Unterschied zwischen SS-Ehrenwache und „Junkertum“ auf der NS-Ordensburg Vogelsang – Der Massenmörder Gustav Sorge

von Hans-Dieter Arntz
22.11.2007

Erneut – und vielleicht auch abschließend -  soll noch einmal daran erinnert werden, dass auf den NS-Ordensburgen ein Ideal des „Herrenmenschen“  geformt und realisiert werden sollte. Bis zur Gegenwart blieb jedoch die Existenz dieser „Junker"  nebulös, weil die scheinbare Exklusivität des Teilnehmerkreises in der nationalsozialistischen Imitation des mittelalterlichen Ritterordens begründet war und ansonsten wenig  nach außen drang. Die einseitige, nicht-christliche und antisemitische Ausrichtung der 23- bis 26jährigen Männer aus der meist unteren Mittelschicht fand zudem aufgrund der kurzen Ausbildungszeit sicher nicht die Kumulierung, die nach heutigen Maßstäben nachweisbar ist. Daher weiß man heute auch wenig, was aus ihnen im und nach dem 2. Weltkrieg geworden ist.

Mangelndes Interesse an einem diesbezüglichen Führernachwuchs - sogar in der Hierarchie der Nationalsozialisten sowie auch laut Kritik aus der Reichsorga­nisationsleitung selber -, wie auch der Beginn des 2. Weltkrieges verhinderten den Abschluss der je einjährigen Lehrgänge an den NS- Ordensburgen des Dritten Reiches. Es kam  nie  zu den vorgesehenen  3- bis 4jährigen Kursen in der dafür avisierten Ordensburg Sonthofen und den bereits institutionalisierten Ordensburgen Vogelsang und Krössinsee. Die Rede war auch nicht mehr von einem  abschließenden  „Studium“ der „Nachwuchsführer“ an der „Hohen Schule“.  Dieser  Vervollständigung der Junker- Ausbildung sollte in einer Art „Parteiuniversität“  –  auf dem Gelände der Ordensburg Vogelsang – stattfinden, deren Mauern im Jahre 1941 bereits bis zu einer Höhe von etwa 5 Metern hochgezogen worden waren und bis heute als „Haus des Wissens“ im Sprachgebrauch ist.

In meinem Standardwerk Ordensburg Vogelsang 1934-1945 – Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich habe ich diesen Sachverhalt in Verbindung mit den internen Querelen innerhalb der Nazi-Führung auf Seite 120/121 dargestellt. Auch auf eine kurzfristig geplante Ausbildungsstätte für „Ordensburg-Dozenten“ am Chiemsee hatte ich bereits hingewiesen (S.177) Neu entdeckte Quellen weisen nun  zusätzlich auf  den Gauamtsleiter  Julius Kölker vom Gauschulungsamt hin, der sich seit der Abberufung des Kommandanten Manderbach selber eine Karriere im Bereich der Ordensburgen vorstellte und nun  intensiv die bisherige Leitung und nationalsozialistische Ausrichtung  der „Junker“ kritisierte. Wahrscheinlich ist von diesem Standpunkt aus auch der so genannte Kölker-Bericht vom 2. Juli 1939 (S. 180 ff.) zu betrachten.

Am 29. November 2006 stellte ich in meinem Beitrag „NS-Ordensburg Vogelsang: Irritationen um Aufarbeitung der Geschichte“ dar, dass nach dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust nur wenigen „Führeranwärter“ von den Ordensburgen Vogelsang und Krössinsee  Kriegsverbrechen  und kriminelle Handlungen gegen die Menschlichkeit vor Gericht nachgewiesen werden konnten. Das ist dadurch zu erklären, dass es insgesamt nur einige Tausend „Junker“ gegeben hat, von denen weit mehr als die Hälfte zur Wehrmacht kam und den 2. Weltkrieg nicht überlebte. Die teilweise unbegreifliche Nachlässigkeit der Behörden bei der Verfolgung derjenigen, die tatsächlich  im Osten am Holocaust beteiligt waren, oder die fehlenden Beweise – und Zeugen (!!) – sind  der Grund dafür, dass es kaum verurteilte „Täter“ von  NS-Ordensburgen gab. Meine bisherigen Ausführungen  zum Thema Wurden auf den NS-Ordensburgen künftige „Täter“ erzogen? erbrachten hierfür Hinweise. Die Anzahl der von Gerichten ausgesprochenen Urteile ist nach meinem diesjährigen Aktenstudium nicht viel größer geworden, als ich diese im November 2006 bereits nannte. Ein Problem ist auch die Tatsache, dass manche Gerichtsurteile in gelegentlich unbekannt gebliebenen Widerspruchsverfahren aufgehoben wurden, so dass deren Unkenntnis mit Verleumdungsklagen Konsequenzen hatte. Somit bleibt es m. E. weiter bei Spekulationen, in welchem Umfang die Führeranwärter der NS-Ordensburg Vogelsang im Verlaufe des 2. Weltkrieges „Täter“  geworden sind.

lebenslaenglich_grossDie Meinung der Nachkriegsgenerationen wird sogar durch verharmlosende Zeitungsberichte  - wie zum Beispiel über einen Führeranwärter von der Ordensburg Vogelsang (Vgl. Anlage) - und Verwechslung verfestigt. Hierzu soll abschließend ein Beweis angeführt werden. Es handelt sich um den Massenmörder Gustav Sorge, dem in vielen Gerichtsunterlagen die Angehörigkeit zur Ordensburg Vogelsang nachgesagt wird, obwohl er nie ein „Junker“, sondern dort nur für drei Monate ein Mitglied der SS-Ehrenformation war. In der einseitigen Fachliteratur wird dies aber verwechselt, so dass „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ mit der „Zugehörigkeit zur NS-Ordensburg Vogelsang“ gleichgesetzt wird. Das ist meiner Meinung nach historisch nicht haltbar.

Der Kriegsverbrecher GUSTAV SORGE (1911-1978) wurde am 24. März 1946 in Flamersheim – heute ein Stadtteil von Euskirchen – von der britischen Militärpolizei verhaftet. Als „Eiserner Gustav“ war er ein brutaler Rapportführer und  vielfacher Mörder nicht nur in den  KZ-Lagern  Oranienburg und  Sachsenhausen.

Er und einige Mitangeklagte  wurden beschuldigt, allein im Herbst 1941 mehr als 18.000 sowjetische Gefangene im KZ Sachsen-hausen getötet zu haben.

Weil in seinem Lebenslauf die Ordensburg Vogelsang kurz erwähnt  - und dieser Umstand immer wieder effekthascherisch kolportiert wird -, soll seine  Anwesenheit auf dem Gelände  dieser NS-Kaderschmiede im Zusammenhang mit seiner vollständigen Biographie erklärt werden. Die Unterlagen wurden von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Gedenkstätte und Museum, aus der Rüter-Sammlung (S.416 ff.)zur Verfügung gestellt. Gustav Sorge  wurde am 6. Februar 1959 in Bonn zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt. Im Internet sind weitere Details zu finden.

Biographie laut den Bonner Gerichtsunterlagen

Der Angeklagte Gustav Sorge ist seit dem 27. März 1937 verheiratet. Er hat zwei Töchter im Alter von (…) sowie einen Sohn im Alter von (…) Jahren. Der Sohn ist (…), die ältere Tochter ist (…), die jüngere (…). Auf Grund der in diesem Verfahren erörterten Straftaten trägt sich seine Frau mit Scheidungsabsichten.

Er ist das älteste Kind der Eheleute Ernst und Margarete Sorge, geborene W(…) und wurde am 24.April 1911 in Ronicken Kreis Guhrau, das damals zur preußischen Pro­vinz Schlesien gehörte, geboren. Sein Vater lebt noch, seine Mutter ist 1932 verstor­ben. Von den zwei Geschwistern des Angeklagten ist der Bruder 1941 im Kriege gefallen, die Schwester lebt noch. Sie ist verheiratet und hat ebenfalls drei Kinder. Die Eltern des Angeklagten waren zunächst in der Umgebung von Ronicken berufstä­tig, der Vater als landwirtschaftlicher Arbeiter und die Mutter als Hilfskraft in einer Gärtnerei.

Der Angeklagte wuchs bei seinen Grosseltern mütterlicherseits auf, die ei­ne Landwirtschaft von etwa 2o Morgen besaßen. Nach dem ersten Weltkrieg fiel ein Teil Niederschlesiens mit dem Kreis Guhrau auf Grund des Friedensvertrages an Po­len. Im Jahre 1920 wurden die Eltern des Angeklagten ausgewiesen, da der Vater nicht aus dem abgetrennten, sondern aus dem bei Deutschland verbliebenen Gebiet stammte. Sie zogen mit den Geschwistern des Angeklagten nach Osnabrück, wo der Vater noch heute lebt. Er war hier zunächst als Bauhilfsarbeiter und später als Rot­tenführer bei der Eisenbahn tätig, er ist jetzt Rentner. Der Angeklagte blieb in Ronicken bei seinen Grosseltern und sollte später deren Hof übernehmen, damit dieser - wie der Angeklagte sagt - in „deutschen Händen" blieb. Zwar hatten die Großeltern neben der Tochter - der Mutter des Angeklagten - noch einen Sohn. Dieser konnte aber als deutscher Offizier nicht in seiner Heimat wohnen bleiben.

Der Angeklagte besuchte von 1917 bis 1919 die deutsche Volksschule in Ronicken. Nach Übernahme des Gebietes durch die Polen bestand zunächst kein richtiger Schul­betrieb. Ab September 192o besuchte er die polnische Volksschule, da die deutsche Volksschule aufgelöst worden war. Es wurde von den aus Kongresspolen stammenden Lehrern, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, nur polnisch gesprochen. Kenntnisse in dieser Sprache hatte der Angeklagte bis dahin nicht. In seiner deutschen Muttersprache wurde er von dem evangelischen Pfarrer des Ortes weiter unterrich­tet. Dieser war ein nationalbewusster Mann und Abgeordneter der deutschen Minder­heit im polnischen Parlament. Als einer der besten von 16 - 17 Schülern verließ er 1925 die Volksschule.

Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass für den Angeklagten wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit wenig Hoffnung bestand, den Hof seiner Grosseltern übernehmen zu können. Er begann deshalb im April 1926 bei einem volksdeutschen Schmiedemei­ster in Bojanovo die Schmiedelehre. Wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit wur­de ihm der Aufenthalt nur bis zur Beendigung der Lehre gestattet. Im Jahre 1929 be­stand er die Gesellenprüfung mit dem Prädikat „sehr gut" und war alsdann ein Jahr lang in einer Maschinenschlosserei tätig. 1930 musste der Angeklagte seine Heimat verlassen.

Er ging zunächst zu seinem Onkel Hermann W(…), dem Bruder seiner Mutter, nach Breslau. Zu seinen Eltern ging er deshalb zunächst nicht, weil er in seiner näheren Heimat bleiben wollte und er in Breslau zudem viele Bekannte hatte. Außerdem hatte er zu seinem Onkel engeren Kontakt als zu seinen Eltern. Schließlich fügte sich der Angeklagte aber dem Wunsch seiner Eltern und zog Anfang 1931 zu ihnen nach Osna­brück. Dort konnte er wegen der damaligen allgemeinen Wirtschaftskrise keine dau­ernde Arbeit finden. Zeitweise wurde er vom Arbeitsamt zu Notstandsarbeiten heran­gezogen; überwiegend war er aber bis März 1933 arbeitslos und auf Arbeitslosenun­terstützung angewiesen. In der Zwischenzeit bildete er sich in Kursen, die vom Arbeitsamt eingerichtet waren, fort, um insbesondere seine deutschen Sprachkenntnisse zu verbessern.

Für die politische Einstellung des Angeklagten waren die Volkstums-Auseinandersetzun­gen in seinem Heimat-Grenzgebiet maßgebend, wodurch früh eine betont nationale Einstellung in ihm aufkam. Zwar übte sein deutschnational eingestellter Vater wegen der räumlichen Trennung keinen großen Einfluss auf ihn aus, um so stärker war aber der Einfluss des Pfarrers, seines Lehrherrn und vor allem der seines Onkels, die immer wieder auf die frühere Größe Deutschlands hinwiesen. Der Lehrherr, der zugleich Vorsitzender der deutschen Minderheitsgruppe im Gebiet Bojanovo war, hielt ihn - den einzigen deutschen Lehrjungen neben drei polnischen - wie seine eigenen Kinder. Vor allem gab sich der in Breslau ansässige Onkel bei den häufigen Besuchen seiner Eltern mit dem Angeklagten ab. Der Onkel, der - wie bereits ausgeführt – im 1. Weltkrieg deutscher Offizier gewesen war, konnte nach dem Kriege den An­schluss an das bürgerliche Leben nicht mehr finden. Er stand mit der „Schwarzen Reichswehr" in Verbindung, trat schon früh der NSDAP bei und war bereits 1930 Orts­gruppenleiter in Breslau.

Unter dem Einfluss seines Onkels versuchte der Angeklagte 1930 bei der Reichswehr eingestellt zu werden, wurde aber wegen angeblich unzureichender Kenntnisse in der deutschen Sprache abgewiesen. Auf Vermittlung seines Onkels konnte er sich jedoch ab Januar 1931 bei der sog. „Schwarzen Reichswehr" betätigen. Er nahm einmal in der Woche in einer Kaserne in Osnabrück an einer theoretischen und praktischen mi­litärischen Ausbildung, im Juli 1931 an einer 4wöchigen Übung im Sennelager bei Pa­derborn und im September 1932 an einer weiteren gleichen Übung in Höxter teil. Im Januar 1931 trat der Angeklagte der NSDAP und der SS bei. Für seinen Eintritt zur SS war nach seinen Angaben maßgebend, dass ein großer Anteil der Teilnehmer an den Wehrübungen SS-Mitglieder waren.

Er war Angehöriger des SS-Sturms in Osnabrück, der vor 1933 etwa 60-70 Mann stark war. Bei den politischen Auseinander­setzungen in den Jahren 1931/32 - bei den Saal- und Straßenschlachten vorwiegend mit Mitgliedern des Rotfrontkämpferbundes - stand der Angeklagte, wie er sich aus­drückt, „seinen ganzen Mann". Bereits damals erhielt er den Namen „Eiserner Gu­stav". Anlass zu dieser Namensgebung war seine „mannhafte" Beteiligung an einer Straßenschlacht in Nordhorn im Sommer 1932 mit Mitgliedern des Rotfrontkämpfer­bundes. Dabei schlug er - nach seinen eigenen Worten - mit einem Knüppel wie wild um sich, nachdem er zunächst beim Abspringen von einem Lastwagen zusammenge­schlagen worden war. Er war stolz auf diesen Namen und war in der Folgezeit bemüht, ihm „Ehre" zu machen.

Bei der so genannten Machtübernahme durch Hitler am 30. Januar  1933 will der Ange­klagte an den allerorts stattgefundenen Sondereinsätzen nicht teilgenommen und von der Inhaftierung politischer   Gegner   zunächst  nichts gewusst haben. Wohl war er An­fang Mai 1933 bei der Besetzung des Gewerkschaftshauses in Osnabrück zugegen und sah, wie Funktionäre festgenommen wurden. Er sei des Glaubens gewesen, lässt sich der Angeklagte ein, sie sollten vor ein Gericht gestellt werden.

Die ersten Kenntnisse über KZ erhielt der Angeklagte im Sommer 1933. Es bestand damals in Esterwegen im Emsland ein KZ, dessen SA-Bewachungsmannschaften nach Osnabrück auf Urlaub kamen. Von diesen hörte der Angeklagte, dass sich in den La­gern „Angehörige aufgelöster Linksparteien" befanden. Von deren Behandlung will er nichts erfahren haben. Die Tatsache der KZ wurde durch eine Predigt des Bischofs von Osnabrück zum allgemeinen Stadtgespräch. Der preußische Ministerpräsident Göring hatte im Wege einer „Weihnachtsamnestie" die Auflösung der KZ im Emsland verfügt.

Bereits im Sommer 1934 wurden die Konzentrationslager im Emsland wieder einge­richtet, und zwar unter dem Namen „Justizlager". SA-Leute aus dem Kreise Osna­brück in Polizeiuniform, allerdings mit den Dienstgradabzeichen der Justiz, bildeten die Bewachung.

Zu dieser Zeit ging der Angeklagte einer geregelten Arbeit nach. Seit März 1933 war er als Schlosser bei einer Weberei und Spinnerei tätig und wechselte nach einem Mo­nat als Hilfsarbeiter zum Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk über, wo er bis Sep­tember 1934 blieb. In der SS betätigte er sich weiterhin und erhielt im September 1934 den Dienstrang eines Unterscharführers.

Auf Grund eines Erlasses des preußischen Innenministers über die Verstärkung der Polizei mit nationalen Hilfskräften musste er seine Arbeitsstelle aufgeben und wurde am 1.Oktober 1934 zum Wachkommando des KZ Esterwegen einberufen. Der weitaus überwiegende Teil der aus 3 Hundertschaften gebildeten Wacheinheiten waren Angehö­rige des Arbeitsdienstes. Der Angeklagte behielt seinen Dienstrang und wurde bei der Bewachung der Häftlinge im Lager und auf den Arbeitsstellen eingesetzt. Ihm unter­standen ca. 25-3o Angehörige der Bewachungsmannschaften. Er unterstand dem Lagerkommandanten Obersturmführer Loritz, der auch später in Sachsenhausen sein Vor­gesetzter war. Das Lager war ähnlich organisiert wie das spätere KZ Sachsenhausen (vgl. zweiter Teil, 2. Abschnitt; dritter Teil, 2. Abschnitt).

In Esterwegen erhielt der Angeklagte die ersten entscheidenden Eindrücke von dem Wesen der KZ. Wenn er auch in der Lagerverwaltung nicht eingesetzt war - hierfür waren l0 SS-Leute aus dem KZ Dachau abgeordnet -, so wurde er doch bei der Be­wachung im Lager und auf den Baustellen alsbald über das Herkommen der Häftlinge und ihre Behandlung ins Bild gesetzt.

Bei den laufenden Neuzugängen – 150 Häftlinge befanden sich im Lager, als der Angeklagte kam, und 5oo, als er ging -, wurden durch den Lagerkommandanten auch die Bewachungsmannschaften von dem Inhalt des Schutzhaftbefehls der Geheimen Staatspolizei unterrichtet. Hierbei erfuhr der Angeklagte, dass - selbst bei kriminellen Häftlingen - die Einweisungen nicht zur Verbüßung ei­ner gerichtlichen Strafe erfolgten.

 Die Schutzhaftbefehle enthielten als Grund ihrer Anordnung u.a. „Zusammenrottung", „Aufruhr",  „Widerstand gegen die Staatsgewalt". Im Laufe des Jahres 1935 erfolgten zum ersten Mal größere Einweisungen von Bibel­forschern, die nach den Worten des Lagerkommandanten wegen ihrer pazifistischen Gesinnung, dem Verweigern des Wehrdienstes sowie deshalb erfolgten, weil an ihrer Spitze ein amerikanischer Jude stand. Bereits 1934 waren die ersten jüdischen Häft­linge in das Lager gekommen. Eine besondere Begründung für ihre Einweisung gab der Lagerkommandant nicht. Ein Jude war eben aus rassischen Gründen besonders verdächtig.

Der Angeklagte wurde auch über die von SS-Obergruppenführer Eicke, dem ehemali­gen Kommandanten des KZ-Lagers Dachau, entworfene Disziplinarordnung für Wach­mannschaften und für Gefangene unterrichtet. Er nahm - wie auch die gesamte Wach­mannschaft - an der Durchführung der Prügelstrafen teil, die in der Woche etwa zwei­tes dreimal erfolgten. Dabei wurde er gewahr, dass die Häftlinge nach der Prügel­strafe nicht mehr gehen konnten, am Arm weggeführt werden mussten und mehrere Tage arbeitsunfähig waren.

Bei Kontrollgängen im Lager sah er Häftlinge liegen, die an Händen und Füssen gefesselt waren und in diesem Zustand - ohne Rücksicht auf die Witterung - längere Zeit verharren mussten. Dem Angeklagten war bekannt, dass diese Strafmassnahmen u.a. wegen angeblich schlechter Arbeitsleistungen erfolgten. Die Häftlinge waren teilweise bei Kulturarbeiten eingesetzt, wobei Zivilarbeiter die technische Leitung hatten. Der Angeklagte hat nach seiner unwiderlegten Einlassung zunächst Meldungen der Zivilarbeiter über schlechte Arbeitsleistungen der Häftlinge nicht weitergegeben.

Da andere Führer der Wachkommandos auch so verfuhren, wur­de eine Ausgangssperre für Wachmannschaften angeordnet. Der Schutzhaftlagerführer Schmidt erschien auf der Arbeitsstelle und zeigte, wie mit Häftlingen zu verfahren sei. Dabei gab er ohne einen für den Angeklagten erkennbaren Anlass einigen Häftlingen Ohrfeigen und trat sie so zusammen, dass sie nicht mehr arbeiten konnten und von Mithäftlingen in das Lager zurückgebracht werden mussten. Daraufhin verfuhr der An­geklagte in der gleichen Weise. Er schlug und trat Häftlinge und gab die Meldungen der  Zivilarbeiter über schlechte Arbeitsleistungen der Häftlinge weiter, ohne sich von der Richtigkeit dieser Angaben zu überzeugen.

In dieser Zeit erlebte der Angeklagte auch zum ersten Mal, wie der Tod eines Häft­lings durch „Erschießen auf der Flucht" erfolgte. Er hatte schon damals auf Grund der Begleitumstände das Gefühl, dass der Fluchtversuch gestellt war. Das Lager Esterwegen, dass zunächst Lager 2 der staatlichen Justizverwaltung Ems­land genannt worden war, hieß  ab April 1935 KZ Esterwegen. Die Wachmannschaften erhielten jetzt die Bezeichnung „Totenkopf-Sturmbann Ostfriesland".

Im April 1936 wurde Sorge als SS-Unterscharführer mit einer zu diesem Zweck zu­sammengestellten Abteilung von etwa 60 Mann - zumeist „Alte Kämpfer"- auf die Ordensburg Vogelsang als Wach- und Ehrenkompanie sowie zur Ausbildung abgeordnet. Bei der politischen Schulung wurde auch über Rassenfragen gesprochen, wobei die An­sicht dahin ging, die Judenfrage durch eine Übersiedlung der Juden nach Madagaskar zu lösen. Der Angeklagte lernte in dieser Zeit seine spätere Ehefrau (…) gebo­rene (…) kennen, die auch eine überzeugte Nationalsozialistin und auf der Ordensburg als Dienstmädchen beschäftigt war. Nach etwa drei Monaten kam der gesamte Lehrgang von der Burg Vogelsang nach Ora­nienburg.

Die weitere Ausbildung erfolgte hier mit dem Ziel, die Lehrgangsteilnehmer später als Ausbilder für Unterfuhrerlehrgänge einzusetzen. Die Ausbildung war mili­tärischer und weltanschaulicher Art. Hierbei wurde auch die Rassenfrage besonders erörtert. Die  Slaven  müssten - friedlich  oder  kriegerisch - bis an den Ural zurück­gedrängt werden, so hieß es. Hinsichtlich der Judenfrage gewann der Angeklagte aus den Vorträgen den Eindruck, dass eine andere Lösung als eine Auswanderung nach Madagaskar geplant war. Zum erstenmal wurde hier von „Liquidierung" gesprochen. Im September 1936 wurde der Angeklagte mit seiner Beförderung zum SS-Scharführer dem sog. Stab V der SS-Wirtschaftshauptverwaltung zugeteilt, dem die Planung neuer KZ oblag, wobei dem Angeklagten die untergeordnete Stellung eines Wirtschaftsunter­führers (zuständig für Bekleidung) übertragen wurde.

Im März 1938 nahm er an dem Einmarsch in Österreich teil. Nach der Ausheilung einer Meniskusverletzung wurde er Ende Juni 1938 zum Kommandanturstab des KZ Sachsenhausen versetzt. Inzwischen war im Sommer 1936 das KZ Esterwegen mit Bewachungsmannschaften und Häftlingen nach Sachsenhausen bei Oranienburg überführt worden. Die Zahl der Häftlinge betrug nunmehr 5000.

Der Angeklagte wurde zunächst als Blockführer eingesetzt und am 9. September 1938 zum  SS-Oberscharführer  befördert. Nach  kurzer   Zeit wurde   er   zur  Arbeit  in  das Aufgabengebiet  des Arbeitsdienst- und  des Rapportführers herangezogen.

Er tat  bis zum Frühjahr 1939 als stellvertretender Arbeitsdienstführer und als zweiter Rapport­führer Dienst. Anschließend wurde er als erster Arbeitsführer eingesetzt und in die­ser Stellung am 2o.April 1941 zum SS-Hauptscharführer befördert. Im Oktober 1941 erreichte der Angeklagte die höchste Funktion eines Unteroffizierdienstgrades im KZ, nämlich die Stellung des ersten Rapportführers, die er bis zum 22.Juni 1942 in Per­sonalunion mit seiner Tätigkeit als erster Arbeitsdienstführer ausübte. Er übernahm anschließend als Lager- bzw. Kommandoführer die Leitung eines in Berlin-Lichter­felde, Wismarstrasse, stationierten größeren Außenarbeitskommandos des KZ Sach­senhausen.

Im November 1942 wurde der Angeklagte abgelöst und zum Zentralarbeitseinsatz in Oranienburg versetzt. Als Grund für die Ablösung führt der Angeklagte Differenzen mit dem Lagerführer über eine - vom Angeklagten nicht für gerechtfertigt gehaltene - Bestrafung eines ihm unterstehenden Blockführers wegen Misshandlung eines Häftlings an. Demgegenüber haben die Zeugen Wu. und Mo. und die Ehefrau des Angeklagten bekun­det, dem Angeklagten sei die Wegnahme von SS-Eigentum vorgeworfen worden. Der Angeklagte meldete sich nach seiner unwiderlegten Einlassung alsdann zu einer Fronttruppe, ohne jedoch die Versetzung zur Feldtruppe  zu erreichen, da diese Maß­nahme nur sehr selten erfolgte.

Im Januar/Februar 1943 organisierte der Angeklagte den Arbeitseinsatz des neu er­richteten KZ Herzogenbusch in Holland und kehrte dann wieder nach Oranienburg zu­rück. Im April 1943 wurde er im Zuge einer durch die SS-Führung angeordnete Untersuchung über Missstände in verschiedenen KZ für drei Monate inhaftiert.

Der Angeklagte wurde jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt, ohne dass es zu einer Bestra­fung kam. Er war in der Folgezeit für die Planung des sog. Bauvorhabens Riga tätig. Dort wurden 3o.ooo inhaftierte Juden in rüstungswichtigen Betrieben in der Umgebung von Riga eingesetzt. Im Sommer 1943 wurde der Angeklagte zur Dienststelle des Hö­heren SS- und Polizeiführers Ostland abkommandiert. Er fand zunächst kurze Zeit im Partisaneneinsatz Verwendung. Am 1. Dezember 1943 wurde er als Lagerführer des Arbeitslagers Riga-Spilve, das etwa 2000 jüdische Häftlinge umfasste, eingesetzt.

Zwei Wochen später übernahm er zusätzlich die Leitung eines weiteren Arbeitslagers jüdischer Häftlinge im Heereskraftfahrzeugpark Ostland in Riga. Seiner Leitung unterstanden hierbei aber nur die Arbeitskräfte, nicht auch der Heereskraftfahrzeugpark selbst. Am 3o. Januar 1944 übernahm er als Lagerführer das Arbeitslager Dondangen am Rigaischen Meerbusen, in dem sich ca. lo.ooo - 12.ooo jüdische Häftlinge befanden. Nach dem Durchbruch der Russen überführte der Angeklagte die Häftlinge nach Stutthof bei Danzig.

Im November 1944 wurde der Angeklagte nach Sachsenhausen zurückbeordert und stell­te dort die  12. Baubrigade auf, die aus  1000 Häftlingen aus den KZ Sachsenhausen, Groß-Rosen und Mittelbau Dora bei Nordhausen bestand. Die Baubrigade sollte bei der Ardennenoffensive zum Streckenbau und zu Instandsetzungsarbeiten eingesetzt werden. Sie nahm zunächst ihre Tätigkeit bei Münster am Stein und in Niederlahnstein zur Behebung von Luftkriegsschäden auf.

Während des Einsatzes in Niederlahnstein wurde der Angeklagte bei einem Luftangriff verletzt und verlor Zehen am linken Fuß. Nach Aufenthalt in verschiedenen Lazaret­ten geriet er am 28. April 1945 im Lazarett Burglengenfeld bei Regensburg in ameri­kanische Gefangenschaft. Im Mai 1945 wurde er in das SS-Internierungslager bei Bad-Kreuznach und 6 Wochen später in ein gleiches Lager bei Wickrath gebracht. Er ent­wich mit einem anderen SS-Mann, fand in Osnabrück bei seinem Vater seine Familie wieder und zog mit ihr nach Flamersheim, Kreis Euskirchen, wo er in der Landwirt­schaft Arbeit fand.

Am 24. März 1946 wurde der Angeklagte in Flamersheim von der britischen Militär­polizei verhaftet und in das Internierungslager Recklinghausen verbracht. 1946 wurde er der sowjetischen Militärpolizei übergeben. Nach zahlreichen Vernehmungen und verschiedenen Gefängnisaufenthalten wurde er mit einer Reihe anderer Funktionäre des KZ Sachsenhausen - darunter der Mitangeklagte Schubert - vor einem Militärtri­bunal der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland wegen der im KZ Sachsen­hausen begangenen Verbrechen angeklagt und nach einer Verhandlung vom 23.Oktober bis zum 1.November 1947 zu lebenslänglicher Haft mit Zwangsarbeit verurteilt.

Zur Strafverbüßung wurde der Angeklagte in das Straflager Workuta in Sibirien über­führt. Er war größtenteils in Bergwerken tätig. Nach seiner unwiderlegten Einlassung wurde ihm bei der Entlassung durch den sowjetischen Vernehmungsoffizier geraten, sich in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands zu begeben, da er in der Bundes­republik mit einem Verfahren wegen seiner Taten im KZ  rechnen müsste. Trotzdem bestand der Angeklagte darauf, zu seiner Familie in der Bundesrepublik entlassen zu werden. Am 14. Januar 1956 wurde er mit einem Transport sog. Nichtamnestierter den deutschen Behörden übergeben. Wenige Tage darauf wurde er entlassen und hielt sich bis zu seiner Festnahme am 7. Februar 1956 bei seiner Familie in Flamersheim auf.

Unter diesen Heimkehrern befanden sich jedoch  Soldaten und SS-Männer, die an Kriegsverbrechen oder am Morden in den Konzentrationslagern beteiligt waren - darunter auch die zwei berüchtigten Aufseher aus dem KZ Sachsenhausen, Gustav Sorge (genannt „Eiserner Gustav") und Wilhelm Schubert (genannt „Pistolen-Schubert"). 1955 wurden sie als "Nicht-Amnestierte" mit den anderen Gefangenen in die Bundesrepublik überstellt. Karl Stenzel, ein Überlebender des KZ Sachsenhausen, meinte am 14. Juni 2005 in der ZDF-Dokumentation von Stefan Brauburger „Die Heimkehr der Zehntausend“:

Auch diese 'Heimkehrer' wurden mit Blumen empfangen. Das war empörend. (…) „Diese Männer konnten sie nicht so ohne weiteres laufen lassen. Aber wo  waren die anderen Täter? Wo sind die geblieben? Die durften nach Hause gehen.

Und das ist das eigentliche Problem, mit dem ich mich in meiner Homepage-Serie  - unter der Überschrift:  „Wurden auf den NS-Ordensburgen künftige 'Täter' erzogen?“ – seit dem 29. November 2006 befasst habe.

Hans-Dieter Arntz



Anmerkungen nach Wikipedia
Im folgenden Monat erfolgte am 7. Februar 1956 seine Verhaftung. Im Prozess vor dem Schwurgericht in Bonn vom 13. Oktober 1958 bis zum 6. Februar 1959 wurde ihm der persönlich ausgeführte Mord an 67 Häftlingen vorgeworfen. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, unter anderem für den Mord an Professor Leon Sternbach. Im Jahre 1978 verstarb er in der Gefängnishaft.

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Weiterführende Literatur:

Ralph Giordano, Narben - Spuren - Zeugen. 15 Jahre Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, Verl. der Allg.Wochenzeitung d. Juden, Düsseldorf, 1961

Fritz Sigl, Todeslager Sachsenhausen - Ein Dokumentarbericht vom Sachsenhausen-Prozeß, SWA-Verlag, Berlin, 1948

Jochen August (Hrsg.), Sonderaktion Krakau - Die Verhaftung der Krakauer Wissenschaftler am 6. November 1939, Hamburger Edition, Hamburg, 1997. ISBN 3-930908-28-X

Weblinks

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