Sozio-kulturelle Voraussetzungen im 19. Jahrhundert für die
Gründung einer Euskirchener „Realschule“

von Hans-Dieter Arntz
(Ein Beitrag aus dem Jahrbuch des Kreises Euskirchen 1987, S.72-74)
16.03.2007

Als eigentlich dritter Band der Festschrift zur 650-Jahr-Feier der Kreisstadt Euskirchen sollte im Jahre 1952 die soziologische Studie der Kölner Wissenschaftlerin Renate Mayntz  „Soziale Schichtung und Sozialer Wandel in einer Industriegemeinde“ fungieren. Als Band 6 der Schriftenreihe des Unesco-Institutes für Sozialwissenschaften in Köln erschien sie 1958 im Ferdinand Enke Verlag Stuttgart. Sie analysiert u. a. die Euskirchener Sozialstruktur und die nicht unbedingt als eindeutig gleichzusetzende Sozialschichtung.

Wenn auch zur 700-Jahr-Feier die wissenschaftliche Studie hervorragend „aufgearbeitet“ und „aktualisiert“ wurde (2002) – wobei sich u. a. der Geschichtsverein des Kreises Euskirchen in Zusammenarbeit mit der Kölner Universität  verdient gemacht hat -, so muss zur Vergegenwärtigung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation der Nachkriegszeit die erste Untersuchung besonders berücksichtigt werden.  Das Kapitel 4 - „Schulbildung und Mobilität“, S.180 ff. -, in dem zum Beispiel die „Berufsgliederung der Schulbildungsgruppen“ oder die „Zusammensetzung der heutigen Berufsgruppen  und der Berufsgruppen in der Vätergeneration nach der Schulbildung“  nachgewiesen werden, kann darüber Aufschluss geben, warum es im Jahre 1950 zur Gründung der ersten Jungen-Realschule kam.

Heute gibt es zwei koedukativ geführte Realschulen in Euskirchen, die Kaplan-Kellermann-Realschule sowie die Willi-Graf-Realschule. Warum es zu dieser  Namensgebung kam, kann man in den Büchern „Kriegsende 1944/45 zwischen Ardennen und Rhein“ (S. 452 ff.) und „JUDAICA“  (S. 451) nachlesen.

Vor 170 Jahren sollte es in der aufstrebenden Industriestadt Euskirchen schon eine „Realklasse“ geben. Es sollte über 110 Jahre noch dauern, ehe es zur Gründung der ersten „Realschule“ kam. Wie sah das didaktische Konzept des damaligen Lehrers Franz  Obernier im Jahre 1837 aus?
    

Sozio-kulturelle Voraussetzungen im 19. Jahrhundert für die Gründung
einer Euskirchener „Realschule“


Ein Blick auf die Geschichte des Schulwe­sens zeigt, dass das Bildungswesen schon immer der Direktive außerpädagogischer Instanzen unterworfen war. Die „Lebens­mächte" der Wirtschaft und der Industrie, des Staates sowie der Kirchen waren bei der didaktischen Zielsetzung der jeweiligen Schulen stets mitbestimmend. Im 15. und 16. Jahrhundert erwies sich die Kirche als die das Schulwesen bestimmende Macht, im 17. und 18. Jahrhundert der Staat und im 19. und 20. Jahrhundert sind es die Wirt­schaft, die Wissenschaft und die Technik. Keine der vordem regulativen Instanzen konnten jedoch ganz zurückgedrängt wer­den.

Der Wandel und die Entwicklung eines Schulwesens gehören integrierend zu de­nen einer Bevölkerung. So kann man be­sonders am Beispiel der Stadt Euskirchen beobachten, dass die Rhythmik des Gestalt­wandels — hier der Übergang von der Agrarwirtschaft zur Industrialisierung — während der sich allmählich entwickelnden Indu­strialisierung im 19. Jahrhundert eng mit dem Kulturprozess verbunden ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich wegen der gesteigerten Tuchproduktion auch neue Schichten in der Bevölkerung bildeten, die ihrerseits eine „standesgemäße" Ausbil­dung ihrer Kinder forderten. Neu gefundene Dokumente zur Schulge­schichte der Stadt Euskirchen beweisen, dass man sich bereits 1837 Gedanken über die Errichtung einer „Realschule" machte.

Während bisher die Idee einer Realschule stets nur im Zusammenhang mit dem heutigen Emil-Fi­scher-Gymnasium und dessen Entwick­lungsgeschichte seit 1851 erwähnt wurde, beweist eine Akte aus dem Jahre 1837, dass die Bestrebun­gen zur Gründung einer „Realklasse" in Euskirchen nicht philologischer Herkunft waren, sondern ursprünglich von der Elementarschule aus­gingen.

Unter Realschule versteht man einen Schul­typ, in dem die „Realien" als didaktischer Schwerpunkt gelten. Als „Bürgerliche Er­ziehungsanstalten" wurden sie seit dem 17./18. Jahrhundert für den „durch bürgerli­che Gewerbe gemeinnützig tätigen gesitteten Bürgerstand" gefordert und als „Mittlere Schule" zwischen der Volksschule und dem Gymnasium unter utilitären Ge­sichtspunkten eingerichtet.

Dieser Schultyp sollte nun auch für die im Jahre 1837 etwa 3 000 Ein­wohner zählende Kreisstadt eine kulturelle Aufgabe übernehmen. Die Kinder aus „alten Geburtsständen und der neuen Berufs­schicht sollten zu denkenden Praktikern", zu Kaufleuten, erzogen werden. Die Real­schule war als lateinlose Form der Allge­meinbildung konzipiert, um der jungen Ge­neration ein sachliches Verständnis für die Probleme und Aufgaben der sich neu her­ausbildenden technisch-gesellschaftlichen Welt zu vermitteln.

In einer Zeit, in der die kleine Kreisstadt Euskirchen am Anfang einer ungewöhnlich schnellen Entwicklung zu einem westdeutschen Zentrum der Tuchindustrie wurde, reichte der inzwischen vergessene Oberlehrer und 1. Elementarlehrer an der Euskirchener Knabenschule Franz Obernier (1829 – 1838)  Entwürfe für die Errichtung einer „Real­klasse" ein. Er begründete seinen Plan„Regulierung des Unterrichtswesens in der Knabenschule zu Euskirchen" (Stadt­archiv Euskirchen B/ VI C 3) folgendermaßen:

Die Notwendigkeit einer gediegenen Schulbildung hat dermalen eine allgemeine Anerkennung gefunden. Den obwaltenden Zeitverhältnissen, besonders der täglich fühlbar werdenden Erschwerung des Brot­erwerbs, durch die sich stets mehrende Concurrenz der bürgerlichen Gewerbe veranlasst,  ist wohl  zunächst diese für Erziehung und Bildung erfreuliche Stimmung zu­zuschreiben.

Der Weitblick des Euskirchener Pädagogen muss heute noch bewundert werden, da er„das Bedürfnis eines gehobenen Elemen­tarunterrichtes" spürte und in seinem weit angelegten Plan die Frage stellte, .....wie dem Bedürfnis eines höheren, mehr den kommerziellen Verhältnissen Euskirchens zusagenden Unterricht am zweckmäßigsten in Berücksichtigung gezogen werden könne".

 Die zu gründende „Realklasse" mit höherer Schulbildung sollte nur für etwa 40 Schüler gedacht sein, die in zwei Abteilungen — zwecks Leistungsdifferenzierung - nach zweijähriger zusätzlicher Schulzeit mit be­sonderer Prüfung entlassen werden konn­ten. Voraussetzung sollte eine im Septem­ber stattfindende Aufnahmeprüfung sowie die Erhöhung des Schulgeldes von 3 auf 10 Silbergroschen pro Monat sein. Der Ent­wurf eines Stoffplanes nimmt auf die wirt­schaftliche Situation Euskirchens Rücksicht und betont das „bürgerliche Leben". Wenn auch die „Realklasse" nicht genehmigt wurde, so ist doch der heute vergilbte Stoffplan in vieler Hinsicht interessant:

 

A.  Religion
In 4 Stunden wöchentlich: Tiefere Befesti­gung der christkatholischen Glaubens- und Sittenlehre und christlicher Lebenswandel; anschaulich durch hehre Beispiele aus der Biblischen Geschichte etc. und häusliche Lesungen gediegener Jugendschriften aus der angelegten örtlichen Schulbibliothek, zur Weckung und Befestigung eines kind­lich religiösen Sinns.

 

B.  Rechnen
In 4 Stunden wöchentlich: weitere Anwen­dung der Verhältnislehre: Die Zins-, Rabatt-, Tara-, Gesellschafts-, Mischungs-, Münz- und Wechselrechnung mit Erläuterungen über Wechsel im bürgerlichen Verkehr.

 

C.  Formenlehre
In 1 Stunde: Punkt, Linie, Winkel, Figuren und deren Begrenzungen. Anwendung der erkannten Formen auf die in der Anschau­ung liegenden Natur- und Kunstkörper, Messen und Berechnen der Linien, Winkel, regelmäßigen Flächen in vorkommenden Fällen des bürgerlichen Lebens.

 

D.  Deutsche Sprache
In wöchentlich 4 Stunden: der erweiterte und zusammengesetzte Satz und die man­nigfachen Beziehungen der Wortarten im Rechtschreiben und Gedankenausdruck an kleinen Briefen und Aufgaben aus dem bür­gerlichen Leben. Anleitung zur kaufmänni­schen Korrespondenz und einfache Buch­haltung

 

E.  Französische Sprache
In wöchentlich 4 Stunden: Formenlehre bis zur Konjugation der unregelmäßigen Zeit­wörter und Übersetzungen ...

 

F.   Lesen
In wöchentlich 3 Stunden: Lesen mit Aus­druck an gewöhnlichen Tageblättern und vorhandenen Handschriften.

 

G.   Naturgeschichte
In wöchentlich 2 Stunden: Übersicht der 3 Naturreiche mit besonderer Berücksichti­gung der heimatlichen Gegenstände; dann Naturgeschichte der vaterländischen und fremden - „überseeischen" — Handels­produkten, deren Gebrauch und Nutzen.

 

H.  Geographie
In wöchentlich 2 Stunden: Übersicht der 5 Weltteile mit besonderer Beachtung von Europa und des Vaterlandes; Handelsgeo­graphie: Begriff, Arten, Notwendigkeit des Geschäftsverkehrs; Straßen, Kanäle, Eisen­bahnen (!! Der Verf.); die vorzüglich han­deltreibenden Nationen Europas, ihre vor­züglichsten Häfen, Handels- und Fabrik­städte.

 

I. Naturlehre
In wöchentlich 2 Stunden: die allgemeinen und besonderen Eigenschaften der Körper. Die Elemente Luft, Feuer, Wasser. Wärme­lehre von den Erscheinungen innerhalb der Atmosphäre und Andeutungen über die vor­züglichsten kosmischen Erscheinungen; Er­klärung des Barometers, Thermometers; technischer Gebrauch und Nutzen dieser im bürgerlichen Leben häufig in Betracht kommender Instrumente.

 

K.  Schönschreiben
In 3 wöchentlichen Stunden: Übungen im Nachbilden der deutschen und lateinischen kleinen und großen Buchstaben mit Be­rücksichtigung der Currentschrift.

 

L. Zeichnen
In wöchentlich 1 Stunde: Übungen im Her­stellen von Linien, Flächen, mit steter Hin­sicht auf das aus der Formenlehre Erlernte. Dann Übungen im freien Handzeichnen nach Vorlageblättern.

 

Bei einer Beurteilung dieses fast 140 Jahre alten Entwurfes sollten vier Tatsachen be­sonders ins Auge gefasst werden:


1.   Durch die Betonung des „bürgerlichen Lebens" versuchte Obernier auf die neu entstandene soziale Schicht Euskirchens hinzuweisen.


2.  Die wirtschaftliche Situation Euskir­chens sowie die Entwicklung der Stadt wurden voll berücksichtigt, denn im Stoffplan war Unterricht in Handels- u. Gewerbelehre, Buchführung, Fremdspra­che, Wirtschaftsgeographie vorgesehen


3.   Indirekt wurde der Stand des damaligen Volks­schulwesens, auf dem die „Realschule" aufbauen sollte, charakterisiert


4.   Die Bildungsidee war für eine so kleine Stadt in der Voreifel sehr beachtenswert

 

Ob Obernier 1838 Euskirchen verlassen hat, weil sein Plan keine Gegenliebe fand, ist bisher ungeklärt. 1841 wurde jedoch eine „Höhere Privatschule" gegründet, welche die oben angeführte Bildungskonzeption übernahm. Daraus entwickelte sich 1851 die „Höhere Knabenschule", das Progymnasium (1879) und schließlich das Gymna­sium (1905). In der Zeit von 1872 bis 1875 hatte Euskirchen erneut die Möglichkeit, eine Realschule zu konstituieren. Die Ent­wicklung verlief jedoch anders.
Erst am 18.4. 1950 wurde die „Realschule des Kreises und der Stadt Euskirchen" er­öffnet.

Literatur:

Arlt, Alfred, Städtisches Emil-Fischer-Gymnasium: Das kritische Jahr­zehnt in der Entwicklung der Anstalt (1870/1880), in Fest­schrift zur 650-Jahr-Feier, Euskirchen 1952,  Bd. 1, S. 203 ff.

Arntz, Hans-Dieter, Die   Entwicklung   des   Euskirchener   Schulwesens   unter Berücksichtigung der Industrialisierung (mit ausführlicher Bibliographie),  Euskirchen 1973, hrsg.  von der  Stadtver­waltung Euskirchen

Derbolav, Josef, Probleme des mittleren Bildungsweges, Hannover 1970

Engels, Willi, Die   Realschule,   in:   Festschrift   zur   650-Jahr-Feier   der Stadt Euskirchen, Bd. 1, Euskirchen 1952, S. 202/203

Obernier, Franz, Regulierung des Unterrichtswesens in der Knabenschule zu Euskirchen nach dermaligen Verhältnissen und ört­lichen Bedürfnissen (Errichtung einer Realklasse), Eus­kirchen 1837. Manuskript im Euskirchener Stadtarchiv, Nr. B VI c3

Reble, Albert, Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 1971

Renelt, Hans, Die    historische    Entwicklung    der    Euskirchener   Tuch­industrie, Euskirchen 1921

Roessler, W., Die Entstehung der Realschule innerhalb des  modernen Erziehungswesens, in: Wesen und Werden  der   Real­schule, hrsg. v. J. Derbolav, Bonn 1960

Schaller, Klaus, Schule und Leben ( Repertorien zum Hochschulstudium), Bd. 16, Hamburg 1967

Bisher ungesichtete Urkunden folgender Archive: Historisches Archiv des Erzbistums Köln, des Hauptstaatsarchivs  Düsseldorf, des Staatsarchivs Koblenz, des Kreis- und Stadtarchivs Euskirchen

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