HANS-DIETER ARNTZ: Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen. Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung. Aachen: Helios Verlags- und Buchvertriebsgesellschaft 2012, 710 Seiten, 103 Abbildungen
Eine der heikelsten Fragen der Geschichte nationalsozialistischer Verfolgung und insbesondere des Holocaust ist die Bewertung der Rolle und des Verhaltens der sogenannten „Funktionshäftlinge“, d.h. von Menschen, die Opfer des Systems waren, gleichzeitig aber in den nationalsozialistischen Lagern und Ghettos die Anordnungen der Verfolgungsbehörden umzusetzen hatten und damit im Grunde Instrumente des Vernichtungsapparates wurden. Diejenigen, die 1945 überlebten, sahen sich dem Verdacht ausgesetzt, dass sie aus ihrer Funktion erhebliche Vorteile gezogen und ihre Rettung nur der Kollaboration mit den Verfolgern zu verdanken hatten. Einige von ihnen wurden daher nach ihrer Befreiung auch vor Gericht gestellt und verurteilt. In der Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit war dieses Thema aus diesem Grund mit einem gewissen Tabu belastet.
Hans-Dieter Arntz, Autor einer Reihe von Publikationen zum Thema jüdischer Verfolgung besonders im Bereich der Eifel und Voreifel, hat bereits 1983 in einem Beitrag die Rolle des letzten Judenältesten von Bergen-Belsen, Josef (Jupp) Weiss, skizziert, der aus dem kleinen Ort Flamersheim bei Euskirchen stammte, wo die große Familie seit langem lebte und gut integriert war.
Josef Weiss - die Schreibweise von Vor- und Zunamen variierte im Lauf seines Lebens - wurde 1893 als vorletztes von neun Kindern des Viehhändlers Albert Weiss und seiner Ehefrau Mathilde, geb. Michel, in Flamersheim geboren. Nach Abschluss der Volksschulzeit ging er nach Köln und begann in dem bekannten Kaufhaus Michel, das den Verwandten seiner Mutter gehörte, eine Lehre. Im Ersten Weltkrieg war er Frontkämpfer, wurde Feldwebel und erhielt militärische Auszeichnungen. Auf Grund seiner Tüchtigkeit, aber auch der familiären Beziehungen stieg er nach dem Krieg in der Firma seiner Verwandten mit etwa 1.000 Beschäftigten schließlich zum Personalchef auf, was ihm Familiengründung und ein sorgloses Leben ermöglichte.
Die zionistische Grundhaltung veranlasste Weiss spätestens 1933 angesichts der Entwicklung in Deutschland, eine Übersiedlung in die benachbarten Niederlande ins Auge zu fassen. Wahrscheinlich wegen Devisenvergehen wurde er im Februar 1933 verhaftet, aber bereits im Sommer aus dem Kölner Gefängnis Klingelpütz entlassen. Unmittelbar danach flüchtete er in die Niederlande, wo seine Familie bereits bei Verwandten untergekommen war. In seiner neuen Heimat gründete Weiss mit einem Cousin in Amsterdam eine Firma für Modeartikel. Er wurde aktiv in der zionistischen Bewegung tätig und engagierte sich in der Fluchthilfe und der Unterstützung geflüchteter
Leidensgenossen, insbesondere auch seiner Familienangehörigen, verstärkt nach dem Novemberpogrom 1938.
Der Überfall Hitlers auf die neutralen Niederlande im Mai 1940 brachte die geflohenen Juden und damit auch die Familie Weiss wieder in die Fänge der nationalsozialistischen Verfolger. Josef Weiss verlor seinen Betrieb, sein Vermögen wurde eingezogen, er musste zunächst umziehen und wurde Anfang 1942 mit seiner Familie in das Sammel- und Durchgangslager Westerbork eingewiesen, das zunächst unter niederländischer, ab Juli 1942 unter Leitung der SS stand. Für das Lager bestand in Form eines „Jüdischen Rates“ eine Art Selbstverwaltung als Ausführungsorgan für Weisungen, zugleich aber auch als jüdische Interessenvertretung. In diesem Rahmen wurde Josef Weiss die Funktion eines „Transportleiters“ übertragen und oblag dem Ehepaar Weiss, das sich dieser Aufgabe mit großem Engagement annahm, als „Jugendleiter“ die Betreuung elternloser Jugendlicher, d.h. zunächst von ca. 150 Jungen, die in Holland auf der Flucht gestrandet waren. Das Ehepaar Weiss bemühte sich im Lager auch um das religiöse und kulturelle Leben, wozu besonders die Ehefrau Erna, eine ehemalige Opernsängerin, einen wesentlichen Beitrag leistete. Als „Transportleiter“ fiel Josef Weiss die Betreuung der eintreffenden und seit Mitte 1942 auf Transport in den Osten, d.h. in die Vernichtungslager, bestimmten Personen zu.
Die Familie Weiss wurde im Januar 1944 nach Bergen-Belsen verlegt, einem Lagerkomplex mit sehr unterschiedlichen Teillagern. Sie wurde in das „Austauschlager“ eingewiesen, das für Juden mit Auswanderungspapieren bestimmt war, die die NS-Regierung gegen deutsche Gefangene und Internierte austauschen wollte. Es hatte insofern einen Sonderstatus, als es in Form eines Lagerältesten eine Art von „Selbstverwaltung“ hatte. In diesem Lager war Weiss zunächst stellvertretender, dann ab Dezember 1944 bis zur Befreiung Judenältester. In seinen Funktionen nahm er besonnen und engagiert die Interessen der Lagerinsassen wahr. In dem Inferno des Lagers, das gerade in der Schlussphase durch unmenschliche Arbeitsbedingungen, Hunger, unsägliche hygienische Bedingungen und die ausbrechenden Epidemien schließlich in einem Chaos endete, das bis hin zu Kannibalismus unter den Häftlingen führte, bot er den Verzweifelten auch Orientierung und seelische Unterstützung. Als Leiter der „Internen Lagerverwaltung“ kopierte er heimlich Unterlagen, insbesondere Sterbelisten, wichtige Dokumente des Terrors der SS und Grundlage für die Klärung des Schicksals der Opfer.
Im April 1945 wurde die Familie Weiss aus Bergen-Belsen verlegt. Der „Räumungstransport“ mit über 2.000 Personen, der für Theresienstadt bestimmt war, strandete schließlich in Tröbitz in der Niederlausitz („Verlorener Zug“), wo er von der Roten Armee befreit wurde. Während der an Flecktyphus erkrankte Josef Weiss überlebte, starb seine Frau an den Folgen dieser Krankheit. Nach der Befreiung übernahm Weiss weiterhin die Rolle des Sprechers sowie die Funktion des Bürgermeisters von Tröbitz; er wurde in die Niederlande zurückgeführt, von wo er die ersehnte Auswanderung nach Eretz Israel betrieb, wo er 1976 83jährig in Jerusalem verstarb.
Die Publikation ist aus mehr als 30jähriger Beschäftigung des Autors mit dem Thema entstanden. Er hat nicht nur die einschlägige Literatur verarbeitet und in Archiven des In- und Auslandes geforscht, sondern zahlreiche veröffentlichte und unveröffentlichte Erinnerungen aus dem Umfeld von Weiss benutzt. Darüber hinaus hat er eine Reihe von Zeitzeugen besonders in Deutschland, den Niederlanden, Israel und den USA befragt. Die Ergebnisse seiner Arbeit haben im Detail nicht nur zur Erweiterung des Kenntnisstandes, sondern auch zu einer Reihe von Korrekturen der bisherigen Forschung geführt.
Das Thema, das den Autor erkennbar auch persönlich beschäftigt, wird in 26 Kapiteln behandelt, die einer chronologischen Grundlinie folgen, veranschaulicht durch über 100 blockweise zusammengefasste Abbildungen. Die häufigen und ausgiebigen Zitate aus der Literatur, den Quellen und Interviews, die dem Buch mehr den Charakter einer Dokumentation geben, werden vom Verfasser erläutert, kommentiert und bewertet. Die Zitate, die häufig frühere oder spätere Tatsachen und Entwicklungen einbeziehen, machen die Darstellung anschaulich, überlagern aber bisweilen den zeitlichen Ablauf. Zudem behandelt der Autor an zahlreichen Stellen Personen und Entwicklungen im Umfeld von Weiss, was die Lagerbedingungen eindrücklich veranschaulicht. Beides führt aber zu häufigen, auch mehrfachen Wiederholungen.
Von überlebenden Zeitgenossen wurden Weiss wegen seines Engagements, seiner Selbstlosigkeit und seiner Leistung tiefer Respekt und Dankbarkeit entgegengebracht. Seine Tätigkeit ist zwar ansatzweise in der Literatur anerkannt, aber bisher nicht hinreichend gewürdigt worden. Diesem Manne mit der umfangreichen Publikation ein Denkmal zu setzen, ist das eigentliche Anliegen des Autors, der abschließend Haltung und Leistung von Weiss in Vergleich zu seinem Vorgänger in Bergen-Belsen, Albala, und dem letzten Leiter des Ghettos Theresienstadt, Dr. Benjamin Murmelstein, setzt.
Das Buch bildet eine bemerkenswerte Würdigung einer herausragenden Persönlichkeit, die auf Grund ihrer persönlichen Prägung, ihrer Fähigkeiten, ihres Glaubens, ihrer Integrität und ihrer Mitmenschlichkeit die außergewöhnlichen organisatorischen, vor allem aber moralischen und psychischen Herausforderungen einer kaum nachvollziehbaren Extremsituation eindrucksvoll gemeistert hat.
Erftstadt,
Horst Matzerath