Als sich im Jahre 2008 die Dozentin Elischewa German von der Ben-Gurion Universität in Beerschewa (Israel) an mich wandte, um Einzelheiten über ihren Vater, Hermann Jülich (* 25.12.1903, † 29.11.2000) aus Euskirchen, zu erfahren, war nicht abzusehen, dass sich aus den Antworten der ersten Fragen ein etwa 300 Seiten starker Roman ergeben würde.
Er handelt von dem Schicksal eines jüdischen Kunsthändlers, der aufgrund seiner „Rasse“ und seines anfänglichen Engagements als Kommunist in der Zeit von 1936 bis 1945 inhaftiert und stets vom Tode bedroht war, ehe er dann am 11. April 1945 halbtot im KZ Buchenwald von den Amerikanern befreit wurde. Vgl. Film bei YouTube.
Auf Befehl des damaligen Lagerführers Arthur Rödl entstand Ende 1938 im Konzentrationslager Buchenwald eine „Hymne“, die künftig von der Lagerkapelle beim Ein- und Auszug der Arbeitskolonnen gespielt wurde. Das Marschlied wurde von zwei Häftlingen aus Österreich verfasst: der Text stammte von dem jüdischen Fritz Löhner-Beda (1883-1943), dem Librettisten Lehárs, und die Musik von Hermann Leopoldi (1888-1959), einem Wiener Kabarettsänger. Das „Buchenwald-Lied“ gefiel eigenartigerweise nicht nur der SS-Bewachung, sondern ebenfalls den unzähligen Gefangenen, von denen etwa 56.000 nicht mehr die NS-Diktatur und den Holocaust überlebten. Eigentlich fühlte sich Fritz Löhner-Beda sicher: „Hitler mag meine Musik", soll er gesagt haben. „Er war ja Fan von Franz Lehárs Operetten“. Und tatsächlich wurden seine Lieder und insbesondere die Lehár-Operetten weitergespielt. Aber der jüdische Librettist, Schlagertexter und Schriftsteller wurde dennoch 1942 nach Auschwitz verschickt und dort ermordet.
Auch für den aus Euskirchen stammenden Hermann Jülich (* 1903), der als Jude und Kommunist seit 1936 in Gefängnissen und ab 1938 im KZ Buchenwald inhaftiert war, diente das Lied zur Selbstvergewisserung. Besonders der letzte Vers des Refrains „...denn einmal kommt der Tag: Dann sind wir frei!" gab auch ihm die Vision eines Lebens in Freiheit, für die es sich lohnt, allen Mut und alle Kraft einzusetzen.
Für den heute in seiner Heimat Euskirchen völlig vergessenen – und den vom Stadtarchiv noch nicht einmal als „jüdischer Mitbürger“ aufgelisteten Überlebenden – Hermann Jülich waren die Worte so bedeutsam, dass sie seine Tochter Elischewa German als Buchtitel für ihren Roman wählte: „Wir wollen trotzdem Ja zum Leben sagen“.
Der erwähnte Refrain endet mit den Zeilen:
O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unser Schicksal sei,
wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag: Dann sind wir frei!
Zum Entstehen des Buches
Bereits die Genealogie der jüdischen Familie Jülich stellte sich als recht verwirrend dar, zumal es in Euskirchen mehrere Familien mit demselben Namen gab. Aber kurz gesagt, der Protagonist des Romans war der Sohn des verarmten Künstlers Otto Jülich (* 10.06.1878 in Siegburg, † 1936 in Wien) und der in Euskirchen geborenen Sophie Meyer (* 28.02.1883, † 1930). Die standesamtliche Eheschließung fand hier am 13. Dezember 1901 statt. Das Ehepaar wohnte im Anbau der Euskirchener Synagoge, Annaturmstraße 10, und hatte vier Kinder. Ein ärmliches Leben und eine für Hermann nicht einfache Schulzeit an der Ostschule im Euskirchener Stadtzentrum sowie dann die Scheidung der Eltern und Aufteilung der Kinder brachten es mit sich, dass Hermann Jülich in das Kölner Waisenhaus in der Lützowstraße 35-37 kam.
Später ergriff er den Beruf als Kunsthändler, half kommunistischen und katholischen Aktivisten, wurde 1936 verhaftet und ein Jahr später – im Zusammenhang mit dem NS-feindlichen Kaplan Dr. Joseph Rossaint - im sogenannten „Katholikenprozess“ (1937) vom Volksgerichtshof zu einer Strafe von 2 Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Foto zeigt die Angeklagten vor dem Volksgerichtshof und Hermann Jülich mit Brille in der Mitte.
Der am 29. Januar 1936 verhaftete Rossaint war nach einer Predigt von der Gestapo in der Kirche verhaftet worden. Während Hermann Jülich anfangs nur als „Mitläufer im hochverräterischen Treiben“ galt, war der katholische Geistliche der eigentliche Hauptangeklagte im „Katholikenprozeß“. Daher wurde er am 28. April 1937 vom Volksgerichtshof wegen „versuchter Bildung einer Einheitsfront zwischen Katholiken und Kommunisten“ zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt. Hermann Jülich wusste an diesem Tage noch nicht, dass seine Strafe später - ohne einen weiteren Gerichtsbeschluss - auf eine unbefristete Inhaftierung in den Konzentrationslagern Dachau und hauptsächlich Buchenwald erweitert wurde. Er war Jude und Kommunist und wurde daher als Feind des Nationalsozialismus behandelt.
Zur Arbeit der Autorin
Die 1946 in Düsseldorf geborene Autorin Elischewa German, die ihre akademische Laufbahn im Jahre 2011 in Beerschewa beendete und seitdem verstärkt an der Biographie ihres Vaters arbeitete, legte diese im Juni 2014 nicht als wissenschaftliche Dokumentation, sondern als spannenden Roman vor. Persönlich teilte sie mir mit:
Mein Vater war eine markante Persönlichkeit und die von ihm geschilderten Erlebnisse während der Nazizeit beeindruckten mich in solchem Maße, dass ich nach seinem Tode beschloss, seinen Erzählungen nachzugehen und diese in einem historischen Kontext zu dokumentieren. Seine hinterlassene Korrespondenz sowie Tonbandaufnahmen dienten als Grundlage. Meine berufliche Ausbildung als Dozentin in Römischer Geschichte nach meiner Auswanderung nach Israel ermutigten mich, Nachforschungen in den diversen Archiven anzustellen...
Was mir aber den besonderen Anstoß zu diesem Buche gab, war das sehr persönliche Anliegen: die Korrespondenz meines Vaters mit seiner Familie während seiner gesamten Haftzeit. Diese war von seiner Schwester minutiös gesammelt und aufbewahrt worden. Dann gab es noch eine Aktensammlung über die letztlich fehlgeschlagenen Bemühungen, nach Shanghai zu emigrieren. Nach seinem Tode komplettierte ich das Ganze durch Anfragen in den diversen Archiven.
Von ganz besonderer Wichtigkeit waren aber auch die Kindheitserlebnisse. Seit meine Erinnerungen zurückreichen, fanden angeregte Gespräche und Erzählungen am Familientisch über das KZ Buchenwald statt. Außerdem kamen häufig alte Kameraden, Juden und Nichtjuden zu Besuch, und Erinnerungen wurden ausgetauscht. Ich erinnere mich im Besonderen an den Schriftsteller Jacob, der uns einige Male besuchte.
Da nun mein Vater seine letzten zwei Lebensjahre bei uns im Hause, in Omer bei Beerschewa, verbrachte und ich ihm die Bekanntschaft von Paul Alsberg aus Wuppertal, dem ehemaligen Staatsarchivar von Israel, vermitteln konnte, setzte ein geistiger Austausch zwischen dem Ehepaar Alsberg und meinem Vater ein, in dessen Mittelpunkt die Vitae aller Teilnehmer stand. Die Erzählungen wurden auf Tonband aufgenommen. Ich erfuhr dabei so manch Neues, was mir als Kind und Heranwachsende nicht erzählt worden war, und dies habe ich auch eingebracht.
Anmerkungen zum Roman
Während die Buchenwald-Fachliteratur durch zahlreiche persönliche Erlebnisberichte in der Ich-Form angereichert ist, haben sich viele Autoren bisher etwas gescheut, das Schreckliche in Form von Romanen oder Erzählungen wiederzugeben. Aber das gesamte Material von Hermann Jülich wird nicht als Autobiographie publiziert. Elischewa German hält sich diesbezüglich zurück und erwähnt in ihrem Buch nicht die Verwandtschaft zu dem Protagonisten. Sie verfremdet den Vater, und somit ist der Roman „Die Geschichte des Hermann Jülich“.
Insgesamt befasst sich der Leser mit dem Schicksal eines jüdischen Kommunisten zur Zeit des Dritten Reiches. Ungeachtet der narrativen Form geht es nicht um erfundene Begebnisse, sondern die Handlung fußt im Allgemeinen auf wahren Begebenheiten, die im Anhang angedeutet oder belegt werden. So hat Hermann Jülich in der Haftzeit viele Prominente kennen gelernt, die ebenfalls von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, z.B. die Enkel des österreichischen Kaisers Franz Josef, den Librettisten Löhner-Beda, den bekannten Schriftsteller Heinrich Eduard Jacob und andere schillernde Persönlichkeiten jener Zeit. Vor allem aber lernte er die Kunst des Überlebens. Wie ihm das gelang, ist der Beschreibung seiner Tochter Elischewa zu verdanken, die sich zusätzlich der Buchenwald-Fachliteratur angenommen hat und diese dort in ihren Roman eingearbeitet hat, wo sie auch vom historischen Standpunkt her sinnvoll ist. Das macht ihr Buch so lesenswert.
Als Hermann Jülich am 25. Mai 1945 mit dem Entlassungsschein ITS 62004645 endgültig dem Konzentrationslager Buchenwald den Rücken kehrte, überkam ihn ein großes Gefühl der Dankbarkeit. Die Autorin begründet noch einmal ihren Buchtitel und schließt den Roman mit den Worten:
Er glaubte mehr denn je an seinen guten Stern und an ein besseres Morgen. Er wollte trotz all dem, was hinter ihm lag, im Sinne des Buchenwald-Liedes „Ja zum Leben sagen“.
Elischewa German: „Wir wollen trotzdem Ja zum Leben sagen“, Norderstedt 2014, ISBN 078-3-7357-4103-5. (vgl. Leseproben)