Schlomo Samson, ein bedeutender Zeitzeuge für das
„Inferno von Bergen-Belsen“

von Hans-Dieter Arntz
02.08.2009

Bergen-Belsen ist der schreckliche Name für die Endphase des Holocaust. Dass die nationalsozialistischen Vernichtungs- und Konzentrationslager als Symbol für Terror und Unmenschlichkeit gelten, ist unbestreitbar. Und je mehr man über die Gräueltaten erfährt, desto mehr verfestigen sich Begriffe wie Verfolgung, Qual und Mord. Der Name „Konzentrationslager Bergen-Belsen“ ist mit etwas Unbegreifbarem verbunden. Unbegreifbar, dass eine derartige Hölle möglich werden konnte, und unfassbar, dass man hier lebend entkommen konnte.

Schlomo Samson gehört zu den wenigen Menschen, die das Inferno von Bergen-Belsen überlebten und noch in der Lage waren – und es heute noch sind -, darüber detailliert und wertfrei zu berichten. Sein umfangreiches Buch „Zwischen Finsternis und Licht“ erschien 1995 im Verlag Rubin Mass, Jerusalem, und ist die deutsche Übersetzung seiner hebräischen Publikation. Etwa 520 Seiten – einschließlich wichtiger Dokumente – dokumentieren einen Lebenslauf, der in wichtigen Phasen dem von Josef Weiss ähnelt, dem letzten „Judenältesten des Sternlagers von Bergen-Belsen“. Schlomo Samson kannte ihn sehr gut, so dass er mir als ein wichtiger Zeitzeuge für dessen Biographie helfen kann.

 

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Schlomo Samson, Chanukka 2003

 

Da „Jupp“ Weiss in Euskirchen-Flamersheim geboren wurde, beschäftigt mich das Thema Bergen-Belsen schon seit längerer Zeit, da es aus diesem besonderen Grunde auch für die Regionalhistorie der Eifel und Voreifel bedeutsam ist.

Nach Kontakten zu Hetty E. Verolme (geb. Esther Werkendam), der Autorin des bekannten Buches „Wir Kinder von Bergen-Belsen“, hatte ich vor einigen Monaten auch Schlomo Samson kennen gelernt. Wie Hetty E. Verolme stand auch er mit dem letzten „Judenältesten von Bergen-Belsen“ in persönlichem Kontakt. Sie alle hatten Bergen-Belsen und die dort herrschenden Zustände überlebt.

Biographie von Schlomo Samson

Die Bilder des Grauens, die sich den britischen Soldaten bei der Befreiung des Lagers am 15. April 1945 boten, gingen um die ganze Welt. In diesem ehemaligen „Aufenthaltslager“, etwa 60 km von Hannover mitten in der Lüneburger Heide gelegen, lagen Tausende von Leichen. Dazwischen vegetierten die Überlebenden, fast verhungert und kaum noch lebensfähig. Der britische Sanitätsoffizier Brigadier Glyn Hughes, der am 15. April 1945 als erster englischer Arzt das Lagergelände sah, fasste seine inzwischen vielfach publizierten Eindrücke zusammen:


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Bergen-Belsen nach der Einnahme durch die Engländer (Foto: Imperial War Museum, London)

(…) Kein Bericht und keine Fotografie kann den grauenhaften Anblick des Lagergeländes hinreichend wiedergeben; die furchtbaren Bilder im Innern der Baracken waren noch viel schrecklicher. An zahlreichen Stellen des Lagers waren die Leichen zu Stapeln von unterschied­licher Höhe aufgeschichtet; einige dieser Leichenstapel befanden sich außerhalb des Stacheldrahtzauns, andere innerhalb der Umzäunung zwischen den Baracken. Überall im Lager verstreut lagen verwesende menschliche Körper. Die Gräben der Kanalisation waren mit Leichen gefüllt, und in den Baracken selbst lagen zahllose Tote, manche sogar zusammen mit den Lebenden auf einer einzi­gen Bettstelle. In der Nähe des Krematoriums sah man Spuren von hastig gefüllten Massengräbern. Hinter dem letzten Lagerabteil befand sich eine offene Grube, halb mit Leichen gefüllt; man hatte gerade mit der Bestattungsarbeit begonnen. In einigen Baracken, aber nicht in vielen, waren Bettstellen vorhan­den; sie waren überfüllt mit Gefangenen in allen Stadien der Auszehrung und der Krankheit. In keiner der Baracken war genügend Platz, um sich in voller Länge hinlegen zu können. In den Blocks, die am stärksten überfüllt waren, lebten 600 bis 1000 Menschen auf einem Raum, der normalerweise nur für hundert Platz geboten hätte.

Wenn man nun die dynamische Stimme von Schlomo Samson am Telefon hört, dann vergisst man die Biographie dieses geistig ungemein regen Zeitzeugen, Schriftstellers und israelischen Kibbutznik. Immerhin wird er im kommenden Dezember 86 Jahre alt.

1923 in Leipzig geboren entstammt er einer Familie ostjüdischer Herkunft. In seinem lesenswerten Buch „Zwischen Finsternis und Licht“ schildert er das Leben seiner jüdischen Großfamilie in den 20er und 30er Jahren, seine Schulzeit an der bekannten Carlebach-Oberschule sowie die Erfahrungen und Erlebnisse in einer Gruppe des Makkabi Hazair, die sich nach 1933 auf den Zionismus ausrichtete und sich auf einer Hachschara für eine Ansiedlung in Palästina vorbereitete.

1938 wurde die Familie Samson auseinandergerissen. Der Vater, im Januar 1938 verhaftet und dann aus Deutschland ausgewiesen, fand Zuflucht in den Niederlanden, wo einer seiner Brüder lebte. Auch der fünfzehnjährige Manfred (Schlomo) wurde ausgewiesen und begab sich Ende November 1938 ebenfalls in die Niederlande. Im Juli 1939 flüchteten die Mutter und der jüngere Bruder zunächst nach Belgien, von dort nach Holland. Als junger Zionist verbrachte die Jahre 1939 bis 1942 auf zwei „Schulfarmen" in Gouda und Elden, wo junge jüdische Hachschara-Pioniere in der Landwirtschaft ausgebildet wurden.

Am 3. Oktober 1942 besetzten SS-Leute das Haus in Elden und transportierten die jüdischen Schüler in das Lager Westerbork ab. Dort war die Familie Samson wieder vereint. Da der Vater zu den ersten „Westerborkern“ gehörte, kam die ganze Familie auf die Liste der „alten Lagerinsassen'' und war dadurch zunächst von den Transporten „nach dem Osten" zurückgestellt. Die „Westerbork-Atmosphäre" und das Leben im Lager werden von Samson eindringlich und einfühlsam beschrieben. In Westerbork begegnet er auch mehrmals dem aus Euskirchen-Flamersheim stammenden Josef Weiss und seiner Familie.

Als Hachschara-Pionier erhielt Schlomo einen Platz auf der sogenannten „Palästina-Liste". Mit den Mitgliedern der Eldener Gruppe gelangte er am 11. Januar 1944 in das „Austauschlager" Bergen-Belsen, in dem mehrere tausend Juden – u. a. diejenigen, die für einen Palästina-Austausch vorgesehenen waren, – konzentriert wurden. Auch Josef Weiss, seine Frau Erna geb. Falk und der jüngste Sohn Klaus-Albert (Aharon) gehörten zu denjenigen, die „ausgetauscht“ werden sollten. Der älteste Sohn, Wolfgang (Shalom) Weiss, war vorher bei hilfreichen Holländern versteckt worden.

 

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Schlomo Samson in Holland (1941)

 

In den Wochen des Massensterbens in Bergen-Belsen seit Anfang 1945 erkrankte auch Schlomo an Flecktyphus. Trotz hohen Fiebers nahm er an dem Evakuierungstransport teil, der am 10. April gefüllt und am 11. April 1945 frühmorgens das Lager Bergen-Belsen verließ und nach langer Irrfahrt durch das im Chaos versinkende Deutschland am 23. April bei dem Dorf Tröbitz in der Niederlausitz von russischen Soldaten befreit wurde. Doch die Befreiung bedeutete nicht das Ende der Leiden.

Detailliert berichtet Samson über die weiteren Stationen seiner Odyssee: nach mehrwöchigem Aufenthalt in Tröbitz Rückkehr nach Holland, dann Übersiedlung nach Frankreich zur Vorbereitung der illegalen Einwanderung nach Palästina, schließlich Einschiffung auf einem illegalen Schiff, das von den Eng­ländern aufgebracht wurde, Einlieferung in das Internierungslager Atlit bei Haifa. Am 2. April 1946 konnte Schlomo Samson sich in den religiösen Kibbutz Schluchoth begeben und ein neues Leben in Erez Israel beginnen. Mit dieser Ankunft endet Samsons Darstellung – der faszinierende au­tobiographische Bericht eines deutschen Juden, der den Holocaust überlebte.

Spätestens seit Bergen-Belsen ist Schlomo Samson ein zuverlässiger Zeuge für die hilfreiche Aktivität von Josef Weiss, dem letzten „Judenältesten“ von Bergen-Belsen. Nach der gemeinsamen Rettung aus dem berüchtigten 3. Zug in Tröbitz (23. April 1945) konnte die Bekanntschaft aufrecht erhalten und in Jerusalem fortgesetzt werden.

Der inzwischen emeritierte Prof. Eberhard Kolb, dessen wesentliche Studien und Publikationen über das Konzentrationslager Bergen-Belsen einen Hauptplatz in seiner Arbeit einnehmen, verfasste das Vorwort zu Samsons Buch und bestätigte dem in Israel lebenden Autor, dass besonders seine Darstellungen über das holländischen Lager WESTERBORK und BERGEN-BELSEN ein „bewegender Zeugenbericht“ sind.

Zum Buch von Schlomo Samson

Das Buch „Zwischen Finsternis und Licht“ ist deswegen so wichtig und wertvoll, weil es besonders die Kontinuität der Zeit 1942 bis 1945 – also das Leben im holländischen Lager WESTERBORK und das Überleben im Hungerlager BERGEN-BELSEN – wahrt. Hier werden nicht einzelne Erlebnisse wiedergegeben, sondern der systematische Verlauf der Qual, die ein aus Deutschland stammender Jude ertragen musste. Insofern klingt der Titel eigentlich zu positiv, denn besonders die andauernd gefährdete Existenz im Heidelager Bergen-Belsen entsprach einer völligen „Finsternis“. Die offenbar ungebrochene Hoffnung und religiöse Grundhaltung von Schlomo Samson symbolisiert meiner Meinung nach das, was der Autor mit „Licht“ bezeichnet.

 

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Titelseite des 1995 erschienenen Buches „Zwischen Finsternis und Licht“

 

Wie manch anderes Werk der sogenannten „Holocaust – Erinnerungsliteratur“ entstand das Buch zunächst als Aufzeichnung für die Familie, für die Kinder und Enkel. Aber aus diesem eindringlichen, reich dokumentierten Lebensbericht wurde dann eine Dokumentation, die nach systematischen Archivstudien 1990 als Buch in hebräischer Sprache erschien. Spätestens nach der deutschen Übersetzung konnte eine größere Öffentlichkeit fast lückenlos das Geschehen nachvollziehen. Als wichtig erscheint mir die Tatsache, dass Schlomo Samson kein „typischer“ Lagerinsasse war, sondern dank seiner Aktivität in der jüdischen Jugendarbeit und sonstigen Tatkraft auch in Bergen-Belsen eine besondere Rolle spielte.

 

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Bescheinigung von Josef Weiss, dem letzten Judenältesten von Bergen-Belsen, an Schlomo Samson

 

Dies wird ihm unmittelbar nach der Befreiung von Josef Weiss – in seiner ausdrücklich genannten Funktion als „Judenältester“ – , schriftlich am 14. Juni 1945 in Tröbitz bestätigt.

 Dies ermöglichte ihm, mehr zu sehen und mehr zu erfahren, als dies ansonsten möglich gewesen wäre. Dass er dabei in der Lage war, die historischen Ereignisse zu hinterfragen und nachträglich zu belegen, macht seine Darstellung so wichtig. Dass vielleicht noch mehr Fußnoten zum Beleg der NS-Dokumente sinnvoll gewesen wären, sei jedoch am Rande erwähnt.

Briefe, Tagebücher und persönliche Dokumente aus jenen Tagen sind dem heutigen Leser in der Regel deswegen schwer verständlich, weil bei der damals angebrachten Anonymität und der Angst vor Konsequenzen gewisse „Codes“ oder das Fehlen der namentlichen Angaben unverständlich bleiben. Diese allgemeine Unkenntnis ist bei Schlomo Samson nie der Fall, denn auch besonders intimes Vokabular wird unmittelbar vom Autor entschlüsselt und erklärt. Ansonsten wären sie nur von „Insidern“ zu deuten.

 

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Der Autor Schlomo Samson überreicht die deutsche Ausgabe seines Buches
an den Direktor der Gedenkstätte Westerbork, Dr. Dirk Mülder

 

Wichtig scheint auch zu sein, dass Samson sich nicht darauf beschränkt, eine Chronik des Grauens auszu­breiten, sondern mit beeindruckender Prägnanz jüdisches Leben und jüdische Selbstbehauptung in der Zeit der Verfolgung beschreibt.

Den Beginn des eigentlichen Infernos ab Januar 1945 leitet Schlomo Samson folgendermaßen ein:

Es gelang der SS nicht mehr, die völlige Isolierung des anliegenden Frauenlagers aufrechtzuerhalten, und so begann die furchtbare Wahrheit über „Lager im Osten", besonders Auschwitz-Birkenau, ins Sternlager durchzusickern. Im Gegensatz zu Herzberg, dem damals schon einige Gerüchte zu Ohren gekommen waren und der am 8.11.44 noch aus voller Überzeugung schreiben konnte: „Es ist unmöglich, diesen Gräueln Glauben zu schenken!" erklärte Loden Vogel am 7.2.45 ausdrücklich, dass er über den mörderischen Charakter von Auschwitz informiert ist. Diese Nachrichten hatten auf Loden Vogel einen niederschmetternden Einfluss, und am 12.2.1945 erwähnt er extreme Schlussfolgerungen, die aber nicht zur Ausführung kamen.

Im Februar erkrankten und starben viele Leute, die ich persönlich kannte, auch aus meinem engsten Bekanntenkreis. Es ist ganz anders, wenn man Kranke oder Tote, die man überhaupt nicht oder nur flüchtig kennt, auf der Bahre trägt, als wenn es sich um Leute handelt, die, sie selbst, oder ihre Kinder, dir sehr nahestehen. So ist das auch unter normalen Verhältnissen, aber im Lager war es doch viel schwerer und nur das Gefühl, dass du deinen eigenen Freunden hilfst, bzw. die letzten Ehren erweist, ermöglicht es, dieses auszuhalten und sogar deine Willenskraft zu stärken. (S.364/65)

Der 85jährige Schlomo Samson hat mit seinem Buch „Zwischen Finsternis und Licht“ ein Werk geschaffen, das keineswegs trockene Historie bietet, sondern einen persönlich gehaltenen und dadurch besonders eindringlichen Lebensbericht. Man kann verstehen, dass er häufig Einladungen zu Lesungen in Deutschland erhält.

 

 

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