Zurzeit feiert die „Gemeinnützige Baugesellschaft Euskirchen“ ihr 100jähriges Bestehen. Als heute größter Vermieter der Kreisstadt sorgte sie im Jahre 1907 für die ersten acht Häuser im Kleinefeldchen. Der damals sehr rührige Bürgermeister Sester hatte die Gründung einer Baugesellschaft angeregt, da Euskirchen sich allmählich zu einem Zentrum der rheinischen Tuchindustrie zu entwickeln begann. Man darf nicht vergessen, dass das Voreifel-Zentrum in den nächsten Jahren weltweit für die Produktion von Uniformstoffen bekannt wurde. Laut den Unterlagen des Euskirchener Stadtarchivs sollte die Euskirchener Baugesellschaft durch den intensivierten Wohnungsbau „unbemittelte Familien gesunde und zweckmäßig eingerichtete Wohnungen in eigens erbauten und angekauften Häusern zu billigsten Preisen verschaffen.“
Wer die Verhältnisse der Euskirchener Arbeiter im 19. Jahrhundert kennt, kann den großen Fortschritt im „sozialen Wohnungsbau“ der damaligen Zeit leicht nachvollziehen. Ich habe ihn in dem Artikel Eine Sonntagsschule für die Fabrikknaben: Armenbildung im 19. Jahrhundert deutlich skizziert.
Die erhalten gebliebenen Listen, die Aufschluss über die ersten Anwohner der Straße „Im Kleinefeldchen“ und anderer bezogener Wohnungen geben, geben darüber Aufschluss, dass viele „Haushaltsvorstände, aber auch deren Angehörige“ in den Euskirchener Tuchfabriken beschäftigt waren. Sie waren sehr arm und entsprachen dadurch der Satzung der „Gemeinnützigen Baugesellschaft“.
Aus diesen sozialen Schichten stammten die ersten politischen Aktivitäten zum 1. Mai – auch in der Voreifel.
Vor bereits 27 Jahren recherchierte ich zu diesem regionalhistorischen Thema. In der Euskirchener Lokalausgabe des Kölner Stadt-Anzeigers vom 01.05.1980 fasste ich meine diesbezüglichen Ergebnisse kurz zusammen:
Schon vor der Jahrhundertwende begossen die Arbeiter den 1. Mai zünftig mit Schnaps
Bei Streiks kannte Euskirchener Firma kein Pardon – Kein Feiertag für arme Schlucker
Artikel aus dem Kölner Stadt-Anzeiger, Lokalteil Euskirchen, vom 1. Mai 1980
Seit 90 Jahren wird der 1. Mai als Feiertag der Arbeitnehmer begangen, und seit der ersten Stunde gab es Jahr für Jahr Diskussionen über den Sinn dieses Tages und über seine Ausgestaltung. Der Internationale Arbeiter-Congress beschloss im Juli 1889 – 100 Jahre nach der Französischen Revolution –, ab 1890 alljährlich am 1. Mai weltweit den Tag der Arbeit zu feiern. Fröhliche Maibräuche, wie zum Beispiel „Maienstecken“ oder „Maienlehen“, verdecken oft den soziologischen und politischen Hintergrund dieses Tages. Der Euskirchener Stadthistoriker Hans-Dieter Arntz, Sozialwissenschaftler und Oberstudienrat am Gymnasium Marienschule, hat für den Kölner Stadt-Anzeiger einige Archive durchforscht, um das Sozialpolitische des 1. Mai an Hand unserer Stadtgeschichte darzustellen.
– Die Redaktion –
Am 1. Mai 1890 demonstrierten erstmals deutsche Arbeiter zusammen mit ihren Klassengenossen in Europa und den Vereinigten Staaten für den 8-Stunden-Tag, das Verbot der Kinderarbeit und die Abschaffung der schweren körperlichen Arbeit für Frauen. Euskirchener Zeitungen und Archivunterlagen beweisen, dass dieser universale Appell in unserer Kreisstadt ungehört blieb. Eine Arbeiterorganisation war noch unbekannt. Dass allerdings am Ende des 19. Jahrhunderts Euskirchener Tagelöhner und Arbeiter den 1. Mai mit Schnaps zünftig begossen und am Veybach den wohlhabenden Mitbürgern Anlass zur Klage gaben, ist überliefert.
Da der 1. Mai selten auf einen Sonntag fiel, galt er stets als Arbeitstag. Ärmere Arbeiter konnten sich einen Ausfall nicht leisten. Beinahe provokativ eröffnete zum Beispiel pünktlich zum 1. Mai 1903 der neu erbaute Schlachthof der Stadt Euskirchen seinen Betrieb, und alle mussten natürlich arbeiten.
Die Euskirchener Zeitung berichtete einen Tag später, dass mit Monatsbeginn „das erste Blut in dem neuen Hause der Herr Metzgermeister Hubert Lückerath vergossen hat, indem er eine fette Kuh zunftgerechterweise zu Suppenfleisch und Braten präparierte“.
Erst nach der Jahrhundertwende sind in den Euskirchener Archiven Aktivitäten der Gewerkschaften festzustellen. Für die Stadthistorie ist eine Notiz des Euskirchener Volksblattes vom 12.10.1904 wichtig, ist doch seit 1905 mit Umzügen und Demonstrationen zum 1. Mai zu rechnen: „Aus Arbeiterkreisen wird uns geschrieben: Die hiesige Arbeiterschaft wird in steigendem Maße von den Gewerkschaften aller Art fortgesetzt bearbeitet, um sie für die Mitgliedschaft derselben zu gewinnen. Unbefangene Beobachter konstatieren hierbei ein gewaltiges Anwachsen der Arbeiterorganisationen in unserer sonst als indifferent verschrienen Stadt.“
Am 1. Mai 1905 wurde in Euskirchen die kürzere Arbeitszeit propagiert. Die organisierten Arbeiter bei den Firmen G. Weber Söhne und C. & H. Weber hatten Ende April deswegen gestreikt. Demzufolge kündigten „die hiesigen Tuchfabriken mit Ausnahme der Firmen Gebr. Kleinertz und Jakob Heimbach sämtlichen organisierten Arbeitern, christlichen wie freien". Am 3. Mai 1905 diffamierte die Euskirchener Zeitung die Haltung der Gewerkschafter: „Wenn die anständigen Arbeiter dieser Firmen nicht bis Dienstag die Bedingungen ihrer Arbeitgeber angenommen haben, so tritt diese Aussperrung in Kraft. Die Arbeiter haben, wie wir hören, daraufhin ihre ursprünglichen Ansprüche erhöht und wollen alles daransetzen, dieselben zur Geltung zu bringen.“
„Nicht schuld"
Sicherlich gewerkschaftlich motiviert waren die Streiks Euskirchener Arbeiter im Jahre 1906. Mitte Juli hatte der Lokalvorstand des christlichen Textilarbeiter-Verbandes seine Mitglieder zu einer öffentlichen Versammlung geladen, „... in welcher über die Lohnbewegung in den Euskirchener Uniformtuch-Fabriken eine Aussprache erzielt werden sollte“. Zusammenfassend erkannte die Versammlung an, dass „die Ausständigen an diesem Kampf nicht schuld sind, indem dieselben bereit waren, auf einen Teil ihrer Forderungen zu verzichten und über die noch schwebenden Differenzen die Einsetzung eines Schiedsgerichtes zu beantragen (…)“.
Streiks und spätere gerichtliche Streitigkeiten hatten die Former der Stolleschen Eisengießerei durchzumachen, wie die Euskirchener Volkszeitung am 26.7.1906 detailliert berichtete. Die konkurrierende Euskirchener Zeitung wusste am 13.10.1906 über den Streik in der Euskirchener Tuchindustrie zu informieren, der (…) sowie eine Lohnerhöhung bewirkt hatte.
Umzug mit Schalmeienkapelle
Im Jahre 1919 wurde der 8-Stunden-Tag endlich Wirklichkeit. Dennoch interpretierte man den 1. Mai in den politischen Wirren der Weimarer Zeit verschieden. Während sich in den Großstädten Kommunisten und Sozialdemokraten politisch auseinanderlebten und bekämpften, konnte Ende der 20er Jahre der Tag der Arbeit in Euskirchen gemeinsam mit einem Umzug gestaltet werden. Unterstützt von einer lautstarken Schalmeienkapelle zogen Kommunisten und Sozialdemokraten durch die Wilhelmstraße und Kölner Straße. Einige Transparente wurden mitgeführt. Groß wird der Umzug wohl nicht gewesen sein, denn die meisten Aktiven waren in der Tuchfabrik Schiffmann an der Gansweide beschäftigt und wollten nicht die Sympathien des patriarchalischen Fabrikbesitzers verlieren.
Am 1. Mai 1927 gab es einen anderen Grund zu feiern: Der zur ersten Besatzungszone gehörende Stadtteil Kessenich wurde von den Franzosen geräumt, nachdem auf den Einspruch des Bürgermeisters Disse hin eine neue Grenzfestsetzung erfolgt war.
Zu den üblichen Maifeiern alten Stils kam es nach der „Machtergreifung“ Hitlers nicht mehr. Antigewerkschaftliche Äußerungen wurden auch am „Tage der erwachenden Nation" geäußert, über den die Euskirchener Zeitung am 4. März 1933 in Propagandaform berichtete. Am 6. März 1933 wurde der Vorsitzende der Euskirchener Sozialdemokraten, Eduard Göring – der spätere Ehrenbürger der Stadt Euskirchen –, ins Rathaus zitiert und in der Polizeiwache inhaftiert. Erst am 10. April 1933 wurde er ohne Kommentar wieder entlassen.
Aktivitäten für eine Demonstration zum 1. Mai gab es keine mehr. Der 21. März 1933 hatte auch den Euskirchenern klargemacht, wie die Nationalsozialisten über Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Kommunisten dachten. Dieser „Tag nationaler Hochstimmung“ endete auf dem Euskirchener Marktplatz mit der Verbrennung. „(…) der Banner mit Hammer und Sichel Moskauer Prägung, der Sozialdemokratie und der Fahnen Schwarz-Rot-Gold ...“
Die Gewerkschaften hatten sich vergeblich darum bemüht, sich dem neuen Regime gegenüber einigermaßen neutral zu verhalten. Die Nationalsozialisten machten den 1. Mai auch in unserer Gegend als „Tag der nationalen Arbeit“ zum bezahlten Feiertag. Am Tage darauf stürmten SS und SA die Gewerkschaftshäuser, „beschlagnahmten das Vermögen der Gewerkschaften und verhafteten deren Führer. Arbeitgeber und Arbeitnehmer mussten künftig der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) angehören, die schließlich fast die Hälfte der Bevölkerung umfasste. Manchen Euskirchenern wird das 1938 neubezogene Dienstgebäude der „Deutschen Arbeitsfront" auf der Wilhelmstraße noch in Erinnerung sein.
Der Gesamttenor des „Nationalen Feiertags des Deutschen Volkes" wird in einem Aufruf des Euskirchener Volksblattes vom 30. April 1936 deutlich: „(…) In den Jahrzehnten der Vergangenheit war der 1. Mai Lostag des Volkes, an dem es den einkehrenden Frühling begrüßte, die Auferstehung der Natur feierte. Jetzt begehen wir im 1. Mai eine zweifache Auferstehung, die der Natur und die des Deutschen Menschen (…). Ein von der Stadt Münstereifel gestifteter stattlicher Maibaum wird auf der Erftwiese feierlich aufgerichtet."
Am Vorabend des 1. Mai wurde unter Beteiligung der Euskirchener Bevölkerung und der Jugend auf der Festwiese an der Erftbrücke der erwähnte Maibaum aufgestellt. Die Feier wurde umrahmt von Musikdarbietungen des Euskirchener Harmonievereins, von dem Maiansingen der Gesangvereine und den Tanzspielen und dem Singen der Hitlerjugend, des Jungvolkes und des BDM (…).
Der 1. Mai, der „Tag der nationalen Arbeit", begann (…) auf der Euskirchener Erftwiese.
Besonderer Hinweis des Euskirchener Volksblattes: „Der 1. Mai ist das Fest des deutschen Arbeiters! Alle Volksgenossen aus Stadt und Kreis Euskirchen nehmen an den Veranstaltungen teil. Grünschmuck und Beflaggung der Wohnhäuser und öffentlichen Gebäude ist selbstverständlich!"
Der 1. Mai 1940 konfrontierte Euskirchen erstmals direkt mit dem Kriegsgeschehen. Alte Euskirchener erinnern sich noch an die Vorbereitungen der Deutschen Wehrmacht, als diese durch die Kreisstadt zur Grenze marschierte. Die Schlagzeile der Lokalausgabe des Westdeutschen Beobachters vom 1./2.Mai 1940 lautet: „Des Führers Dank an unsere Helden" (Sieg in Norwegen) und „Nationaler Feiertag des deutschen Volkes" (einschließlich eines Aufrufs von Dr. Robert Ley). Wenige Tage später, am Donnerstag, dem 9. Mai, zogen abends stundenlang Truppen durch Euskirchen, und am 10. Mai folgten Flugzeuggeschwader. Holland, Belgien und auch Luxemburg befanden sich im Kriege!
Mit Kriegsende war es auch mit der „Arbeitsfront" vorbei. Unter Mitarbeit der Alliierten entstanden wieder freie Arbeitnehmer-Organisationen. Aus dem „Tag der Nationalen Arbeit“ wurde per Gesetz der „Tag der Arbeit". Im Oktober 1945 war Eduard Göring der erste, der sich „um die Neugründung der Euskirchener SPD kümmerte“. Im gleichen Monat trat er – in einer vom Rundfunk übertragenen Rede – gegen eine Koalition mit Kommunisten ein.
1946 wurden Maifeiern noch improvisiert, später wieder offiziell gefeiert. Friedenspläne, Mitbestimmung und weitere Arbeitserleichterungen stehen seitdem im Vordergrund.
Mit dem Wirtschaftswunder scheint die Begeisterung für den „Kampftag“ 1. Mai vorbei zu sein. Kundgebungen werden von Jahr zu Jahr schwächer besucht. Dafür werden vielerorts alte Maibräuche neu entdeckt.