In den nächsten Wochen wird es vielfältige Beispiele deutscher Erinnerungskultur geben: Wir gedenken der jüdischen Opfer, deren Besitz und Leben während der ersten groß angelegten Verfolgung durch fanatische Nationalsozialisten gefährdet oder gar vernichtet wurde. Schmerzlich werden wir daran erinnert, was alles während der „Reichskristallnacht“ bzw. beim „Novemberpogrom“ oder in der „Reichspogromnacht“ geschah. Mit Recht wird auch jede Stadt oder Gemeinde daran interessiert sein, den Abscheu gegen die Verbrechen in vielfältiger Form auszudrücken. Das geschieht wahrscheinlich mit beeindruckenden Veranstaltungen.
Inzwischen sind „Stolpersteine“ en masse verlegt worden. Fackelzüge werden sich in einigen Städten schweigend durch die Straßen bewegen. Auch die letzte Gemeinde wird ihr Mahnmal erhalten, obwohl man sich inzwischen fragen muss, ob das nicht dort schon früher angebracht gewesen wäre.
Dennoch ist vieles – trotz der erdrückenden Vielfalt – lobenswert, weil ich immer schon der Ansicht war, dass jegliche Form der Erinnerung eine stete Mahnung und Warnung ist. Aber…
Mit Recht werden wir daran erinnert, was in einigen Städten bereits in der Nacht vom 9. zum10. November 1938 geschah, auf dem Lande aber meistens aber erst am Nachmittag oder Abend des 10. November. Das Synonym „Synagogenbrand“ beinhaltet bei vielen die Vorstellung von gewalttätigen, „auswärtigen Nazis“, die unkontrolliert die jüdische Minderheit diskriminierten, drangsalierten, quälten und sogar viele töteten. Aber nicht erst seit der Kenntnisnahme diesbezüglichen Gerichtsakten weiß man auf dem Lande und auch an der östlichen Peripherie des Rheinlandes, dass die Täter fast immer aus der Nachbarschaft stammten. Die „Reichskristallnacht“ in der Eifel und Voreifel ist hierfür das beste Beispiel.
Jüdisches Mahnmal in Mechernich (Foto H.-D. Arntz) |
Jüdisches Mahnmal in Schleiden (Foto H.-D. Arntz) |
Bis in die 70er Jahre gab es hier eigentlich kaum eine systematische Aufarbeitung der „jüngsten deutschen Geschichte“. Der „Reichskristallnacht“ wurde auf dem Lande wenig Erinnerung gewidmet. Zu gering war der zeitliche Abstand, zu deutlich die Erinnerung! Das gilt sicher nicht für die großen Städte, aber ganz besonders für die Landbevölkerung, deren Mobilität schon immer eingeschränkt war. Jetzt saß man ganz eng „im selben Boot“, war zu sehr voneinander abhängig und hatte auch zuviel im Mief des kleinen Ortes miterlebt. Dadurch war der systematische Abschottungsmechanismus im Mikrokosmos bezüglich der Rassendiskriminierung und des Holocaust vollständig. Die Nachkriegsgeneration hat dies selbst während der Schulzeit selbst erlebt.
Nach dem 2. Weltkrieg wollte keiner mehr den tatsächlich nahen Nachbarn denunzieren. Oft war man sogar auf derselben Arbeitsstelle; häufig sogar nah oder weitläufig verwandt. Im Schleidener Tal war der wahrscheinliche Mittäter sogar der Arbeitgeber. Daraus resultiert, dass in ländlich strukturierten Tatorten selten historisch - und juristisch - eine wertfreie Darstellung und Beurteilung möglich wurde. Soziologisch ausgedrückt bedeutet dies, dass ansonsten das Gruppenmitglied wegen nichtkonformen und normgemäßen Verhaltens negativ sanktioniert wird. Nur wenige wagten es, nachdem man den Krieg überlebt hatte und ein Neubeginn bevorstand, die „Reichskristallnacht" zu thematisieren und nach den Verantwortlichen zu fragen. Schlimmeres war doch angeblich im Laufe der Zeit bis 1945 geschehen.
Jetzt, nachdem die Entnazifizierung seit 1946 im Rheinland angelaufen und 1949 sogar die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden war, stand ein Neubeginn und der wirtschaftliche Aufschwung bevor. Die Entnazifizierung und „Reinwaschung“ vom einst Geschehenen, die trotzige Protesthaltung gegen die Alliierten und deren „neumodisches“ Demokratieverständnis, die hektische Existenzsicherung im zerstörten Deutschland: all das passte nicht in die junge Bundesrepublik. Auch in den Altkreisen Euskirchen und Schleiden waren mehrere NS-Funktionäre später wieder in der beinahe selben Funktion wie früher tätig. Umgekehrt deckten zum Beispiel in Kall aus verwandtschaftlichen oder kommunalpolitischen Gründen einst verfolgte SPD-Anhänger ihre früheren NS-Verfolger. Es galt es jetzt, den Neubeginn gemeinsam zu bewerkstelligen.
Das ist natürlich auch der Grund, weshalb die jüngere Generation oder der solide Heimatforscher wenig über die Ereignisse in seiner unmittelbaren Heimat erfuhren.
Die bevorstehende „Inflation“ der besonders im November 2008 stattfindenden Veranstaltungen sowie die schon fast obligate Verpflichtung zur Errichtung von Mahnmalen oder zur gedruckten Dokumentation der NS-Heimatgeschichte in wirklich jeder Gemeinde lassen erkennen, dass die temporäre Distanz und das drängende Interesse an der Regionalhistorie die Menschen sensibilisiert hat. Und trotz aller Kritik: das ist durchaus gut. Die Kölner Ereignisse und die „Aktion gegen rechts“ beweisen, wie engagiert und hellhörig Menschen werden können. Aber auch hier könnte des Guten zuviel sein, wenn parallele Missstände nicht beachtet werden. Mein Aktenstudium ergab, dass der Mensch theoretisch zwar aus der Geschichte lernt, aber dennoch nicht in ähnlichen Situationen sukzessiv reagiert. Umgekehrt denkt wahrscheinlich auch ein Bankräuber, dass er persönlich nie gefasst wird. Ergo: vieles kann sich unter anderen Vorzeichen dennoch ähnlich ereignen!
Landesrabbiner A. Hochwald bei der Einweihung des Mahnmals in Blumenthal (1988). Links: Bürgermeister Dr. Armin Haas. (Foto: H. Hansen) |
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Das Mahnmal der Gemeinde Hellenthal auf dem jüdischen Friedhof in Blumenthal (1988). |
Aber an mancher Stelle kann es tatsächlich des Guten zuviel sein! In der kleinen Gemeinde Hellenthal, die in der NS-Zeit nachweislich den rassistischen Terror exemplarisch praktizierte – wie dies schon 1990 und erneut 2008 nachgewiesen wurde -, gibt es nicht nur auf dem jüdischen Friedhof in Blumenthal einen großen Gedenkstein, sondern ab dem 9. November 2008 auch noch - in der ausgesprochen ungepflegten Nähe des einstigen Synagogengeländes - eine Stele. Kurz vorher hatte man an der Stelle eines bis 1904 benutzten Gebetsraumes schon eine weitere Tafel angebracht. Kein Wunder also, dass sich der einstige Bürgermeister Dr. Haas noch vor wenigen Wochen – als einziger – gegen eine Kumulierung diesbezüglicher Aktivitäten aussprach. Der Verwandte eines aus Hellenthal stammenden Juden meinte sogar neulich in Anlehnung an Churchill: „Entweder hat man die Hellenthaler an der Kehle oder zu den Füßen!“
Die Aktivitäten in der Voreifel und Eifel sind mannigfach und manchmal eigentümlich, so dass ich im Laufe der nächsten Wochen vielleicht darüber berichten werde. Eigenartig sind hier die derzeitigen Funde betagter Bürger, die einzelne Gegenstände aus der Zeit der Synagogenbrände aufbewahrt haben, um sie zu jetziger Zeit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eigentlich wollten sie diese für die „Rückkehr der Juden“ aufbewahren.
Da handelt es sich zum Beispiel um Tischdecken aus dem jüdischen Kaufhaus Wilhelm Kain in Lommersum, das Schächtmesser von Isidor Marx aus Euskirchen, einen kleinen Kerzenleuchter aus Kommern oder sogar den Schlüssel zum Eingangstor der abgebrannten Synagoge in Blumenthal. All das hatte man 70 Jahre sorgsam aufbewahrt! Dabei waren schon längst viele „ehemalige jüdische Mitbürger“ – ein Begriff, den viele damit Angesprochene gar nicht so gerne hören wie wir glauben -, mal wieder ihrem Heimatort einen Besuch abgestattet. Man hätte die „Souvenirs“ ganz formlos aushändigen können.
Wenn auch die Besuche oft nostalgisch motiviert waren, meist in Begleitung wesentlich jüngerer Angehöriger stattfanden und zudem diskret verlaufen sollten, so wurden sie doch in die Öffentlichkeit gezerrt. Die Medien berichteten gerne von den „Stippvisiten“, und Fotos zeigen auch heute noch steinalte jüdische Emigranten, die den Mittelpunkt großformatiger Gruppenaufnahmen bilden. „Unser Jupp ist heimgekehrt…“
Unzählig sind die vielen Verstecke unter dem Dach oder im Keller, in denen man während der Verfolgung im Dritten Reich Juden versteckt hätte. Noch gestern wurde mir ein kleines Gewölbe in einer Scheune in Weilerswist gezeigt. Aber die entsprechenden Namen, Daten und Fakten fehlen, so dass man sich immer wieder fragt, warum nicht mehr Juden überlebt hatten. Da bildet der Eifeldechant Joseph Emonds (1898-1975) von Euskirchen-Kirchheim eine rühmliche Ausnahme, denn er gehört wirklich zu den „unbesungenen Helden“.
Fritz Juhl musste sich bei seiner ersten „Heimkehr“ nach Meckenheim – und hierzu hatte ich ihn jahrelang zu bewegen versucht -, von einem der größten Nazis stürmisch begrüßen lassen, als wenn nichts gewesen wäre. Hätte er nicht ebenso freundschaftlich die goldene Taschenuhr, den gesamten Familienschmuck der einst wohlhabenden Angehörigen der Familie Juhl und die 2 wertvollen Gemälde zurückgeben können, die er 1936 gerne und hilfsbereit an sich nahm, um sie bis zur Rückkehr „ seines ehemals jüdischer Mitbürgers“ aufzubewahren? Gerade im Mikrokosmos der dörflichen Eifel und Voreifel weiß nicht nur der Verfolgte, sondern auch der Verfolger und seine Umwelt immer noch, was wirklich geschehen war.
Meine Bücher JUDAICA und Judenverfolgung und Fluchthilfe hatte ich 1983 bzw. 1990 meinen Kindern Carsten und Amrei „ - stellvertretend für die heranwachsende Generation – zur Besinnung und Warnung vor Diskriminierung von Minderheiten“ gewidmet. Beide sind inzwischen auch im Schuldienst und helfen mir zusätzlich bei meinen umfangreichen regionalhistorischen Recherchen. Nachdem ich selber 40 Jahre lang in Euskirchen als Pädagoge tätig war und auch jahrzehntelang über mein Forschungsgebiet Judentum und Holocaust unterrichtete, erfahre ich nun auch über sie, was man über die eigentlichen Hintergründe der „Reichskristallnacht“ weiß: Nach 70 Jahren sind eigentlich jedem der Begriff „Reichskristallnacht“ als Synonym für „Synagogenbrand“ bekannt, jedoch nur wenige kennen die eigentliche Ursache („Polen-Aktion“ und Herzel Grynszpan) und en detail den darauf folgenden Mechanismus der NS-Diktatur. Das sollte zu denken geben – in einer Zeit der Migration, Globalisierung und verstärkten Zuwanderung von Minderheiten. „Kristallnacht“ sagt eigentlich viel mehr aus!