Anlässlich eines kurzen Aufenthaltes auf der griechischen Insel Korfu machte ich in der Altstadt die Bekanntschaft von Zinos Vellelis, dessen Visitenkarte ihn als „President of Jewish Community of Corfu“ auswies. Ihm gehört in der Str. Agias Sofias ein kleines Textilwarengeschäft, aber man findet ihn sehr oft in der benachbarten Synagoge, um die er sich nachweislich viel kümmert. Sie liegt unterhalb der neuen Festung von Korfu-Stadt, die die Korfioten Kerkyra nennen.
Das im Westen der Inselhauptstadt gelegene ehemalige Judenviertel Evraiki wurde während des Zweiten Weltkriegs praktisch ausgelöscht, so dass heutzutage nur noch Spuren der einst mehr als 3.000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde zu finden sind. Zinos Vellelis erzählte mir, dass nur noch an Hohen Feiertagen ein Rabbiner vom Festland anreist. Ansonsten wirkt ein Vorbeter in der im sephardischen Baustil errichteten Synagoge.
Wir kamen schnell ins Gespräch, weil sein Vater in Auschwitz war und nicht zu der kleinen Gruppe von 74 griechischen Juden gehörte, die im August 1943 in das Lager Bergen-Belsen verbracht wurde. Über diese „elitären“ Gefangenen hatte ich sehr ausführlich in meinem Buch „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“ berichtet. Besonders deren korrupter Führer Jacques Albala hatte ein negatives Bild von der damaligen Leitung des griechischen Judentums zur Zeit der deutschen Besatzung entstehen lassen. Aber der Vater von Zinos Vellelis gehörte nicht zu diesen von den Deutsch anfangs bevorzugten griechischen Gefangenen. Nachdenklich zeigte er mir die gestreifte Jacke, die sein Vater in Auschwitz tragen musste.
Sichtbar für jeden Kunden hängt sie an einem Regal, und man ist etwas unsicher, ob sie wirklich Relikt des schrecklichen Holocaust, Ausstellungsstück oder gar zur textilen Ware zählt. Aber das wagt man nicht, den engagierten Gemeindevorsteher zu fragen. Im Gespräch erinnerte er an den 11. und 15. Juni 1944, als unter deutscher Kontrolle die Deportation von 1700 der 1900 Juden Korfus erfolgte. Nur 122 von ihnen überlebten das Vernichtungslager.
Zinos Vellelis wiederholte mir gegenüber die häufig genannte Äußerung, dass es bald keine jüdische Gemeinde mehr geben würde. Aufgrund des Holocaust, der Überalterung, der Mobilität im Rahmen der Globalisierung oder der Heirat jüdischer Gemeindemitglieder mit christlichen Partnern verkleinert sich die Kehilla immer mehr. Dies prognostizierte im August 2007 ebenfalls der Journalist Ludger Heid von der „Jüdische Allgemeine“. Unter der Überschrift „Arm an Betern“ präzisierte er, dass es nur noch 60 Juden und selten einen Minjan auf Korfu gäbe. Der erwähnte Artikel ist recht informativ.
Am Eingang des jüdischen Bethauses findet man eine Gedenktafel zur Erinnerung an den auf Korfu geborenen Schriftsteller Albert Cohen (1895-1981), der auch von 1940 bis 1946 Vertreter der Jewish Agency in London und von 1947 bis 1954 Direktor des Dienstes für den juristischen und diplomatischen Schutz der Flüchtlinge bei der UNO war.
Im Verlauf des Rundgangs mit Zinos Vellelis erfuhr ich interessante Einzelheiten aus der Historie der jüdischen Gemeinde von Korfu. Dabei machte ich eine Anzahl Fotos, die durch die Beschreibung der kleinen Synagoge durch den renommierten Reisejournalisten Klaus Bötig erläutert werden können. In seinem Bericht „Juden auf Korfu“ heißt es folgendermaßen:
In der ersten Etage überrascht ein erstrahlter großzügiger Betraum den Besucher. Durch die bunten Fenster flutet Sonnenlicht und gibt den Blick frei auf den Thoraschrein, (der hier Hekal genannt wird) an der Jerusalem zugekehrten Wand. Ungewöhnlich der Standort des dominierenden und in kunstvoller Arbeit ausgeführten mit Baldachin versehenen Almemors gegenüber dem Thoraschrein, wie in romanischen Synagogen üblich, an der Westseite der Synagoge. Im Zentrum des Betraumes die Sitzbänke quer zu den beiden rituellen Kristallisationspunkten, was den Betern – entweder Rücken an Rücken oder sich direkt zugewandt – die Möglichkeit gibt, das religiöse Geschehen je nach gottesdienstlicher Notwendigkeit zu verfolgen. Zugleich bietet diese Sitzordnung Gelegenheit zu einem persönlichen Plausch. Die Frauenempore verläuft in einem Rundgang um den gesamten Innenraum. Im Innenhof der Synagoge, der für den Aufbau einer Sukka vorbereitet ist, sticht der Anfang der 1980er Jahre zugemauerte Eingang der Mikwe ins Auge. Als Grund wird fehlende Wasserzufuhr angegeben.
Die Ruine auf dem Nachbargrundstück war einstmals die jüdische Schule der Gemeinde, dessen dreistöckiges Gebäude Platz für bis zu 300 Schülern bot und durch deutsch-italienischen Bomben zerstört wurde.
Aussagestark ist die Bronzeplastik an der Ecke Odos Velissariou und Odos Solomou, die vorbeischlendernden Touristen die unbeschwerte Urlaubsstimmung nimmt und als Mahnmal zumindest kurz zur Besinnung aufruft. Sie erinnert an die Opfer des Holocaust und wird von Klaus Bötig (s.o.) in seinem Bericht Juden auf Korfu folgendermaßen beschrieben:
... Es ist das Mahnmal für die im Juni 1944 von den Nationalsozialisten nach Auschwitz-Birkenau verschleppten 2000 Juden aus Korfu, von denen 130 überlebten. Die Stadtverwaltung und die Jüdische Gemeinde von Korfu haben es im November 2001 aufstellen lassen. Einen Widerstand gegen die Errichtung des Mahnmals, wie auf Rhodos, hat es hier nicht gegeben. Das Monument zeigt eine pogromistisch heimgesuchte Familie: der kleine Sohn schmiegt sich schutzsuchend an den nackten Körper des Vaters, der – wie auch die ein zweites Kind auf ihrem Arm tragende Mutter – seine Innenhandflächen zum Zeichen der Unschuld und Wehrlosigkeit vorstreckt, um damit die Katastrophe – vergeblich – abzuwehren sucht....
Beim Abschied überließ mir der jüdische Gemeindevorsteher eine Broschüre, die in englischer Sprache die Geschichte der „Jewish Community of Corfu“ wiedergibt. Etwas frustriert meinte er abschließend: „Wenn Sie als deutscher Autor irgendwie die Möglichkeit haben, auf eine bald nicht mehr bestehende jüdische Gemeinde hinzuweisen, dann publizieren Sie einige Auszüge auf Ihrer regionalhistorischen Homepage.“ Dies tue ich hiermit gerne:
... In the beginning of 1931, the last Rabbi reached the island. His name was Yaakov- Nehama. The community had around 3.000 members-inbabitants (according to the German Encyclopaedia Judaica) while Zante had 175 and Greece 110.000, which was 2.2% of the population.
In 1932, the Jewish communities of Macedonia faced economic difficulties and in Salonica there are a lot of anti-Semitic incidents against Jews and frictions with Salonica Jews. In Corfu, the Zionist movement continued, although the Organization Mekkitz-Nardamin ceased to exist, since many of its members fled to Palestine.
In 1913-1914, Mizrahi established the "Tikbat-Zion" (Hope for Zion), but fled to Palestine. In 1924, a new Organization was founded, "Theodore Herzl", but it finally merged with the "Zionist-Revisionist" movement and its program was published in 1934 in Corfu by Mizrachi (that had returned). The citizens of Corfu carried out made fund- raising and sent the money to Palestine. Metaxa's dictatorship prohibited all these organizations and the most active ones came under surveillance. The Corfu citizens continued their immigration or tourist trips to Palestine.
The majority of the community was poor after the "exodus". It always participated in the economic and social life of the city. In 1914, Savatos Minervos was voted as a Municipal Council in the Municipality of Corfu and received 1.364 votes. Another well known Jew named Kalonimos, that came from a wealthy family, became the director of the Emboriki Bank of Corfu. The wealthy people comprised of 1/5 of the Community.
Tzafos, Mordos, Zafiriou were shop owners of big shops. On the front steps of the store of Zafiriou many Jews enjoyed their time during weekends eating pumpkin seeds. Zakar, Moustaki, Soussi, Cohen, Vivante, Sallonikou, Beso, Leontsini, Salon, Mizan were very well known merchants as well as the clay-making factory of Baruch. The merchants of the Ovriaki were known for their bargaining and their transactions. In financing and real estate issues Shalom was very well known.
In the Ovriaki people lived peacefully. The neighborhood was named after its citizens as "little Jerusalem". In his book „Le Livre de ma mère”, Albert Cohen nicely describes the atmosphere of the Jewish Corfu family. As far as the incident with the torpedo explosion in Ovriaki - that is described in his book “Les Valeuveux” - it really happened. During that time, Avrami's Hill was the most preferable walk of the residents of Ovriaki.
The school that had been closed down, reopened for a while in 1930. It was the 5th elementary school of Corfu. There were 500-700 pupils. A teacher who was born in Palestine gave Hebrew lessons. Since there was no space the pupils took their breaks in the corridors of the building. A well known violin player of the time was Markos Nachon who performed with Takis Nikokavouras. Vousolinos and Vasila accompanied them with the piano and the ladies Picard and Samartzi sang. They were all exquisite in the "theatre of variety".
Before the war there was a soap factory named Miza, close to Scholemvourgou Street, that was destroyed in the bombings. Long before that, in the beginning of the 19th century, the Issaeli family owned soap factories and were relatives of the writer Albert Cohen.
In 1939, 2.000 Jews were living in Corfu and the Asser family lived in Paxos. The same family had a big store in Corfu.
Today, after the "fall", the "exodus", the "holocaust", the "assimilation" and the aging of the population, the members of the Community are not more than 80 persons. They are tired from their difficult past, but remain the guardians of the long remembrance of the Jews of Corfu...