„Reichskristallnacht“ – Viele Kinder und Jugendliche bei den Gedenkfeiern
im Kreis Euskirchen (2013)

von Hans-Dieter Arntz
23.11.2013

Der Holocaust als systematischer Vernichtungsprozess und Massenmord an den europäischen Juden im 2. Weltkrieg war ein derart traumatisches Ereignis, dass im heutigen Israel das Geschehen vom 9./10. November 1938 nicht mehr als besonders bedeutsam in den Vordergrund gestellt wird und selten zu Gedenkfeiern Anlass gibt. Aber in Deutschland hat sich inzwischen diesbezüglich eine besondere Erinnerungskultur entwickelt, die m. E. im Monat November stimmungsmäßig mit Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag vergleichbar ist.

Nach Ansicht des in Israel lebenden Rabbiners Prof. Prof. Dr. Meier Schwarz (*1926), dem ich vor einigen Jahren Material über den Novemberpogrom in der Voreifel und Eifel sowie über die hier zerstörten Synagogen zustellte, ist der Ursprung des Ausdrucks Reichskristallnacht ungeklärt. Er war entgegen einer verbreiteten Meinung keine offizielle Sprachregelung des NS-Regimes. Dessen Dienststellen und die von ihnen gelenkten Medien benutzten damals propagandistisch gefärbte Ausdrücke wie Judenaktion, Novemberaktion, Vergeltungsaktion, Sonderaktion und (Protest-)Kundgebungen.

 

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"Kristallnacht" war angeblich eine Wortschöpfung aus dem Volksmund von 1938 und stammte wahrscheinlich aus Berlin. Sie spielte auf die zertrümmerten Scheiben vieler Fenster an, deren Scherben die Straßen bedeckten. Wertneutraler ist daher der Begriff Novemberpogrom als vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich.

Besonders im 5-Jahres-Rhythmus – zum Beispiel 2008 und jetzt wieder im Jahre 2013 – wird am Beispiel des Novemberpogroms von 1938 an die brutale Einschüchterung und Brutalität gegen die jüdische Bevölkerung erinnert sowie exemplarisch und grundsätzlich vor Intoleranz und Ausgrenzung gewarnt. Die vielen Gedenkfeiern des Jahres 2013 – auch in der Eifel und Voreifel – erinnerten und mahnten. Besonders Jugendliche waren in diesem Jahr aktiv.

Im Jahre 2009 glaubte ich erkennen zu können, dass sich Form und Schwerpunkt der Erinnerung an die „Reichskristallnacht“ allmählich etwas geändert – wenn nicht sogar etwas „erweitert“ - haben. Am Beispiel der Eifel und Voreifel führte ich in meinem Online-Beitrag 71 Jahre nach der„Reichskristallnacht“: Neue Schwerpunkte der Mahnung und Erinnerung im Kreis Euskirchen an:

Während man noch im Jahre 2008 – wegen des 70. Jahrestages – in vielfältiger Form des Novemberpogroms von 1938 gedachte, rief das historische Datum 9./10. November in diesem Jahr eher zur nur allgemeinen - und offenbar nicht mehr speziellen - Erinnerung und Versöhnung der Menschen auf. Im Kreis Euskirchen gedachte man auch verstärkt der vielen anderen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, z. B. der Zwangsarbeiter, Homosexuellen, Euthanasieopfer, der politisch und religiös Verfolgten - und auch grundsätzlich aller Kriegsopfer.

Als engagierter Vertreter der Regionalhistorie bin ich weiterhin der Ansicht – und habe dies auch am 25. Oktober 2008 in meinem Artikel „MAHN-MAL (!)“: Ist der Begriff „Reichskristallnacht“ ein terminus technicus der „Erinnerungskultur“? betont -, dass die regionale Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust besonders das Interesse am „Gedenktag 9./10. November“ wachsen lässt:

Mahnmale und Gedenkfeiern wurden erst zur moralischen Verpflichtung, als man sich regionalhistorisch mit dem Nationalsozialismus und der Judenverfolgung auseinanderzusetzen begann und dadurch eine „Sensibilisierung" verursachte. Daher kommt der systematische Regionalhistorie eine besondere Bedeutung zu, weil sie konkret personifiziert und historisches Geschehen – das Beispiel der Anne Frank beweist das – individualisiert.

Ich möchte damit sagen, dass besonders Kinder und Jugendliche stets - am Beispiel ihrer Umgebung und der „heimatkundlichen“ Aspekte - zur „Vertiefung“ der bekannten deutschen Geschichte aufgerufen werden können.

Und dies gelang in diesem Jahr auch im Kreis Euskirchen.

Unter der der Überschrift „Das darf nie wieder passieren“ berichtete die Kölnische Rundschau am 11. November 2013 sehr ausführlich und verantwortungsvoll über diesbezügliche Aktivitäten in Bad Münstereifel, Euskirchen, Mechernich, Schleiden, Weilerswist und Zülpich. Auf der ersten Seite des Euskirchener Lokalteils fassten 3 Journalisten alle Gedenkveranstaltungen zusammen und beobachteten, dass besonders viele junge Leute mahnende Zeichen für Toleranz und Vielfalt einsetzten.

 

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In Bad Münstereifel erinnerten Bürgermeister Alexander Büttner, Pastor Pützkaul, Pfarrer Raschke und Rabbiner Mordechai Max Bohrer aus Aachen an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Danach erfolgte ein Schweigemarsch vom jüdischen Friedhof, an den Häusern der deportierten jüdischen Bürger vorbei, zu einer Gedenkveranstaltung im Rats- und Bürgersaal.

Unter dem Thema „Hingeschaut oder draufgelatscht?“ hatten Jugendliche der Kreisstadt Euskirchen eine Ausstellung in der „Jugendvilla“ an der alten Gerberstraße vorbereitet. Diese befasste sich mit den inzwischen verlegten Stolpersteinen und einigen Interviews, die man mit betagten Zeitzeugen geführt hatte. Interessant waren die Argumente einiger Anwohner, vor deren Häusern heute Stolpersteine liegen und über die man heute „drauflatscht“.

 

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In Kooperation mit dem Euskirchener Stadtarchiv stellten die Jugendlichen vom Jugendzentrum nicht nur Fotos und Berichte aus, sondern befragten auch öffentlich den ehemaligen Stadtdirektor Dr. Heinrich Blaß, der damals als Schüler mit dem Martinszug an der noch brennenden Synagoge vorbeiging. Die gut besuchte Veranstaltung endete mit einem Schweigemarsch zum Grundstück der ehemaligen Synagoge in der Annaturmstraße, wo man kleine Lichter an der Gedenkstätte hinterließ. Hier legte Bürgermeister Dr. Uwe Friedl ein Gesteck nieder.

An dem Gedenkgang der Schulen und Kirchen durch Mechernich nahmen etwa 150 Bürger teil. Besonders viele Jugendliche wollten ein Zeichen gegen jede Art von Gewaltherrschaft, Verfolgung und Unterdrückung geben. Wie jedes Jahr wurde der Gedenkgang von den weiterführenden Schulen und den christlichen Kirchen Mechernichs durchgeführt. Er begann an der Barbara-Schule im Sande und endete am Rathaus vorbei am Schulzentrum. An 3 Stationen erinnerten Schüler an Unrecht und NS-Verbrechen. Die Firmlinge der Pfarrgemeinde hatten drei Tage, an denen es Ausschreitungen der Nazis gegen die Mechernicher Juden gab, dargestellt. Gymnasiasten trugen einen Bericht von Kästner vor und Realschüler äußerten sich zum Thema „Gleichschaltung.“

Auch in Schleiden, wo es noch vor zwei Jahrzehnten unvergessene Irritationen gegeben hatte, wurde an das Vergangene erinnert. Vor den neulich verlegten Stolpersteinen wurde innegehalten. In der evangelischen Kirche berichteten Zeitzeugen über die „Reichskristallnacht“, und Schüler steuerten Texte und Musik bei. Schleidens evangelischer Pfarrer Erik Schumacher und sein katholischer Kollege betonten energisch, dass „Zeichen gesetzt werden müssen“.

In Alter Tradition hatte die Gesamtschule Weilerswist zur Gedenkfeier geladen. In Anwesenheit von Bürgermeister Peter Schlösser hatten sich viele Schüler und Bürger zuerst an der Gedenkstele vor dem Rathaus versammelt. Etwa 100 Teilnehmer zogen dann in das Forum der Gesamtschule, wo die Schüler ein gut einstündiges Programm zur Erinnerung an den Novemberpogrom 1938 vorbereitet hatten. Heike Nickel, die anwesende Journalistin des Kölner Stadt-Anzeigers, berichtete am 11. November in der Euskirchener Lokalausgabe:

Die Schüler der fünf 7. Klassen der Gesamtschule brach­ten im Anschluss unterschiedliche Darbietungen auf die Bühne, die für ihre Auseinandersetzung mit dem Thema des Holocausts im Un­terricht standen. Neben vorgetra­genen Auszügen aus dem Jugend­buch „Damals war es Friedrich" wurde auch die Bedeutung der Stolpersteine erläutert, die in den letzten Jahren auf Initiative der Gesamtschule im Gemeindegebiet verlegt wurden. Eine Gruppe stellte auf Plakaten die „Rassengesetze" des Nazi-Regimes vor, eine andere beschrieb das Schicksal der Familie Stock aus dem benachbarten Lommersum, die nach ihrer Deportation 1942 an unbekanntem Ort ermordet worden war. Musikbeiträge aus der Fe­der von Rolli Brings rundeten die Gedenkveranstaltung ab. Eines der Lieder handelte von dem Ab­schiedsbrief, den eine 17-jährige Ukrainerin seinerzeit in eine der Zellenwände im Kölner El-De-Haus (ehemalige Gestapo-Zentrale) eingeritzt hatte.

Mitglieder des CVJM sowie die evangelische und katholische Kirchengemeinde von Zülpich trafen sich am Grundstück der ehemaligen Synagoge in der Normannenstraße, um der „Reichspogromnacht“ in Zülpich zu erinnern. Danach gingen die Teilnehmer – darunter viele Jugendliche – zur Juhlsgasse in Richtung Marienborn, wo man auch von hier deportierten Euthanasieopfer gedachte.

 

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