Der weiße Fleck hat schon viel Farbe –
Der Regionalhistoriker Hans-Dieter Arntz

von Jens P. Dorner
Kölnische Rundschau, Spektrum vom 3.-4. Juni 1989

arntzAls Fachmann für die jüngere Lokal- und Regionalgeschichte hat sich der Euskirchener Hans-Dieter Arntz (47) einen Namen gemacht. Wann und wo immer Fragen zum Dritten Reich, zur Judenverfolgung und zum II. Weltkrieg im Gebiet zwischen Rheinland und Belgien gestellt werden – Lehrer Arntz weiß eine Antwort.

Der Pauker hat die Lampe an. Längst liegt das Voreifeldorf Rheder in tiefem Schlaf. Nur unterm Dach an der Hasenhecke 16 brennt noch immer Licht.

Regelmäßig und in manchen Wochen Nacht für Nacht sitzt der Gymnasiallehrer H.-Dieter Arntz am Schreibtisch. Meist liest er. Oft tippt er. Ab und zu verschwindet er im Archiv.

Arntz, Lehrer am Euskirchener Gymnasium Marienschule und studierter Sozialwissenschaftler, beendet sein Buch: „Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet“. Und für Aufregung sorgen:


Nachtarbeiter ist auf Fakten versessen

Detailliert beschreibt der Autor den letzten Ausweg rheinischer Juden nach den NS-Pogromen am Vorabend des Krieges, die „grüne" Grenze nach Belgien. Vor allem aber analysiert der faktenversessene Nachtarbeiter – „Wenn Sie so wollen, bin ich ein Korinthenkacker" – das oft tragische, meist erbärmliche Verhältnis zwischen den Flüchtlingen und ihren Fluchthelfern. Geld, Schmuck, Wertsachen, finanzielle Bereicherung ziehen sich wie ein roter Faden durch die Sammelordner.

Die Leser mögen über seine Bücher eifern. Der Verfasser beschränkt sich auf die Darstellung jederzeit nachprüfbarer Erkenntnisse: „Natürlich habe ich eine Meinung. Aber zwischen den originären Quellen hat sie nichts verloren."

Wie wird ein 1941 in Königsberg geborener Ostpreuße zum Eifelspezialisten? „Nun, zum einen verbrachte ich schon meine Jugendzeit im Rheinland." Und zum anderen? „Ein weißer Fleck ist schuld. Den bemerkte ich wie viele Altersgenossen als Schüler: Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg waren tabu. Je näher wir unserer Vergangenheit kamen, desto spärlicher fließen die Informationen."

Viele Jahre später begann Arntz mit eigenen Forschungen. Für die Stadt Euskirchen schrieb er 1973 den Beitrag „Die Entwicklung des Euskirchener Schulwesens unter besonderer Berücksichtigung der Industrialisierung." Dabei entdeckte er in örtlichen Archiven den fast vergessenen Euskirchener Nobelpreisträger Emil Fischer und zahlreiche Zeugnisse für ein Zentrum der Tuchindustrie: „23 Länder kauften ihre Uniformstoffe in Euskirchen."

Außerdem aber fand er eine Akte über das Schicksal von Juden im Nachbardorf Kuchenheim. Ergänzt um den ebenfalls archivierten „Westdeutschen Beobachter" mit seinem diffamierenden „Judenspiegel" weckte die Akte den Spürsinn des Euskirchener Lehrers. „Zuerst wollte ich nur ein Heftchen zum Thema. Euskirchener Juden im Dritten Reich "zusammenstellen."

Mit den Recherchen jedoch – und einer Serie in der „Kölnischen Rundschau" – wuchsen die Dimensionen. Nach und nach knüpfte Arntz Kontakte mit 200 jüdischen, in der ganzen Welt verstreuten Eifelfamilien.

Das Ergebnis geriet zur Pioniertat. Zum ersten Mal wurde die NS-Geschichte von „Juden auf dem Lande“ veröffentlicht. Mittlerweile ist das Buch „Judaica" (Kümpel Verlag, 539 Seiten, 65 Mark) in der dritten Auflage erschienen.

Ein aufschlussreiches, unbequemes Werk, von dem die anfänglich interessierten Stadtväter vorübergehend nichts wissen wollten. Auch die Arntz-Initiative für ein Mahnmal stieß nicht auf Begeisterung.

Mittlerweile steht es. Protestant Arntz erhielt jüdische Ehrungen und das Bundesverdienstkreuz. Im Rückblick meint er, „dass mich gerade die Negativreklame der kommunalen Politiker in die Presse und die Öffentlichkeit brachten".

Heute könne diesbezüglich kaum noch eine Lokalgröße auf den historisch gebildeten Lehrer verzichten. „Den einen diene ich als Feigenblatt zur Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergan¬genheit. Den anderen bin ich eine Informationsquelle."

Anrufe auch aus Übersee

Auch international wurde der forschende Pädagoge populär. In Amerika etwa braucht er keine Suchanzeigen nach Überlebenden des Holocaust mehr zu bezahlen. Unterstützt von jüdischen Organisationen, erreichen ihn immer wieder überraschende Anrufe. „Da liegt man dann in der Badewanne, und plötzlich meldet sich ein Zeitzeuge aus Übersee."

Die Geschichte der Juden aber ist nur ein Forschungsansatz. Mit ebenso viel Engagement untersucht Arntz weitere NS-Bereiche. Zum Schicksal der „arischen Bevölkerung“ erschien sein Buch „Kriegsende 1944/1945. Zwischen Ardennen und Rhein" (Kümpel Verlag, 700 Seiten, 49 Mark). Dazu lieferte ihm die US-Regierung Fotos von Kriegsberichterstattern. Einige sind hier zu sehen.

Das Zustandekommen von NS-Eliten behandelt das Arntz-Buch „Ordensburg Vogelsang 1934-1945. Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich" (Kümpel Verlag, 260 Seiten, 23,80 Mark).

Anfeindungen hat der Autor nicht mehr erfahren. Ihn freut, dass auch die folgenden Bücher von jüdischer Seite begrüßt wurden. „Man wusste, dass ich den ehemaligen Gauleiter Köln/Aachen, Josef Grohé, und Hitlers Chefpiloten Baur interviewt habe. Selbst diese lobten meine Objektivität."

Sich über eine Zeit zu unterhalten und ein Buch darüber zu schreiben, sind zwei Dinge. Wie geht ein Regionalforscher vor? Kann jeder Interessierte zum Spezialhistoriker werden?

Arntz: „Im Grunde ja. Nur sollte er einige Voraussetzungen beachten." Welche? „Ganz wichtig ist die Archivarbeit. Alles, was schon zum Thema gesammelt wurde, dient der eigenen Sicherheit."

Sie ermögliche die exakte Zuordnung von Personen und Geschehnissen: „Wenn sich zum Beispiel ein Zeitzeuge als Widerstandskämpfer aufspielt und gleichzeitig als begeisterter Parteigänger dokumentiert wurde, ist Vorsicht geboten."

Das Wichtigste für einen Forscher sei ohnehin der direkte Umgang mit seinen Geschichtsquellen, in diesem Falle mit Zeitzeugen. Im Zuge der mündlichen Geschichtsüberlieferung, der sogenannten „oral history", hat Arntz mehr als 700 Eifelbewohner befragt. Fast nur ältere, denn „für meine Forschung interessant ist nur, wer 1933 mindestens schon 14 Jahre alt war".

Für Arntz sind Besuche bei bis dato wildfremden Menschen „das Salz in der Suppe", aber auch rechtschaffene Arbeit „Oft dauert es Stunden, bis der Gesprächspartner zum Kern der Sache vordringt. Froh über einen geduldigen Zuhörer, möchte er vorab sein ganzes sonstiges Leben erzählen."

Je höher die Eifel, so weiß Arntz inzwischen, desto weniger Zeitzeugen kommen in Frage, desto besser kennt man seine Nachbarn, desto schwerer fallen detaillierte Auskünfte. Der Forscher versteht das: „Im Gegensatz zum Besucher müssen die Befragten ja noch viele Jahre hier wohnen."

Ein Glücksfall sei der oft gehörte Satz: „Ich geh' mal eben nach nebenan." Dann nämlich suche der Befragte selbst nach zeitkundigen Nachbarn. „Die werden nicht von mir, sondern von einer Vertrauensperson befragt. Man erfährt viel mehr."

Fand er den typischen Eifeler der NS-Zeit? Arntz nach einigem Zögern: „Bei jeder Beschäftigung mit der Eifel muß man wissen, dass die Region fast bis zur Gegenwart das Armenhaus, das Sibirien Deutschlands war. Der Eifeler ist weniger geschichts- als schollenbewußt. Im angeblich tausendjährigen Reich sah er die Möglichkeit des Broterwerbs an Ort und Stelle. Ein Beispiel ist der Bau der Ordensburg Vogelsang: 700 bis 1000 Männer brauchten nicht mehr im Rheintal zu arbeiten, sondern konnten da¬heim schaffen. Alles andere war zweitrangig."

Arntz lernte viele Bauarbeiter kennen. Was ihn bekümmert, ist weniger die damalige als die heutige Jugend. Immer öfter stelle er bei seinen Besuchen in ganz normalen Familien, aber auch in der Schule ein fatales Interesse am Ideengut der NS-Zeit fest. „Die Kinder und Enkel von Zeitzeugen, viele Schüler der oberen Klassen, sehen eine ultrakonservative Politik als Lösung für aktuelle Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Eingliederung von Aussiedlern und Asylanten."

Seine pädagogische Hauptaufgabe sei es, diesem „meist einfach dummen Geschwätz" entgegenzuwirken. Wie vermutlich kein zweiter kennt Arntz die Gefahren von politischem Gruppenzwang und gesellschaftlicher Anpassung in der Provinz. Selbstkritisch möchte er nicht darauf wetten, dass er sich seinerzeit anders als die Mehrheit verhalten hätte; „schon gar nicht als Beamter".

Mit Büchern kein Geld verdient

Für ihn zähle nicht die finanzielle Seite seiner Bücher: „Letztlich steckt man ja doch immer nur wieder Geld rein."

Weit wichtiger sei der zwischenmenschliche Gewinn. Er könne nicht bestätigen, dass Schreiben einsam mache. Bei Vorträgen mit bis zu sechshundert Zuhörern dürfe er sein Wissen vermitteln. Immer wieder würden ihm Adressen von neuen Interviewpartnern zugesteckt. Dazu kämen die internationale Korrespondenz, der Disput mit anderen Forschern, das Zusammenführen von über Jahrzehnte getrennten Familien, der tägliche Unterricht mit praktischen Beispielen...

Lediglich wenn es heißt, dass eben nur ein Lehrer soviel Zeit und Geld einer Nebenbeschäftigung opfern könne, reagiert Arntz unwirsch: „In 23 Jahren Schuldienst habe ich noch keinen Tag gefehlt. Auch das ist jederzeit nachprüfbar."

Nach dem Grenzland-Buch plant er einen Tatsachenroman: „Isidors Briefe." 200 Briefe schickte eine geflüchtete jüdische Familie aus Euskirchen zwischen 1936 und 1942 auf Umwegen und kodiert an die Daheimgebliebenen. Die letzte Karte stammte aus dem KZ Theresienstadt.

Ein anderes Thema wären die Gerüchte über die NS-Zeit auf belgischer Seite. Was versteckt sich hinter der „treudeutschen Front" in und um Eupen? Waren die Belgier zwischen 1933 und 1940 tatsächlich schon fanatische Nazis?

Der Pauker hat noch oft die Lampe an.

 

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