In wohlwollenden Sätzen über das Turnen und den Sport allgemein äußert sich in einem um 1900 erschienenen Anstandsbuch der Grundgedanke und beinahe eine programmatische Devise, unter der körperliche Übungen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in den Schulen und in der Öffentlichkeit zu neuen Ehren gekommen waren: „Mens sana in corpore sano – gesunder Geist in gesundem Körper“!
Mens sana in corpore sano
»Unsere moderne Erziehung, wie der ganze Zuschnitt des 19. Jahrhunderts, legt den Schwerpunkt auf die Ausbildung der Fähigkeiten des Geistes, worüber diejenigen des Körpers oft in beinahe unverantwortlicher Weise vernachlässigt werden. Ganzen Geschlechtern gereicht dieser Mangel zum Schaden; denn eine harmonische Entwicklung des Individuums, wie der Gesamtheit, ist nur da möglich, wo der Ausbildung nach beiden Richtungen Rechnung getragen wird, wo es heißt, das eine tun und das andere nicht lassen. Mit Befriedigung begrüßen wir daher die frischere Strömung, welche auch dem Körper zu seinem Rechte verhelfen will, und gern reden wir allen denjenigen Dingen das Wort, die seiner kräftigen Entwicklung förderlich sind.
Hierhin gehört in erster Linie das Turnen .«
Diese Verneigung vor der Antike war es wohl vor allem, mit der den ansonsten mehr dem antiken Geistesleben verpflichteten Pädagogen die recht profanen körperlichen Übungen im Turnunterricht schmackhaft zu machen waren. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts begann ein Jahrhundert des Sports, vor allem der öffentlichen Leibesübung. Dass auch das Turnen von Mädchen und Frauen gemeint war, erkannte wahrscheinlich nicht jeder Zeitgenosse.
Aber die Chronik des heutigen Gymnasiums Marienschule in Euskirchen belegt, dass diese als „Höhere Töchterschule“ und Lyzeum auch schon das „Turnen“ kannte. Im Jahre 1977 erklärte mir hierzu die einstige „höhere Tochter“ Mize Moll, dass dies aber nur in einer ganz besonderen Kleidung und nur in einem nicht einsehbaren Flur ermöglicht wurde. Im Jahre 1898 gab es jedoch noch keine Turnschuhe, sondern nur „keusche Turnkleidung“.
Es geht in diesem Artikel also um das Turnen von Schulmädchen - und ganz besonders um die Turnkleidung in den Schulen für „höhere Töchter“. Einige Bilder aus dem Foto-Archiv des heutigen Gymnasiums Marienschule Euskirchen dienen als inhaltliche „Einstimmung“.
In einem Artikel für die Chronik des Gymnasiums Marienschule Euskirchen „UNSER WEG“
(1978) fasste die Kollegin Barbara König die Anfänge des Turn- und späteren Sportunterrichtes zusammen:
Aus den Akten der Archive wissen wir, dass es an der ersten Höheren Töchterschule der Stadt Euskirchen (1868) noch keine Leibesübungen gab. Das lässt sich auch unschwer aus dem Zeitgeist erklären.
Dies änderte sich wohl seit dem Bestehen der 2. Höheren Töchterschule (1898), denn in Maria Unterharnscheidt (*1878) können wir die erste geprüfte Turnlehrerin sehen. Ihre Methodik und Didaktik ist uns heute unbekannt, aber wir vermuten, dass im Sommer Ballspiele und im Winter gymnastische Übungen im Vordergrund standen. Schülerinnen der Ursulinen um 1912 erinnern sich gerne der Turn- und Handballlehrerin Schwester Magdalena (Anna Herrmann), die erstmals Wettkämpfe austragen ließ.
Obwohl sich Lernziele und Lehrinhalte des Sportunterrichts im Laufe der Zeit gewandelt haben, ist doch seit Beginn unseres 20. Jahrhunderts Sport als wesentlicher, nicht austauschbarer Bilddungsbereich anerkannt. Schon 1927 forderte Reichstagspräsident Paul Löbe öffentlich die „tägliche Sportstunde". Seiner Meinung nach bewirkt der Schulsport eine gesundheitliche Kräftigung der Jugend, er fördert und entwickelt das soziale Verhalten und regt zu sinnvollem Freizeitverhalten an.
Auch die Dominikanerinnen in Euskirchen erkannten den pädagogischen Wert der Leibesübungen und standen Fortschritt und Wandel im allgemeinen durchaus wohlwollend gegenüber. Regelmäßigen Sportunterricht in allen Klassen gaben bereits 1914/15 die Turn- und Handarbeitslehrerinnen Maria Denn und Fräulein Hoffmanns (wöchentlich 2-3 Stunden).
Die von 1924-1935 an unserer Schule wirkende Turnlehrerin Schulte (heute: Frau Willmes) kann sich noch gut an die liberale Haltung der Schulleitung gegenüber den Leibesübungen erinnern, brachte sie doch mit ihrer Tätigkeit eine entscheidende Wende in den Sportunterricht. Nach ihrer Seminarausbildung in Münster und ihrer erfolgreichen Bewerbung auf ein diesbezügliches Inserat in einer Kölner Tageszeitung konnte sie ihren ersten ,,Turnunterricht" im „Turnsaal" erteilen.Dieser Raum befand sich in der Parterre des an der Ursulinenstraße gelegenen Traktes und bildete später u. a. bis 1973 das Lehrerzimmer unseres Euskirchener Gymnasiums. Mit dem Bau der Turnhalle (1928), die damals in der Rheinprovinz als einzigartig galt, begann für Fräulein Schulte eine systematische und erfolgreiche Arbeit. Sie konnte zwar nichts ändern an der streng vorgeschriebenen „Turnkleidung", die sich anfangs noch, zumindest für Internatsschülerinnen, nach den bischöflichen Leitsätzen zu richten hatte. Die Schülerinnen hatten jedoch trotz langer, an den Knöcheln zusammengebundener Hosen, Rock und Bluse viel Freude an der Bewegung. Bis Ende der 1920er Jahre war, wie Frau Willmes lächelnd berichtet, eine volle Beinkleidung unerlässlich, obschon der Rock inzwischen kniehoch verkürzt werden konnte, aber dann lange Strümpfe getragen wurden (...).
Und da sind wir schon bei dem Stichwort „Turnkleidung für höhere Töchter“.
Auch für die aus der Umgebung von Euskirchen stammenden „Mädchen aus besseren Kreisen“ und deren Lyzeum (ab 1913) galten Anweisungen, die in dem umfangreichen Band „Bestimmungen, Verfügungen und Erlasse über Lyzeen, Oberlyzeen (Frauenschulen und Wissenschaftlichen Oberlyzeen) und Studienanstalten sowie über deren Lehrkräfte“ seit 1908 bzw. 1913 festgehalten wurden. Auf knapp 1.000 Seiten richteten sie sich an „Die höheren Lehranstalten für die weibliche Jugend in Preußen“ und beinhalteten auch die „Privatschulen sowie Höhere Mädchenschulen“.
Bei der bedauerlichen Auflösung der beinahe 100jährigen Schulbibliothek des Gymnasiums Marienschule, deren o.a.Chronik ein nicht unwichtiger Teil der Euskirchener Stadtgeschichte ist, fiel mir der wuchtige Band von Dr. Hans Güldner, damals Studienanstaltsdirektor in Magdeburg, in die Hände, aus dem ich bereits zitiert hatte. Vgl. mein Online-Artikel: Zum Unterricht jüdischer Schülerinnen an „sogenannten Höheren Mädchenschulen“ (1913) – Hier: Befreiung an jüdischen Feiertagen
Die vorliegende 2. Auflage ist eine starke Erweiterung, die hauptsächlich durch die große Zahl der zum Teil sehr umfangreichen Erlasse und Verordnungen bedingt war und sich im Jahre 1913 wegen der Neuordnung des „Mädchenbildungswesens“ als nötig erwiesen hatte.
Die 1. Auflage aus dem Jahre 1908 hatte sich in der damals schnelllebigen Zeit als unvollständig erwiesen, und mehre Provinzialkollegien hatten eine Zusammenfassung der Erlasse gefordert sowie eine aktuelle Zusammenstellung über die gegenseitige Anerkennung der Prüfungszeugnisse zwischen Preußen und den bisherigen Bundesstaaten.
Bezüglich des Turnens für Schülerinnen an einer Höheren Töchterschule oder an einem Lyzeum - und dies war der Vorläufer des heutigen Gymnasiums Marienschule – hatte am Anfang des 20. Jahrhunderts die „Turntracht“ folgendermaßen auszusehen (vgl. S. 109):
Es gibt weitere Anweisungen und Verbote bezüglich der „Turntracht“ für „Höhere Töchter. Immer wieder ist von der „Aufgabe des Turnunterrichtes“, die Rede von „nur weiblichen Lehrkräften“, weiterhin von einer speziellen „Turnsprache“:
Turnsprache und Befehlsform richten sich auch in den Lyzeen usw. nach dem „Neuen Leitfaden für den Turnunterricht in den Preußischen Volksschulen“ (Berlin 1895, W. Hertz)
Wer heute Sportlerinnen sieht, der kann nur noch über das „Korsett-Verbot laut Erlass M.E. v. 20. März 1905 – UIII B 3174, U III A, U III D, M – (Zbl. 1905, S. 334) lachen:
Korsett-Verbot
Absatz 7: Unter Bezugnahme auf die in den Lehrplänen vom 31. Mai 1894 über den Anzug der Schülerinnen gegebene Anordnung weise ich wiederholt und nachdrücklich auf die schwere gesundheitliche Schädigung hin, welche dem sich entwickelnden weiblichen Körper durch einschnürende Kleidung zugefügt wird. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Zweck des Turnunterrichtes bei solchen Schülerinnen, welche im Korsett turnen, nicht erreicht werden kann, da es die ausgiebige und wirkungsvolle Ausführung der wichtigsten Übungen, insonderheit auch derjenigen Rumpfübungen, hindert, welche der Gesundheit besonders dienlich sind und eine freie, aufrechte, schöne Körperhaltung fördern. Das Tragen einschnürender Kleidung beim Turnen ist daher nicht zu dulden.
Dass die Turnerinnen unserer Marienschule im Jahre 1928 kleidungsmäßig recht progressiv waren, zeigt das Foto aus meinem Archiv. Die wahrscheinlich damals noch frivolen Turnbewegungen fanden aber Gott sei Dank unter dem christlichen Kreuz statt, das vom Hausmeister der Dominikanerinnen über der Bühne in der Euskirchener Turnhalle angebracht worden war.
Abschließend möchte ich noch auf die Methodik und Didaktik des Turnunterrichtes an Höheren Mädchenschulen hinweisen, die noch bis zum Beginn der 1930er Jahre gültig waren:
Weiterführende Links
Aus der Chronik des Gymnasiums Marienschule Euskirchen