Nach den Novemberpogromen von 1938 gab es für viele Kölner Juden nur noch ein Schlupfloch in die Freiheit: die „grüne Grenze" zu Belgien. Der Euskirchener Sozialwissenschaftler Hans-Dieter Arntz hat für sein neuestes Buch mehrere Jahre über die Fluchtaktionen, die Fluchthelfer und die Flüchtenden recherchiert. Zu großen Teilen wieder kein rühmliches Kapitel in den deutsch-jüdischen Beziehungen.
Die Szene war ebenso gespenstisch wie aberwitzig. Erich Cohn und seine Frau hatten leichte Straßenkleider gewählt und dazu passend dünnes Schuhwerk. Schon nach wenigen Metern konnte der Aufzug Nässe und Kälte keinen Widerstand mehr leisten, und die Cohns hatten das Gefühl, unbekleidet sich durch Morast und Gestrüpp zu kämpfen. Vollends absurden Anstrich verlieh der Unternehmung zudem ein schwarzes Handtäschen, an das Frau Cohn sich zitternd klammerte.
Ein Bauer hatte die Eheleute gegen zwei Uhr in der Früh mit seinem Pferdefuhrwerk zum vereinbarten Treffpunkt im deutsch-belgischen Grenzgebiet gebracht. Nahe der Miescheider Höhe waren die beiden dann kurze Zeit später von einem sogenannten „Judentreiber", einem Fluchthelfer, in Empfang genommen worden. Es war Anfang Februar 1939, bitterkalt, und sich in diesem Gelände einen Weg in die Freiheit zu bahnen, hieß die Strapazen eines winterlichen Gewaltmarsches auf sich zu nehmen. Dass die Cohns es an entsprechender Ausstattung fehlen ließen, hatte rein taktische Gründe: wäre man nämlich den deutschen Grenzpatrouillen in die Hände gefallen, hätte man mit Hinweis auf den wenig geländetauglichen Aufzug eine Geschichte vom unglücklichen Ausgang des Nachmittagsspaziergangs an den Mann zu bringen versucht. Nach einer halben Stunde, so wollte Herr Cohn erläutern, habe man im unübersichtlichen Gelände die Orientierung verloren, und das Beinevertreten sei schließlich in einen zermürbenden Nachtmarsch ausgeartet. Er, würde dann der „Judentreiber" sich einmischen, habe die Hilferufe der beiden Städter vernommen und wolle ihnen nun den rechten Weg weisen.
Die Sache war leicht zu durchschauen, zumal für Beamte im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Der Kreis Euskirchen, insbesondere das Gelände zwischen Losheim und Monschau, war den Behörden als Schlupfloch hinlänglich bekannt. Und weil seit den Pogromen vom November 1938 eine regelrechte Fluchtwelle eingesetzt hatte, waren die Grenzkontrollen sowohl auf deutscher als auch auf belgischer Seite extrem verschärft worden. Um die Flut der illegalen Einwanderungen zu stoppen, hatten die belgischen Behörden spezielle Gendarmen eingesetzt. Diese mit schweren Motorrädern und einer martialisch schillernden Kluft ausgestatteten Männer fuhren entlang der „grünen Grenze" Streife und wurden allgemein als „Judenfänger" bezeichnet. Auch die Bevölkerung sollte die Flucht deutscher Juden unterbinden helfen. Die Nazis, erzählen Überlebende, hätten Prämien für jeden abgelieferten Flüchtling gezahlt.
Das
Ehepaar Cohn hatte Glück. Nach nahezu vier Stunden und reichlich
Strapazen erreichten die beiden Kölner Juden schließlich unbeschadet
das erste Ziel jenseits der Grenze, einen kleinen Bauernhof nördlich
von Weywertz. Mit einem Taxi ging es dann weiter nach Lüttich, d.h.
endgültig in Sicherheit. Und dort waren dann auch die vorerst letzten
Formalitäten zu regeln: Herbert Israel Cohn zahlte die restlichen
500 von insgesamt 1000 RM Fluchthelferlohn, und er bekam seine persönliche
Habe, Familienschmuck, Geldwerte, die auf anderen Wegen Lüttich erreicht
hatte, ausgehändigt.
So wie das Ehepaar Cohn suchten nach den Novemberpogromen viele Juden
aus dem Ruhrgebiet und dem Rheinland über die „grüne Grenze"
zu Belgien oder Holland den Weg in die Freiheit, und längst nicht
allen erging es wohl wie diesen.
Der Euskirchener Sachbuchautor und Sozialwissenschaftler Hans-Dieter Arntz, 46, trägt zur Zeit umfangreiches Material zusammen, um ein weiteres zu großen Teilen düsteres Kapitel in den deutsch-jüdischen Beziehungen auszuleuchten; sein vorläufiges Fazit über die Motive der Fluchthelfer, Juden ins benachbarte Ausland zu schleusen: „In den meisten Fällen wollte man an den Flüchtenden verdienen, nur ca. 20% der Helfer handelten nicht aus Eigennutz." Das hat Arntz die Recherche nicht unbedingt erleichtert. Weil sich kaum jemand der Beteiligten seiner Taten rühmen mochte, brauchte es viel Geduld und Einfühlungsvermögen, um ihnen die entsprechenden Informationen zu entlocken. Hans-Dieter Arntz hat indes einige Übung darin. Seit ungefähr zehn Jahren beschäftigt er sich systematisch mit der Erforschung der Lebensbedingungen von Juden auf dem platten Land. Eine Thematik, über die man dort, insbesondere mit Blick auf eigenes Vergehen zu Zeiten der Nazi-Herrschaft, lieber den Mantel des Schweigens hüllt. Doch der Autor mochte sich nicht ausschließlich auf Archivmaterial stützen. Für seine bislang bedeutendste Studie, „Judaica. Juden in der Voreifel" (1983), reiste er jahrelang von Dorf zu Dorf, um neben Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Photoalben etc. auch die persönlichen Aussagen von Zeitzeugen einzusammeln. Eine mühsame Angele¬genheit, die gleichwohl Arntz' Gespür für die rechte Herangehensweise ständig zu schärfen vermochte.
Wer im Dreck wühlt, macht sich wenig Freunde. Als Arntz 1983 genug Material für das Buch „Judaica" zusammengetragen hatte, blieb ihm offizielle Unterstützung durch die Stadt Euskirchen versagt. Der Autor wäre wohl auf seinem Manuskript sitzen geblieben, wenn nicht die Medien den Fall öffentlich verhandelt hätten. „Judaica" geht mittlerweile in die vierte Auflage, die Studie gab den Anstoß zu Wiedersehensfeiern und Familienzusammenführungen; Hans-Dieter Arntz wurde mehrfach durch den Staat Israel geehrt und bekam 1985 auf Vorschlag von Ministerpräsident Rau das Bundesverdienstkreuz verliehen. Die Euskirchener Honorartioren sind seither gut auf den Autor zu sprechen.
Und der Mann gibt keine Ruhe. Für seine neueste Studie sprach Arntz mittlerweile mit über siebzig Juden, die bis zum 10. Mai 1940, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Belgien, über die „grüne Grenze " fliehen konnten. Deren Berichte und die Aussagen der mittelbar oder direkt an den Fluchthilfeaktionen Beteiligten lassen ungefähr erahnen, unter welch tragischen und mitunter auch abenteuerlichen Umständen jüdische Bürger damals das Weite suchten.
Bis 1933 war das Eifel-Ardennen-Grenzgebiet u.a. seiner Unüberschaubarkeit wegen vor allem geeignetes Terrain für Schmuggler; daran sollte auch die Machtergreifung der Nazis nichts ändern. Es änderte sich nur die „Fracht": statt Zigaretten und Kaffee brachte man nun illegal Juden über die Grenze; für die Schmuggler machte das kaum einen Unterschied, Risiko und Auf-wand waren etwas größer, der Erlös indes beträchtlich. 500 bis 1000 RM hatte man in der Regel für die Fluchthilfe zu zahlen, sehr oft, so Arntz, „ging aber auch der ein oder andere Edelstein oder gar der ganze Familienschmuck als Beigabe mit drauf". Zumeist unfreiwillig.
Den Nazis blieb das alles nicht lange verborgen. Bereits am 4. August 1933 meldet die „Eschweiler Zeitung": „Für den Außendienst sind im Aachener Bezirk 56 besonders geschulte SA-Männer eingesetzt worden. Dieselben tragen schwarze Uniformen und Armbinde der Zollbehörde. Ihren Anordnungen hat das Publikum ebenso Folge zu leisten wie den Zollbeamten." Und Ende desselben Monats fordert auch der Landrat in Monschau 610 SA-Männer als Grenzer an. Doch die eigenen Reihen sind nicht immer fest geschlossen. Am 24.10.1933 teilt die Staatspolizeistelle Aachen unter „unbedinger Geheimhaltung" mit, dass der „frühere Exekutivleiter des Kreisnachrichtendienstes der NSDAP in Aachen in Haft genommen und dem Richter vorgeführt worden" sei, „da er wiederholt gegen Entgelt jüdische Auswanderer, die ohne Pass waren, über die Grüne Grenze gebracht hat." Der Aufmarsch von SA-Männern diente indes wohl eher einer Demonstration guten Willens denn dem ernsthaften Versuch, die Grenzen undurchlässig zu halten. Nicht die Auswanderung der Juden nämlich stieß vorerst auf Schwierigkeiten, sondern ihre Immigration in die Nachbarstaaten. Im Ausland hatte man Quoten für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge vereinbart, und auch die Nationalsozialisten schränkten ihre Abwanderungspolitik bald in einem entscheidenden Punkt ein: wer das Land verlassen wollte, hatte sein gesamtes Vermögen dem Deutschen Reich zu überlassen. So ertrugen lieber viele die alltäglichen Schikanen und Demütigungen, als das lebenslang Erarbeitete, Ersparte in die Hände der Nazis fallen zu lassen. Erst die Novemberpogrome von 1938 markierten eine Verhaltenswende: nur die Flucht schien ein Weg, die nackte Existenz zu retten.
Zu Zeiten arger Bedrängnis machte die Nachricht vom deutsch-belgischen Grenzgebiet als dem Schlupfloch in die Freiheit schnell die Runde; und ebenso zügig ging auch der Aufbau kommerzieller Fluchthilfeorganisationen vonstatten; wer mit geräumigen Fahrzeugen in der Gegend zu tun hatte, hatte die Chance, aus der Notlage der Mitbürger nicht unwesentlich Kapital zu schlagen. Solches Zubrot ließen Lastkraftfahrer, die den Arbeitern am Westwall zulieferten, sich nicht entgehen. Insbesondere die LKW's mit Frischwassertanks waren bald zu Fluchthilfefahrzeugen umgerüstet: man füllte die Container nur zu 3/4 mit Frischwasser auf und konnte so noch ein oder zwei Flüchtende darin unterbringen. Doch diese hatten mit derlei Widrigkeiten zumeist nicht gerechnet; bei winterlichen Temperaturen und bis zum Hals durchnässt, wurden die Juden am vereinbarten Treffpunkt einem Fluchthelfer übergeben, und mindestens 20 Kilometer Gewaltmarsch hatte man dann noch hinter sich zu bringen.
Ein Marsch in die Ungewissheit zudem; kaum einer der Flüchtenden nämlich wusste, wem er sich da anvertraute. Kontakte zu Hilfsorganisationen knüpfte man für gewöhnlich in Köln, im Cafe Silberbach in der Glockengasse beispielsweise. Um indes das Einsickern von Gestapo-Spitzeln zu verhindern, wickelten die Fluchthelfer die konkrete Organisation der Unternehmung nur über Mittelsmänner und auf vielerlei Umwegen ab. Hans-Dieter Arntz: „Das war reine Vertrauenssache. Man gab sein Vermögen aus der Hand und wurde von einem Fremden durch die Dunkelheit gelotst. Da konnte allerhand passieren." Ende 1938 fand man die Leiche einer 38-jährigen Frau; sie war bis auf die Unterwäsche unbekleidet, um den Hals baumelte ein Kettchen mit Ju-denstern, Tod durch Erschlagen. Nicht das einzige Opfer der vermeintlichen Helfer. Arntz: „Man war weitab von möglichen Zeugen, die Voraussetzungen, jemanden, der auch noch illegal unterwegs war, auszurauben oder zu ermorden, waren optimal."
Das
Innere des Café Silberbach in der Glockengasse (Historisches Archiv der Stadt Köln) |
Über das Ausmaß solchen Unrechts ist heute nur schwerlich Genaueres zu erfahren; vieles wurde und wird unter den Teppich gekehrt. Das hat auch zu tun mit den besonderen Bedingungen im Grenzgebiet: man hält zusammen, diesseits und jenseits der Grenze. Nach dem 1. Weltkrieg waren Eupen, Malmedy und St. Vith an Belgien gefallen, doch bestanden weiterhin enge freundschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen über die Landesgrenze hinweg. Auch deshalb waren die Voraussetzungen für die Fluchthelfer optimal: man konnte sich zuarbeiten, und für die sogenannten „Judentreiber" waren die Risiken geringer als anderswo. Arntz: „Der Polizist oder Grenzer, der einen erwischte, war in der Regel ein Bekannter, manchmal der Schwager oder der Onkel. Da einigte man sich dann zumeist einvernehmlich."
Nicht alle indes, die halfen, waren auf Gewinn aus. Der aus Flamersheim stammende Joseph Weiß z.B. gehörte zu den wenigen rheinischen Juden, die in Form einer uneigennützigen Selbsthilfe Glaubensbrüder und deren Angehörige ins Ausland schafften. Drei Brüder seiner Mutter besaßen in Köln das renommierte Kaufhaus Michel & Co. in dem Joseph Weiß als Personalchef wirkte. Er engagierte sich in den 20er Jahren für den allmählich erwachenden Zionismus und wurde bereits 1933 von den Nazis verhaftet. Verwandte schmuggelten seine Frau und zwei Söhne über die Grenze in die Niederlande, die in den Jahren darauf sicherer Hafen vieler jüdischer Flüchtlinge wurden. Nach der Haftentlassung folgte „Jupp" Weiß seiner Familie. Im November 1938 begann er mit dem Aufbau einer Fluchthilfeorganisation und schleuste in den folgenden Jahren vor allem jüdische Kinder über die „grüne Grenze" in die Freiheit. 1944 wurde Joseph Weiß der „Judenälteste" von Bergen-Belsen; ihm verdanken wir die Mitteilung, dass im dortigen „Sternlager" ein junges Mädchen mit Namen Anne Frank umgekommen ist. Joseph Weiß überlebte und starb 1974 hochgeehrt in Israel Hans-Dieter Arntz hat in den vergangenen zwei Jahren reichlich Fluchthelfer ausfindig gemacht. Nur jene indes, die sich nicht am Menschenschmuggel bereichert haben nennt er beim Namen. Es sind nicht sehr viele.
Jupp Weiß, der "Judenälteste" von Bergen-Belsen |
Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischem Grenzgebiet von Hans-Dieter Arntz
ISBN-Nr. 3-9800787-6-0
808 Seiten sowie 360 Fotos und 170 Dokumente
44,- Euro
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