Als eigentlich dritter Band der Festschrift zur 650-Jahr-Feier der Kreisstadt Euskirchen sollte im Jahre 1952 die soziologische Studie der Kölner Wissenschaftlerin Renate Mayntz „Soziale Schichtung und Sozialer Wandel in einer Industriegemeinde“ fungieren. Als Band 6 der Schriftenreihe des Unesco-Institutes für Sozialwissenschaften in Köln erschien sie 1958 im Ferdinand Enke Verlag Stuttgart. Sie analysiert u. a. die Euskirchener Sozialstruktur und die nicht unbedingt als eindeutig gleichzusetzende Sozialschichtung.
Wenn auch zur 700-Jahr-Feier die wissenschaftliche Studie hervorragend „aufgearbeitet“ und „aktualisiert“ wurde (2002) – wobei sich u. a. der Geschichtsverein des Kreises Euskirchen in Zusammenarbeit mit der Kölner Universität verdient gemacht hat -, so muss zur Vergegenwärtigung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation der Nachkriegszeit die erste Untersuchung besonders berücksichtigt werden. Das Kapitel 4 - „Schulbildung und Mobilität“, S.180 ff. -, in dem zum Beispiel die „Berufsgliederung der Schulbildungsgruppen“ oder die „Zusammensetzung der heutigen Berufsgruppen und der Berufsgruppen in der Vätergeneration nach der Schulbildung“ nachgewiesen werden, kann darüber Aufschluss geben, warum es im Jahre 1950 zur Gründung der ersten Jungen-Realschule kam.
Heute gibt es zwei koedukativ geführte Realschulen in Euskirchen, die Kaplan-Kellermann-Realschule sowie die Willi-Graf-Realschule. Warum es zu dieser Namensgebung kam, kann man in den Büchern „Kriegsende 1944/45 zwischen Ardennen und Rhein“ (S. 452 ff.) und „JUDAICA“ (S. 451) nachlesen.
Vor 170 Jahren sollte es in der aufstrebenden Industriestadt Euskirchen schon eine „Realklasse“ geben. Es sollte über 110 Jahre noch dauern, ehe es zur Gründung der ersten „Realschule“ kam. Wie sah das didaktische Konzept des damaligen Lehrers Franz Obernier im Jahre 1837 aus?
Sozio-kulturelle Voraussetzungen im 19. Jahrhundert für die Gründung
einer Euskirchener „Realschule“
Ein Blick auf die Geschichte des Schulwesens zeigt, dass das Bildungswesen schon immer der Direktive außerpädagogischer Instanzen unterworfen war. Die „Lebensmächte" der Wirtschaft und der Industrie, des Staates sowie der Kirchen waren bei der didaktischen Zielsetzung der jeweiligen Schulen stets mitbestimmend. Im 15. und 16. Jahrhundert erwies sich die Kirche als die das Schulwesen bestimmende Macht, im 17. und 18. Jahrhundert der Staat und im 19. und 20. Jahrhundert sind es die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Technik. Keine der vordem regulativen Instanzen konnten jedoch ganz zurückgedrängt werden.
Der Wandel und die Entwicklung eines Schulwesens gehören integrierend zu denen einer Bevölkerung. So kann man besonders am Beispiel der Stadt Euskirchen beobachten, dass die Rhythmik des Gestaltwandels — hier der Übergang von der Agrarwirtschaft zur Industrialisierung — während der sich allmählich entwickelnden Industrialisierung im 19. Jahrhundert eng mit dem Kulturprozess verbunden ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich wegen der gesteigerten Tuchproduktion auch neue Schichten in der Bevölkerung bildeten, die ihrerseits eine „standesgemäße" Ausbildung ihrer Kinder forderten. Neu gefundene Dokumente zur Schulgeschichte der Stadt Euskirchen beweisen, dass man sich bereits 1837 Gedanken über die Errichtung einer „Realschule" machte.
Während bisher die Idee einer Realschule stets nur im Zusammenhang mit dem heutigen Emil-Fischer-Gymnasium und dessen Entwicklungsgeschichte seit 1851 erwähnt wurde, beweist eine Akte aus dem Jahre 1837, dass die Bestrebungen zur Gründung einer „Realklasse" in Euskirchen nicht philologischer Herkunft waren, sondern ursprünglich von der Elementarschule ausgingen.
Unter Realschule versteht man einen Schultyp, in dem die „Realien" als didaktischer Schwerpunkt gelten. Als „Bürgerliche Erziehungsanstalten" wurden sie seit dem 17./18. Jahrhundert für den „durch bürgerliche Gewerbe gemeinnützig tätigen gesitteten Bürgerstand" gefordert und als „Mittlere Schule" zwischen der Volksschule und dem Gymnasium unter utilitären Gesichtspunkten eingerichtet.
Dieser Schultyp sollte nun auch für die im Jahre 1837 etwa 3 000 Einwohner zählende Kreisstadt eine kulturelle Aufgabe übernehmen. Die Kinder aus „alten Geburtsständen und der neuen Berufsschicht sollten zu denkenden Praktikern", zu Kaufleuten, erzogen werden. Die Realschule war als lateinlose Form der Allgemeinbildung konzipiert, um der jungen Generation ein sachliches Verständnis für die Probleme und Aufgaben der sich neu herausbildenden technisch-gesellschaftlichen Welt zu vermitteln.
In einer Zeit, in der die kleine Kreisstadt Euskirchen am Anfang einer ungewöhnlich schnellen Entwicklung zu einem westdeutschen Zentrum der Tuchindustrie wurde, reichte der inzwischen vergessene Oberlehrer und 1. Elementarlehrer an der Euskirchener Knabenschule Franz Obernier (1829 – 1838) Entwürfe für die Errichtung einer „Realklasse" ein. Er begründete seinen Plan„Regulierung des Unterrichtswesens in der Knabenschule zu Euskirchen" (Stadtarchiv Euskirchen B/ VI C 3) folgendermaßen:
Die Notwendigkeit einer gediegenen Schulbildung hat dermalen eine allgemeine Anerkennung gefunden. Den obwaltenden Zeitverhältnissen, besonders der täglich fühlbar werdenden Erschwerung des Broterwerbs, durch die sich stets mehrende Concurrenz der bürgerlichen Gewerbe veranlasst, ist wohl zunächst diese für Erziehung und Bildung erfreuliche Stimmung zuzuschreiben.
Der Weitblick des Euskirchener Pädagogen muss heute noch bewundert werden, da er„das Bedürfnis eines gehobenen Elementarunterrichtes" spürte und in seinem weit angelegten Plan die Frage stellte, .....wie dem Bedürfnis eines höheren, mehr den kommerziellen Verhältnissen Euskirchens zusagenden Unterricht am zweckmäßigsten in Berücksichtigung gezogen werden könne".
Die zu gründende „Realklasse" mit höherer Schulbildung sollte nur für etwa 40 Schüler gedacht sein, die in zwei Abteilungen — zwecks Leistungsdifferenzierung - nach zweijähriger zusätzlicher Schulzeit mit besonderer Prüfung entlassen werden konnten. Voraussetzung sollte eine im September stattfindende Aufnahmeprüfung sowie die Erhöhung des Schulgeldes von 3 auf 10 Silbergroschen pro Monat sein. Der Entwurf eines Stoffplanes nimmt auf die wirtschaftliche Situation Euskirchens Rücksicht und betont das „bürgerliche Leben". Wenn auch die „Realklasse" nicht genehmigt wurde, so ist doch der heute vergilbte Stoffplan in vieler Hinsicht interessant:
A. Religion
In 4 Stunden wöchentlich: Tiefere Befestigung der christkatholischen Glaubens- und Sittenlehre und christlicher Lebenswandel; anschaulich durch hehre Beispiele aus der Biblischen Geschichte etc. und häusliche Lesungen gediegener Jugendschriften aus der angelegten örtlichen Schulbibliothek, zur Weckung und Befestigung eines kindlich religiösen Sinns.
B. Rechnen
In 4 Stunden wöchentlich: weitere Anwendung der Verhältnislehre: Die Zins-, Rabatt-, Tara-, Gesellschafts-, Mischungs-, Münz- und Wechselrechnung mit Erläuterungen über Wechsel im bürgerlichen Verkehr.
C. Formenlehre
In 1 Stunde: Punkt, Linie, Winkel, Figuren und deren Begrenzungen. Anwendung der erkannten Formen auf die in der Anschauung liegenden Natur- und Kunstkörper, Messen und Berechnen der Linien, Winkel, regelmäßigen Flächen in vorkommenden Fällen des bürgerlichen Lebens.
D. Deutsche Sprache
In wöchentlich 4 Stunden: der erweiterte und zusammengesetzte Satz und die mannigfachen Beziehungen der Wortarten im Rechtschreiben und Gedankenausdruck an kleinen Briefen und Aufgaben aus dem bürgerlichen Leben. Anleitung zur kaufmännischen Korrespondenz und einfache Buchhaltung
E. Französische Sprache
In wöchentlich 4 Stunden: Formenlehre bis zur Konjugation der unregelmäßigen Zeitwörter und Übersetzungen ...
F. Lesen
In wöchentlich 3 Stunden: Lesen mit Ausdruck an gewöhnlichen Tageblättern und vorhandenen Handschriften.
G. Naturgeschichte
In wöchentlich 2 Stunden: Übersicht der 3 Naturreiche mit besonderer Berücksichtigung der heimatlichen Gegenstände; dann Naturgeschichte der vaterländischen und fremden - „überseeischen" — Handelsprodukten, deren Gebrauch und Nutzen.
H. Geographie
In wöchentlich 2 Stunden: Übersicht der 5 Weltteile mit besonderer Beachtung von Europa und des Vaterlandes; Handelsgeographie: Begriff, Arten, Notwendigkeit des Geschäftsverkehrs; Straßen, Kanäle, Eisenbahnen (!! Der Verf.); die vorzüglich handeltreibenden Nationen Europas, ihre vorzüglichsten Häfen, Handels- und Fabrikstädte.
I. Naturlehre
In wöchentlich 2 Stunden: die allgemeinen und besonderen Eigenschaften der Körper. Die Elemente Luft, Feuer, Wasser. Wärmelehre von den Erscheinungen innerhalb der Atmosphäre und Andeutungen über die vorzüglichsten kosmischen Erscheinungen; Erklärung des Barometers, Thermometers; technischer Gebrauch und Nutzen dieser im bürgerlichen Leben häufig in Betracht kommender Instrumente.
K. Schönschreiben
In 3 wöchentlichen Stunden: Übungen im Nachbilden der deutschen und lateinischen kleinen und großen Buchstaben mit Berücksichtigung der Currentschrift.
L. Zeichnen
In wöchentlich 1 Stunde: Übungen im Herstellen von Linien, Flächen, mit steter Hinsicht auf das aus der Formenlehre Erlernte. Dann Übungen im freien Handzeichnen nach Vorlageblättern.
Bei einer Beurteilung dieses fast 140 Jahre alten Entwurfes sollten vier Tatsachen besonders ins Auge gefasst werden:
1. Durch die Betonung des „bürgerlichen Lebens" versuchte Obernier auf die neu entstandene soziale Schicht Euskirchens hinzuweisen.
2. Die wirtschaftliche Situation Euskirchens sowie die Entwicklung der Stadt wurden voll berücksichtigt, denn im Stoffplan war Unterricht in Handels- u. Gewerbelehre, Buchführung, Fremdsprache, Wirtschaftsgeographie vorgesehen
3. Indirekt wurde der Stand des damaligen Volksschulwesens, auf dem die „Realschule" aufbauen sollte, charakterisiert
4. Die Bildungsidee war für eine so kleine Stadt in der Voreifel sehr beachtenswert
Ob Obernier 1838 Euskirchen verlassen hat, weil sein Plan keine Gegenliebe fand, ist bisher ungeklärt. 1841 wurde jedoch eine „Höhere Privatschule" gegründet, welche die oben angeführte Bildungskonzeption übernahm. Daraus entwickelte sich 1851 die „Höhere Knabenschule", das Progymnasium (1879) und schließlich das Gymnasium (1905). In der Zeit von 1872 bis 1875 hatte Euskirchen erneut die Möglichkeit, eine Realschule zu konstituieren. Die Entwicklung verlief jedoch anders.
Erst am 18.4. 1950 wurde die „Realschule des Kreises und der Stadt Euskirchen" eröffnet.
Literatur:
Arlt, Alfred, Städtisches Emil-Fischer-Gymnasium: Das kritische Jahrzehnt in der Entwicklung der Anstalt (1870/1880), in Festschrift zur 650-Jahr-Feier, Euskirchen 1952, Bd. 1, S. 203 ff.
Arntz, Hans-Dieter, Die Entwicklung des Euskirchener Schulwesens unter Berücksichtigung der Industrialisierung (mit ausführlicher Bibliographie), Euskirchen 1973, hrsg. von der Stadtverwaltung Euskirchen
Derbolav, Josef, Probleme des mittleren Bildungsweges, Hannover 1970
Engels, Willi,
Die Realschule, in: Festschrift zur 650-Jahr-Feier der Stadt Euskirchen, Bd. 1, Euskirchen 1952, S. 202/203
Obernier, Franz,
Regulierung des Unterrichtswesens in der Knabenschule zu Euskirchen nach dermaligen Verhältnissen und örtlichen Bedürfnissen (Errichtung einer Realklasse), Euskirchen 1837. Manuskript im Euskirchener Stadtarchiv, Nr. B VI c3
Reble, Albert, Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 1971
Renelt, Hans, Die historische Entwicklung der Euskirchener Tuchindustrie, Euskirchen 1921
Roessler, W., Die Entstehung der Realschule innerhalb des modernen Erziehungswesens, in: Wesen und Werden der Realschule, hrsg. v. J. Derbolav, Bonn 1960
Schaller, Klaus, Schule und Leben ( Repertorien zum Hochschulstudium), Bd. 16, Hamburg 1967
Bisher ungesichtete Urkunden folgender Archive: Historisches Archiv des Erzbistums Köln, des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, des Staatsarchivs Koblenz, des Kreis- und Stadtarchivs Euskirchen