Vor einigen Tagen stieß man in Euskirchen bei Abrissarbeiten am Viehplätzchen auf Reste des Rüdesheimer Stadttores. Dass man sehr wahrscheinlich die Relikte der Fundamente finden würde, war für die Stadthistoriker nicht unbedingt eine Überraschung, weckte aber doch das Interesse der Passanten und Zeitungsleser. Immer, wenn in dem jeweiligen Areal Bauarbeiten stattfanden, fand man auch schon früher Reste der Stadtmauer oder Relikte des Kessenicher, Disternicher oder Rüdesheimer Tores. Sie gehörten einst zur Euskirchener Stadtmauer und einem wichtigen Bollwerk. Einleitend sei angemerkt, dass der sogenannte „Rüdesheimer Gutshof“, 1217 erstmals urkundlich erfasst, sich zu einem kleinen Dorf entwickelt hatte, das sich mit den Dörfern Disternich, Kessenich und Euskirchen zusammenschloss und 1302 durch den Landesherrn zur Stadt erhoben wurde. Die Rüdesheimer zogen alsbald nach Fertigstellung der Stadtmauern nach und nach in die befestigte Stadt. Sie gaben aber auch innerhalb der Stadt ihren Zusammenschluss nicht auf. Sie bewohnten das Viertel um die heutige Kapellenstraße.
Auch in den 1920er Jahren war das Interesse an den Bauarbeiten in der Kessenicher Straße groß, denn am Standort des ehemaligen Kessenicher Tores wurde am westlich gelegenen Rand der Straße das gut erhaltene Fundament sichtbar, auf dem einst der Mauerzug der Brustwehr verlief. Der Euskirchener Josef Frenz hielt die „Kessenicher Pforte“ in einer Zeichnung fest.
Der Euskirchener Heimatforscher und Mundartdichter Theodor Niessen (1877-1967) erinnerte sich daran, dass man bei der Errichtung des damaligen Hauses Nr. 34 bei den Ausschachtungsarbeiten auf das mit Trass vermauerte Fundament des östlichen Rundturmes vom Vortor stieß, dessen Mittelpunkt sich in den Kellerräumen der Häuser Nr. 34 und 32 befand. Niessen fasste später zusammen:
Eine Messung vom Mittelpunkt des Rundturmes bis zu der noch stehenden Stadtmauer ergab 24,65 m. Die Gesamtlänge des Tores betrug demnach etwa 29 m. Das Fundament des westlichen Vortorturmes liegt am Rande der Fahrbahn in Verbindung mit dem Fundament der Brustwehrmauer. Der rechteckige Innenturm war flankiert von der Stadtmauer. Die Stadtchronik bestätigt im Jahre 1840, dass das Kessenicher Tor und das Rüdesheimer Tor nicht unbedingt baufällig waren. Im Monat März 1842 wurden diese beiden Tore auf Abbruch verkauft.
Wenn auch das Aussehen des Rüdesheimer Stadttores bald in Vergessenheit geriet, so konnte man doch 1950/51 auf eine kunstgerechte Zeichnung der alten Euskirchener Familie Frenz zurückgreifen. Die Nachfahren bewahrten eine Nachbildung sorgsam auf, deren Original in der Königskette der alten Sebastianus-Bruderschaft zu sehen ist. Somit kennt man heute das Aussehen des Rüdesheimer Stadttores, von wo aus die Landstraße nach Kommern führte.
Wie aus der Darstellung und weiteren Unterlagen hervorgeht, bestand das Rüdesheimer Tor aus dem quadratischen mächtigen Innenturm, der von den Stadtmauern flankiert wurde. An diesem Turm schließt sich, wie bei dem Kessenicher Tor, die Brustwehr bis zum rechteckigen niedrigen Vortor-Turm an.
Derselbe ist mit Schießschachten oder sogenannten „Windbergen“ versehen. Hier befinden sich auch die kleinen runden Erker-Wachthäuschen an den vorderen Ecken über dem Eingang dieses anders gearteten Vortores. Die steinerne Weiherbrücke reicht bis an die Mauer des gotischen Durchganges. In älterer Zeit lag zwischen Eingangstor und Brücke ein Stück des Weihers offen, das von der herabgelassenen Zugbrücke überdeckt wurde. Bei näherer Betrachtung der drei historischen Stadttore kann man jedoch feststellen, dass nicht alle Stadttore unbedingt gleich aussahen.
Reste der Fundamente des Rüdesheimer Stadttores wurden nun im April 2012 bei Abrissarbeiten entdeckt. Archäologen des LVR-Amtes für Bodendenkmalpflege im Rheinland werden in den nächsten Wochen die Reste untersuchen und dokumentieren. Dann wird sich herausstellen, was tatsächlich zu den historischen Fundamenten und zu wesentlich jüngeren Kellergewölben einer einstigen Bierbrauerei gehört. Vgl. auch das „Stadtvezällche“ von Theodor Nießen: „Em Hasebräu“
Wer sich für die Historie der Kreisstadt Euskirchen interessiert, sollte wissen, das sich das Rüdesheimer Stadttor am ehemaligen Ferkelsmarkt (später: Viehplätzchen) befand. Der Stadthistoriker Josef Franke, einst Oberstudiendirektor des Emil-Fischer-Gymnasiums, veranschaulicht die Topographie in seiner Schrift Die Kreisstadt Euskirchen in ihrer geschichtlichen Entwicklung (S.36).
Das Buch JUDAICA – Juden in der Voreifel dokumentiert zudem, dass hier schon immer viele Euskirchener Juden wohnten, was die benachbarte „Judengasse“ (ab 1829 Bischofstraße) erklärbar macht. Auch jüdische Viehhändler und Metzger hatten in diesem Viertel eine unbestreitbare Standortpräferenz, ohne jedoch in einem typischen Ghetto zu leben. Schon seit 1349 sind Euskirchener Juden in diesem Bereich nachweisbar, und noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts hielt man in der unmittelbaren Nähe des ehemaligen Rüdesheimer Stadttores regelmäßig einen Viehmarkt ab. Daher waren in dieser Zeit entsprechende Abgaben oder Spezialzölle an der „Rüdesheimer Pforte“ zu entrichten. Zurzeit wird die Bausubstanz des „Viehplätzchens“ von der Stadt stark verändert, worüber ich auch auf meiner regionalhistorischen Homepage berichtet habe.
Die regionalhistorische Fachliteratur berichtet, dass sich vor den drei Stadttoren, denen Dornenhecken und Wassergräben vorgelagert waren, kleinere, mit Palisaden und Spanischen Reitern befestigte Erdwerke (sog. „Harmeien“) befanden. Sie sollten als Schutz gegen feindlichen Beschuss dienen.
Der Verkehr über die Weiher oder Gräben am Kessenicher, Disternicher und Rüdesheimer Tor vollzog sich in den ersten Jahrhunderten nach der Stadtwerdung nur über Zugbrücken, die durch Rollen und ein Hebelwerk hochgezogen wurden. Diese sicherten und verschlossen die Eingänge zur Stadt. Später traten an die Stelle dieser beweglichen Übergänge steinerne Bogenbrücken. Schon das Vorhandensein eines Fallgatters weist auf einen Doppelbau bei den alten Toren hin; der äußere Teil wurde durch das Fallgitter, der innere durch die beiden mit Eisen beschlagenen Holzflügel abgeschlossen. Das Gatter bestand aus langen, durch Querhölzer verbundenen und unten mit spitzen Eisenschuhen armierten Balken. Es konnte mittels Ketten und einem Hebewerk in den seitlich im Torpfeiler befindlichen Rillen auf- und abwärts bewegt werden und bildete so in der Hand des Torwächters ein furchtbares Instrument. Wehe dem eingedrungenen Feind, hinter dem das Schlosstor herunterrasselte: vom Haupttrupp abgeschnitten, wurde er im Angesicht seiner Kampfgenossen niedergemacht.
In den jüngeren Quellen ist nicht mehr von einem Gattertor die Rede, sondern häufig von „weitflügeligen Holztüren.“ So ist zum Beispiel in der Stadtrechnung von 1690/91 vom „zweiten Tor“ die Rede, und im Jahre 1702 ließ der französische Oberst La Croix die „Rüdesheimer Pforte“, also das Rüdesheimer Stadttor, verbrennen. Soweit die Ausführungen des Heimatforschers Simons.
Wenn demnächst die Archäologen des LVR-Amtes für Bodendenkmalpflege im Rheinland ihre Arbeit aufnehmen, dann werden sie vielleicht auch noch Reste der jeweiligen „Bären“ entdecken. Gemeint sind kleine, steinerne Stauwerke, die einst zur Regulierung des Wasserstandes der Gräben dienten. Noch im Jahre 1784 – etwa 70 Jahre nach der der Zerstörung des Rüdesheimer Tores durch die Franzosen – mussten die Euskirchener Pächter den fischreichen Weiher vor dem zerfallenden Baubestand kostenaufwendig sichern und auf eigene Kosten eine „Arke“ (Schleuse) einbauen. Daher verkaufte zum Beispiel die Familie Althausen in diesem Jahr einen Teil des „Teiches am Rodelberg“ an den Steuerempfänger Josef Krauthausen. Laut Urkunde waren 30 Reichstaler beim Notar zu hinterlegen.
Dass bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Rüdesheimer Stadttor militärstrategisch keine große Bedeutung mehr hatte, ist der Heimatliteratur zu entnehmen. Der kritikfreudige Dachdeckermeister Johann Friedrich Schmitt, der immer wieder dem Euskirchener Magistrat sowie dem „Oberoffizier“ und späteren Bürgermeister Peter Cremer vorwarf, die Aufsichtpflicht zu vernachlässigen, prophezeite, dass besonders das Rüdesheimer Tor schnell einzunehmen sei. Daher würde er auch selber seine Wachpflicht auf der Mauer nicht mehr ernsthaft wahrnehmen. Tatsächlich drangen am 8. Oktober 1702 französische Truppen unter Leitung des Kommandanten La Croix durch ein Seitentor am Rüdesheimer Tor ein, besetzten die Stadt und ließen später - auf Befehl des Kurfürsten Joseph Clemens, Erzbischof von Köln - einen Teil der Befestigungsanlagen niederreißen. Beim Eindringen der Franzosen hielt sich der Euskirchener Bürgermeister Peter Cremer desinteressiert im Kapuzinerkloster auf und nahm dort seine Abendmahlzeit ein.
Der Euskirchener Heimatforscher Peter Simons (1877-1956) publizierte im Jahre 1928 in der Beilage zum Euskirchener Volksblatt seine Auswertung spezieller Akten. Hier erfährt man u.a. interessante Details zur Geschichte des Rüdesheimer Stadttores.
Seit der Einnahme der Stadt Euskirchen (1702) und dem erzwungenen Abbau der wichtigsten Befestigungsanlagen zerfielen die Stadtmauern. Etwa ein Jahrhundert später monierte Bürgermeister Krauthausen in seiner Stadtbeschreibung von 1812 die drei „ruinösen Stadttore“, die verfallenen Pförtnerhäuschen und die „hinfällige Mauer“. Trotz gewisser Aktivitäten der preußischen Militärexperten in Berlin wurden keine größeren Reparaturen mehr vorgenommen. Im Gegenteil, die Stadtvergrößerung machte einen Abriss notwendig. Bürgermeister Boener kritisierte zudem am 24. Januar 1828 zudem, dass „in der verflossenen Nacht ein Teil der Mauer, der die Hinterfront der Gastwirtschaft von Scherffgen am Rüdesheimer Tor bilde, in einer Länge von 60 Fuß eingefallen sei. Es empfehle sich daher, die ganze Ringmauer ohne Verzug abzutragen“. Am 7. Februar 1828 wiederholte Boener seinen Antrag und suchte ihn weiter damit zu begründen, dass in verflossener Nacht am sog. „Spitzentürmchen" auf den Weiher der Witwe Krauthausen wiederum ein Teil der Mauer oberhalb des Fundaments eingestürzt sei.
Aber entgegen allen Bestrebungen der unteren Instanzen entschied sich die preußische Regierung im Einverständnisse mit den Generalkommando für die Erhaltung der alten Festungswerke, insbesondere auch des baufälligen Rüdesheimer Tores. An Landrat Bielefeld erging am 6. November 1828 daher das nachstehende Schreiben der „Kgl. Regierung Abt. des Innern, gez. v. Quer“:
In Verfolg unserer Verfügung vom 11. v. M. eröffnen wir Ihnen, daß das Königliche General-Kommando des Sten Armee Corps seine Zustimmung zum Niederreißen des dortigen nach Commern hinführenden Thors, so wie eines Theils der Stadtmauer aus militairischen Rücksichten versagt und vielmehr den Wunsch zu erkennen gegeben hat, daß die alte Befestigung von Euskirchen nach Möglichkeit erhalten werde. Sie haben die dortige Lokalbehörde mit dem Beifügen hiervon in Kenntniß zu setzen, daß demnach der Plan, für die Bezirksstraße am jenseitigen Ausgange der Stadt eine schönere Lage und angemessenere Breite zu gewinnen, aufgegeben werden und das gegenwärtige Thor und alte Mauerwerk beibehalten werden muß.
Der Heimatforscher Peter Simons setzt seine Beschreibung der immer mehr verfallenden Stadttore fort. Er betont, dass immer wieder Forderungen erhoben wurden, besonders das Rüdesheimer Stadttor niederzulegen. Er zitiert das Schreiben des Bürgermeisters Boener an Landrat Schröder vom 14. Oktober 1835:
Die beiden alten Thorthürme hierselbst, Kessenicher und Rüdesheimer Thor benannt, sind ein jedes mit 2 hölzernen, ganz zerrissenen, jedoch ziemlich stark mit Eisen beschlagenen, seit vielen Jahren ganz überflüssig gewordenen Flügelschlägen versehen. Die Bretter werden durch das arme Volk zur Nachtzeit daran abgerissen, so daß von diesen Gegenständen in kurzer Zeit nichts mehr übrig bleiben wird. Die Stadt ist ohnehin durch das successive Einstürzen der Stadtmauern und das Niederreißen der übrigen Thorthürme in Folge der Chausseebauten von allen Seiten ganz offen, und darum können auch diese zerrissenen alten Thüren nicht mehr von Nutzen sein.
Es folgen sodann die Bedingungen, unter denen auf Grund und landrätlicher Verfügung die am Kessenicher und Rüdesheimer Tor befindlichen Flügel meistbietend verkauft werden sollen:
Der Ankäufer hat die Gegenstände sofort nach Genehmigung des Protokolls von Ort und Stelle zu schaffen und dafür zu sorgen, daß das Mauerwerk an den Türmen nicht beschädigt wird. Bei der öffentlichen Versteigerung am 17. November 1835 gingen die vier Torschläge, taxiert zusammen zu 25 Taler 21 Sgr. 4 Pfg., in Besitz des Hufschmiedes Johann Heinrich Kannen über.
Nach dem Bericht des Euskirchener Bürgermeisters Wierz vom 5. August 1841 war das Rüdesheimer Tor auf der Süd- und Nordwestseite inzwischen sehr verfallen:
Es ist derart von unten ein- und durchgerissen, daß in kurzer Zeit die Niedserlegung desselben unerläßlich wird, zumal auch das Gewölbe dieses Thurmes schadhaft ist. Hat man in Rheinbach, Brühl und anderen Orten ähnliche Thore und Mauerüberreste niedergelegt und veräußert, so glaube ich, daß eine gleiche Maßregel hierorts umso mehr wird eintreten müssen, weil die Sicherheit für Personen und Eigenthum sehr gefährdet ist und die ganz morschen, alten Mauerreste wenig oder gar keine Vertheidigungsfähigkeit der Stadt Euskirchen im Kriege darstellen.
Am 22. Oktober 1841 erfolgte die Genehmigung der Regierung zum Abbruch nicht nur des Rüdesheimer Stadttores, sondern gleichzeitig auch der „Kessenicher Pforte“. Der Heimatforscher Peter Simons konstatiert aufgrund der damals noch im Stadtarchiv lagernden Akten das weitere Vorgehen der Stadtverwaltung und eine entsprechende Ausschreibung. Der Gemeinderat von Euskirchen stellte am 25. Februar 1842 lautet Artikel 13folgende Verkaufsbedingungen:
„Alle zum Verkauf kommenden Mauerteile müssen der Erde gleich, auf welcher sie stehen, abgebrochen werden: Vertiefungen zu machen oder auch die Fundamente auszubrechen, bleibt ausdrücklich untersagt(...).
Der Verkauf des Rüdesheimer (...) Stadttores fand am 5. März 1842 statt und brachte 75 Taler ein, worauf in den nächsten Monaten die Niederlegung erfolgte. Noch im Jahre 1928 waren Reste vom Rüdesheimer Tor am Anfang der Bendenstraße – also am Anfang des Viehplätzchens – gut sichtbar. Es bleibt somit abzuwarten, was die Archäologen jetzt im Frühjahr 2012 noch von der „Rüdesheimer Pforte“ finden.