinderat argumentiert: »Seit der November-Aktion 1938 sind an dem Anwesen keine Änderungen vorgenommen worden. Die Ruine steht noch da.« Kein aktiver Nationalsozialist der Gemeinde Kall wurde nach dem 2. Weltkrieg wegen antisemitischer Ausschreitungen zur Verantwortung gezogen; kein Prozess wegen der Zerstörung der kleinen Landsynagoge wurde angestrengt. Und dennoch zeigen großformatige Fotos im Gemeindearchiv die SA-Truppe des Dorfes. Die Mitgliederkartei der NSDAP-Ortsgruppe Kall ist bis heute erhalten. Der Novemberpogrom vom 10. November 1938 traf die Juden von Kall unerwartet, besonders die am 22. September 1938 aus Schleiden zugezogene Familie Fernbach mit der verwandten Esther Bergstein. Nur Mirle Mirjam und Susanne Fernbach, die wahrscheinlich im November ihre alte Heimat besuchen wollen, sind heute noch in der Lage, die »Kristallnacht« von Kall zu beschreiben:
Wir wohnten in der Gemünderstraße 7, gemeinsam mit der Familie Isaak und Jenny Katz. Der Umzug von Schieiden fiel uns recht schwer, obwohl wir mit den jüdischen Glaubensbrüdern in Kall schon immer gut zurechtgekommen waren. Mein Vater hatte aber die Aufgabe bekommen, ab Herbst 1938 eine jüdische Volksschule in Kall zu führen. Schon lange war das geplant worden. Unser Vater war nicht nur jüdischer Religionslehrer, sondern auch ausgebildeter Volksschullehrer.
Der Novemberpogrom in Kall war für uns schrecklich! Einige Tage vorher hatte man die Cousine unserer Mutter plötzlich verhaftet und nach Polen deportiert. Man kann nur ahnen, was die taubstumme Tante Esther alles mitmachen musste. Unser Vater hatte gehört, dass man die Kölner Synagoge in Brand gesteckt hatte. Er fuhr sofort dorthin, um sich zu erkundigen. Meine Mutter war am 10. November 1938 auch nicht zu Hause, da sie vorher nach Magdeburg gereist war. Auch ihre Brüder hatte man am 28.10.1938 nach Polen deportiert, und Mutter wollte ihnen irgendwie Hilfe zukommen lassen.
Nachdem unser Vater in Köln gesehen hatte, was man alles verbrannt und zerstört hatte, wollte er, so schnell wie möglich, nach Kall zurückfahren, denn er wusste ja, dass wir beiden Mädchen alleine waren und auf die Eltern warteten. Aber vorsichtshalber ist er schon in Euskirchen ausgestiegen, denn gegen die Mittagszeit begannen auch dort schon die Zerstörungen. Offenbar ist er den ganzen Nachmittag und den frühen Abend durch die Wälder gelaufen, um keinem in die Hände zu fallen.
Zu Beginn der Dunkelheit tobte auch schon in Mechernich der blanke Wahnsinn. Wie uns Vater später erzählte, hoffte er, dass in Kall nichts passierte, weil hier doch zu wenig Juden waren. Das war aber ein Irrtum! Schon am Nachmittag des 10. November kamen die ersten Leute, um auch meinen Vater zu verhaften. Siegfried Katz war schon in seiner Wohnung, Hauptstraße 12, festgenommen worden. Alle SA-Leute aus Kall warteten jetzt wahrscheinlich auf meinen Vater. Der war aber längst in unserer Nähe, ohne dass wir das wussten. Durch die Wälder und die Dunkelheit war er in unmittelbare Nähe unseres Hauses gekommen und konnte vom Wald aus einiges beobachten. Am Nachmittag hörten wir plötzlich Schreie und Geräusche, die erkennen ließen, dass irgendwo Glas oder Geschirr zerschmettert würde.
Kurz danach konnten wir die Synagoge sehen und erlebten mit, wie sie in Brand gesteckt wurde und in Flammen aufging. Da der alte Metzgermeister Isaak Katz (geb. 1876) und sein Schwiegersohn inzwischen abgeholt worden waren, waren wir - Susanne und Mirle Mirjam Fernbach - mit unserer Vermieterin Jenny Katz (geb. 1880) und deren Tochter alleine. Gegen 18 Uhr kamen zwei SA-Männer und einige Hitlerjungen und zerschlugen die Fenster des Schulzimmers, das ja in der Parterre war. Die Jungen aus Kall kletterten dann in den Raum hinein und schleppten all das heraus, was mit Judentum zu tun hatte. Draußen machten sie dann aus den Schulheften und den Gebetsbüchern ein Feuer, in das Holz hineingeworfen wurde.
Mit den beiden Katz-Frauen hatten wir uns derweil auf der zweiten Etage versteckt. Wenn einer von uns am Fenster erschien oder nur der Vorhang wackelte, flogen Steine zu uns hinauf. Die beiden SA-Männer, von denen ich einen erkannte, hatten je ein qualmendes Holzstück in der Hand, drohten uns und deuteten an, dass sie das Haus anstecken wollten. Offenbar kam dann aber gegen Mitternacht die Anweisung, die Juden in Kall in Ruhe zu lassen, denn es wurde ruhig. Uns schien es, als wäre alles ein Spuk gewesen. (...)
JUDAICA – Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983 (3. Aufl. 1986) |
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JUDENVERFOLGUNG und FLUCHTHILFE im deutsch-belgischen Grenzgebiet, Euskirchen 1990 (Dokumentationsband mit 810 Seiten und 550 Fotos) |
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„REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande, Aachen 2008 |