Die Jeckes - Deutsche Juden aus Israel erzählen (Eine Buchvorstellung)

von Hans-Dieter Arntz
24.04.2009

Damit die Spuren der „Jeckes“ und ihr wirklich bemerkenswertes Schicksal nicht vergessen werden, publizierte der Böhlau Verlag /Köln/Weimar/Wien) im Jahre 2000 eine eindrucksvolle Dokumentatation deutsch-jüdischer Biographien, die zugleich einen Beitrag zur deutschen und israelischen Kulturgeschichte darstellt:

Jeckes BuchGideon Greif, Colin McPherson/Laurence Weinbaum: Die Jeckes – Deutsche Juden aus Israel erzählen. Böhlau Verlag, Köln/Wien 2000. ISBN 3-412-11599-1

Spätestens beim Wiedersehen mit den ehemaligen jüdischen Mitbürgern im Jahre 1984 wurde auch der hiesigen Bevölkerung klar, dass die Gäste keineswegs typische Israelis waren, sondern offenbar deutsch gebliebene „Lück os Flomeschem“. Als ehemalige Bewohner des Dorfes Flamersheim waren sie mit dem hiesigen Dialekt weiterhin vertraut und kannten noch manchen Nachbarn und deren Gewohnheiten. Das viertägige Wiedersehensfest ließ nicht erkennen, dass sie nicht mehr so waren wie die gleichaltrigen Bewohner von Flamersheim. Dieser Eindruck bestätigte sich, als im Jahre 1985 eine etwa 30 Personen starke Euskirchener Delegation nach Israel fuhr, um den Besuch zu erwidern und einen „Freundschaftspakt“ mit Tirat Hakarmel zu schließen. Viele Juden von Flamersheim hatten sich in Haifa niedergelassen und gehörten zudem der „Vereinigung ehemaliger Kölner und Rheinländer“ an, die von Heinrich Schupler engagiert zusammengehalten wurde. Wir saßen damals in „deutschen“ Wohnzimmern mit schweren Eichenmöbeln und, um es kurz zu machen: alles wirkte irgendwie „typisch deutsch“. Unsere Freunde zählten zu den so genannten „Jeckes“.

Jeckes!(?) – Dies ist keineswegs eine Bezeichnung für rheinische Karnevalisten, sondern ein
klassischer Ausdruck für Juden, die in der Zeit von 1933 bis 1939 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Palästina flüchteten, dort ein neues Leben begannen und in Israel auch Landsmannschaften bildeten. Ostentativ hielten sie an korrekter Kleidung („jacket“) sowie preußischen Sekundärtugenden fest. Sie gaben - und geben vereinzelt bis heute noch - primär eine geradezu ideale Projektionsfläche dafür ab, wie der zukünftige Israeli, der hebräische Jude nicht sein sollte. In ihrem bewusst beibehaltenen Deutschtum werden sie bis heute mit ambivalenten Gefühlen bedacht.

Die geflüchteten deutschen Juden waren kollektiven Erwartungen ausgesetzt, sich ihrer deutschen Anteile ganz besonders gründlich zu entledigen. Diesem Ansinnen kamen sie gelegentlich auch mit „jeckischem“ Eifer nach. Dies wäre übrigens eine weitere etymologische Erklärung. Die Beispiele beweisen, dass ihnen dies bis heute nur bedingt gelingen konnte.

Die keineswegs unsympathische Spezies „Jeckes“ macht dem Leser deutlich, wie konträr heute die durchaus „jecke“ Beibehaltung deutscher Sprache, Sitten, Bräuche, Pünktlichkeit
und des Ordnungssinns im modernen Israel ist. Die einleitende Antwort der Herausgeber auf die Frage: „Was ist ein Jecke?“ lautet:

(…) Doch ein Jecke zu sein bedeutete mehr als Pünktlichkeit und Genauigkeit. Es war jene einmalige Weltanschauung, die sie von anderen Palästina-Einwanderern unter­schied. Jeckes waren förmlich, legalistisch, genau und steif, aber auch kultiviert, diszi­pliniert und gebildet. Sie repräsentierten nahezu alle Richtungen des politischen und religiösen Denkens in Deutschland; ja, entgegen einer unter den osteuropäischen Juden in Palästina weitverbreiteten Ansicht, hatten nicht alle deutschen Juden die Tradi­tionen ihrer Vorväter abgelegt, und dementsprechend waren viele der deutschen Ju­den, die sich in Palästina niederließen, inständig orthodox.

Die deutsch-jüdischen Einwanderer brachten urbane europäische Kultur nach Pa­lästina, und dort angekommen, strebten sie danach, denselben Lebensstandard zu er­reichen, den sie in Deutschland gehabt hatten. Viele brachten Einrichtungen aus ihren komfortablen Häusern in Deutschland mit, darunter umfangreiche Bibliotheken mit deutscher Literatur und von den Nationalsozialisten verbotenen und verbrannten Bü­chern, schwere Mahagonimöbel, Klaviere, Grammophone und das Neueste an Haus­rat, von Kunstwerken ganz zu schweigen. Einige kamen sogar mit ihren Autos. Bis zur Ankunft dieser Vertreter des Bildungsbürgertums hatten die Juden in Palästina sich be­müht, eine klassenlose Gesellschaft mit einer unzweifelhaft hebräischen Kultur aufzu­bauen. Die reiche jiddische Volkskultur, die von den osteuropäischen Juden einge­bracht wurde, assoziierte man mit dem Ghetto und der Diaspora und ermutigte sie, sie abzulegen.

Die Jeckes waren tatsächlich die einzigen Einwanderer im Palästina der dreißiger Jahre, die an ihrer eigenen Kultur und Identität festhielten und die Anpassung verweigerten. Dies nahm ihnen der Rest der jüdischen Gesellschaft übel. Ungleich den jüdischen Einwanderern aus anderen Ländern, blieb die Bindung deutscher Juden an ihre frühere Heimat noch Jahre nach ihrer Einwanderung stark. Selbst der Holocaust schaffte es nicht, die emotionale Bindung zu Deutschland völlig zu brechen.

Der Aufstieg Hitlers markierte das abrupte Ende einer historischen Entwicklung, die mehr als 150 Jahre zuvor begonnen hatte und ihren Höhepunkt in den Weimarer Jah­ren erreichte. Die Emanzipation des deutschen Judentums nahm mit dem Nationalso­zialismus ein jähes Ende. Das Konzept von Emanzipation durch Bildung, durch den Er­werb von Wissen und Kultur ging bankrott. 1880 äußerte der Jude Ludwig Bamberger, der ein Finanzberater Bismarcks und Gründer der Freisinnigen Partei war, dass die Juden keinem anderen Volk so nahestünden wie dem deutschen. Auch seien sie nicht nur auf deutschem Boden vom Deutsch­tum geprägt, sondern ebenfalls weit jenseits der deutschen Grenzen. Die Jeckes in Is­rael bestätigen diese Theorie.

Diese Generation deutscher Juden, die vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Palästina bzw. dem heutigen Israel eine neue Heimat suchte und vielleicht auch fand, ist heute kaum noch präsent. Sie war aber einst am Aufbau eines neuen Staates beteiligt.

Um die Geschichte der „deutschen Israelis“ nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, versuchten die Herausge­ber dieses Buches, möglichst viele von ihnen aufzufinden und nach ihrem Leben zu befragen. Sie machten Be­kanntschaft mit Jeckes aus verschiedenen Schichten der israelischen Gesellschaft und zeichneten ihre Lebensgeschichten auf. Die annähernd 80 Interviews, die zwi­schen 1994 und 1997 stattfanden, wurden von den Herausgebern gemeinsam geführt. Sie erschließen eine Vergangenheit, die für die Zeitzeugen viele schöne, aber auch bit­tere Erinnerungen enthält. Alle Befragten sprachen über ihre individuellen Erfahrungen und ihre gemeinsame Vergangenheit, und in jeder Lebensgeschichte wurden bestimmte Aspekte besonders betont. So konnte ein Jecke von den furchtbaren Um­ständen der Flucht seiner Familie aus Deutschland berichten und von den schmerzhaften Erinnerungen daran, dass die Großmutter zurückbleiben musste, während für einen ande­ren die Erinnerungen an seine Jugendabenteuer als Neuankömmling im Kibbuz wichtiger waren. Viele Jeckes erzählten auch von den gemischten Gefühlen, die sie bei ihren Besuchen in Deutschland nach dem Krieg empfanden.

In dem Buch „Die Jeckes – Deutsche Juden aus Israel erzählen“ findet der Leser viele Argumente, Schicksale und Details, die exemplarisch auch für die Flüchtlinge aus unserer Region der Eifel und Voreifel gelten könnten. Das Geleitwort verfasste Dan Diner von der Ben-Guron Universität im Negev, außerdem Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig.

Die Herausgeber heben in ihrem Vorwort das Typische der sicht- und greifbaren Lebenszeugnisse der Jeckes hervor. Hierzu einige diesbezügliche Anmerkungen:

Die Geschichte der Juden in Deutschland ist auch die Geschichte ihres Strebens nach Integration und Assimilation. Die deutsche Kultur hat durch den Einfluss der deutsch-jüdischen Intelligenz eine unermessliche Bereicherungen erfahren, sie hat aber auch die Einstellungen und Gewohnheiten der Juden stark geprägt. So wurden die Jeckes in Israel lange Zeit misstrauisch beobachtet und hatten mit dem Image des Deutschseins zu kämpfen. Einige der Befragten haben von quälenden Erlebnissen be­richtet und von dem unablässigen Gehänsel wegen ihres Akzentes oder ihrer Unfähigkeit, die hebräische Sprache zu meistern. Heute werden die Jeckes mit einem ähnlichen Wohlwollen angesehen, wie es einem liebenswürdigen Onkel oder einer schrulligen Tante entgegengebracht wird. Die Mythen, Legenden und Witze, die mit den Jeckes verbunden werden, sind noch immer in Israel und in der ganzen jüdischen Welt be­kannt. Sie wurden auch während der Interviews immer wieder erzählt.

Einige der befragten Jeckes sind nicht lange in Deutschland heimisch gewesen. Erst ihre Elterngeneration war von Osteuropa nach Deutschland eingewandert. Die meisten aber hatten tief verwurzelte Familienbande in Deutschland. Sie kamen aus den unter­schiedlichsten sozialen Verhältnissen und aus verschiedenen Teilen des Landes. Die in Israel verbreitete Vorstellung, dass fast alle Jeckes aus den gebildeten Schichten der größeren deutschen Städte stammten und dass sie zumeist verweltlicht und von ihren jüdischen Wurzeln entfremdet waren und keinerlei Hebräisch sprachen, ist nicht rich­tig. Noch heute existiert dieses Stereotyp eines Jecke, doch ist es lediglich eine grobe Karikatur. Der bekannte israelische Schriftsteller Natan Alterman hat einmal voller Spott über Rehavia, einen als Hochburg der deutschen Einwanderung bekannten Stadtteil Je­rusalems, geschrieben, dass dort „Doktor neben Doktor wohne". In Wirklichkeit haben die Jeckes in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft wesentlich zur Entwicklung Isra­els als einer modernen Nation beigetragen. Davon ist in Deutschland nur wenig be­kannt, und auch in Israel wird diese Leistung noch immer stark unterschätzt.

Die Einleitungskapitel stellen die Lebensgeschichten der Jeckes in den Kontext der deutschen und israeli­schen Geschichte. Sie zeigen, dass das Entkommen der Jeckes aus Nazi-Deutschland das Ende einer langen gemeinsamen Geschichte bedeutete - und gleichzeitig den Be­ginn eines neuen Zusammenlebens. Das Schicksal der Juden in Deutschland war des­halb besonders tragisch, weil sie sich von Deutschland nicht als Juden, sondern als Deutsche verstoßen fühlten, und weil sie in Israel eben wegen ihres Deutschseins nur schwer akzeptiert wurden. So befasst sich dieses Buch auch mit der Frage der Identität der Jeckes. In welchem Maße haben sie sich unter dem Einfluss von Sprache, Umfeld und Umständen von deutschen Juden in Israelis verwandelt?

Und welche Charakteri­stika von deutschen Juden haben sie bewahrt? Das Verhältnis der Jeckes zur hebräischen Sprache enthält besonders viele Hinweise darauf, inwieweit sie sich an ihre neue Umgebung anpassen konnten bzw. an ihr scheiterten. (…) jedoch werden die sicht- und greifbaren Lebenszeugnisse der Jeckes weniger: Die deutsche Sprache wird in Israel nur noch selten gesprochen und hat ihre Bedeutung als Fachsprache der Wissenschaft oder Medizin völlig verloren. Die Verkaufsläden und Firmen der Jeckes wurden verkauft oder geschlossen, die Wohnungen und Häuser ge­gen den Komfort und die Sicherheit eines Altersheims eingetauscht. Hin und wieder kann man im Sperrmüll von Tel Aviv durch Zufall einen Stapel alter Büchern oder an­deres Besitztum vor einem Appartement entdecken. Unter den Büchern sind dann viel­leicht Bände von Goethes und Schillers Werken, seltene Ausgaben von Autoren, de­ren Schriften von den Nazis verbrannt wurden, oder alte Grammophonplatten mit klassischer Musik. Und manchmal kann man auf dem Trödelmarkt von Jaffa noch ele­gante deutsche Mahagonimöbel finden oder verbeulte Seemannskoffer mit vergilbten Aufklebern, die von einer langen Bahnreise von Köln oder Frankfurt nach Triest und von dort per Schiff nach Haifa erzählen.

(…) Der 1938 aus Nazi-Deutschland geflohene Journalist Robert Welsch schrieb über das Leiden und den Exodus der deutschen Juden: „Wir sollten die Bedeutung unseren Kindern erklären, wenn wir ihnen zur Sedernacht von Pessach erzählen, von der Tragö­die und der wunderbaren Rettung der Juden im alten Ägypten.

 

Kirche im Bistum Aachen

Katholische Kirchenzeitung  für das Bistum Aachen vom 19. April 2009

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