Nach der Ermordung des Botschaftsrates vom Rath begannen systematische Zerstörungen jüdischen Besitzes im Deutschen Reich. Den ersten zaghaften Versuch eines Pogroms machten Münstereifeler Nazis bereits am 9. November 1938. Im Geschäft Nathan wurden Tuchrollen zerschnitten und andere Zerstörungen vorgenommen, so dass anwesende Kunden fluchtartig den Laden verließen.
Nachdem nun am 10. November Bonn, Euskirchen, Rheinbach, Flamersheim und andere Orte „auf dem Lande" heimgesucht worden waren, begannen die Zerstörungen auch in Münstereifel. Gegen 18.00 Uhr sammelten sich meist einheimische SA-Männer im Räuberzivil, die sogar teilweise ihre Gesichter mit Tüchern verdeckt hatten. Die Geschäftshäuser von Hugo Wolff, Carl und Oskar Nathan sowie die Wohnungen von Andreas Kaufmann und Adolf Wolff waren die Ziele ihrer Zerstörungswut. Sie zertrümmerten Fensterscheiben und Möbel. Kleidungsstücke und Hausrat landeten auf der Straße. Die verängstigten Juden flüchteten oft zu ihren christlichen Nachbarn. Fast die gesamte Wohnungseinrichtung von Andreas Kaufmann, der am Entenmarkt nahe der Erft wohnte, wurde von Münstereifelern in die schmale Erft geworfen.
Eine besonders präzise Darstellung der „Kristallnacht" in Münstereifel liegt dem Verfasser anhand einer eidesstattlichen Erklärung
der später in die USA emigrierten Jüdin Frida Kaufmann vom 20. Dezember 1948 vor, die bei den Prozessen vor dem Schwurgericht Bonn unter dem Aktenzeichen 7K.S. 2/49 eine besondere Rolle spielte. Aus ihr geht hervor, mit welcher Brutalität die einheimischen Nazis am 10. November 1938 in der Badestadt gehaust hatten:
" . . . Mein Mann, Andreas Kaufmann, meine Tochter Helene und ich, Frau Andreas Kaufmann, unterhielten uns, da kam gegen 6.00 Uhr abends der Wachtmeister M . . . und verhaftete meinen Mann. M. sagte zu mir zur gleichen Zeit:,Ihrem Mann geschieht absolut nichts!"
Auf einen offenen Anhänger wurde mein Mann gestellt und über Euskirchen, Kommern, Mechernich etc. gefahren und landete mit anderen Leuten in der Nacht in Bonn, wo er alsdann ins Gefängnis geworfen und mit Füßen getreten wurde. Dies ging die ganze Nacht hindurch.
Am nächsten Morgen wurde mein Mann auf einem Viehanhänger nach Brauweiler abtransportiert. Dort mußte er 24 Stunden in Eis und Schnee stehen, ohne austreten zu dürfen, ohne Essen etc. Dieses ging so weiter, bis er krank wurde. Alsdann sandten die Nazis meinen Mann nach Hause, wo er direkt ins Krankenhaus gehen mußte. Er blieb dort unter ärztlicher Aufsicht bis zum 24. März 1939, bis zum Tage unserer Auswanderung nach England. Auch in England und später in Amerika war er ein kranker Mann und mußte an den Folgen der Misshandlungen der Nazis so früh sterben. Dies geschah deswegen, weil die Nazis meinen Mann so gequält hatten.
In der Nacht vom 10. November war ich alleine mit meiner Tochter Helene. Wir hörten auf einmal immer Scherben fallen. Aber wir beide waren zu bang, um zu sehen, was geschah. Auf einmal hörten wir ein schreckliches Krachen. Wir glaubten, das ganze Haus würde einstürzen. Alle Fenster wurden von außen zertrümmert, und etwa 50 Nazis kamen ins Haus und schlugen alles kurz und klein: die Möbel in den Zimmern, mein gutes Tafelservice, Kristall etc. Die Silber- und Goldsachen wurden von den Nazis gestohlen. Zudem benutzten sie lange Taschenlampen, um alles im Haus zu finden, was sie stehlen oder zerstören wollten.
Meine Tochter Helene und ich retteten uns in ein kleines Wohnzimmer! Ebenso meine Schwägerin Johanna Kaufmann und meine Tante Levy. Da kam plötzlich das Fenster in
Scherben und Splittern herein. Licht und Telefon wurden abgeschnitten und die Wasserhähne zur gleichen Zeit im Hause abgeschlagen. Somit stand das ganze Haus unter Wasser.
Wir saßen im Dunkeln und glaubten jeden Moment, dass wir umgebracht würden. In unserer Aufregung retteten wir uns durch ein kleines Fenster, das zum Hof hinausführte. Meine Tochter Helene sprang zuerst hinaus, dann ich. Mit meiner ganzen Willenskraft nahm ich Fräulein Kaufmann und Fräulein Levy durch das kleine Fenster. Wir verbrachten eine kurze Zeit im Stall bei den Kühen, bis dieses uns nicht länger erlaubt wurde und wir wieder zurück ins Haus mußten.
Wir gingeh auf die erste Etage in ein schmales Schlafzimmer. Im selben Moment kamen schwere Steine geflogen. Diese Steine waren vom Umbau bei Herrn P . . . übriggeblieben, und Matthias G . . . benützte sie in der Absicht, uns zu töten, da dieses nur noch der einzige Raum im Haus war, wo wir uns noch im letzten Moment aufhalten konnten. Alles war ein Trümmerhaufen, und keine Türen noch Fenster waren mehr im Hause.
Wir retteten uns später in der Nacht zur Kettengasse und wurden alsdann ins Haus meiner Schwägerin gebracht, Fräulein Kaufmanns Haus, wo wir noch während der Nacht den Arzt für mich benötigten. Ich selbst bin seit dieser Zeit krank und komme von einem Krankenhaus ins andere. Arbeiten kann ich nicht mehr wegen all dem, was hinter mir liegt . . ,"1).
Als Beweis dafür, dass wirklich viele Teilnehmer an der „Kristallnacht" Einheimische waren, folgte nach dieser Schilderung eine detaillierte Namensliste, die jedoch hier nicht publiziert werden soll. Immerhin kamen 13 aus Münstereifel-Stadt bzw. dem unmittelbaren Randgebiet und einer aus Stroheich bei Hillesheim. Die gewissenhaft aufgeführte Täterliste beweist aber auch, dass zwei noch heute stadtbekannte Akademiker ihren nationalsozialistischen Beitrag geleistet haben.
Auf der traditionsreichen Orchheimer Straße, der Hauptstraße des kleinen Voreifelstädtchens, lagen Tuchballen, Kleider und Schuhe aus den Geschäften von Carl und Oskar Nathan. Hier wurden auch alle Einrichtungsgegenstände zerschlagen. Willibald Kolvenbach recherchierte, dass man den Personenwagen von Hugo Wolff aus der Stadt schob, um ihn dort zu verbrennen. Die Synagoge auf der Orchheimer Straße wurde geschändet. Zu weiteren Brandstiftungen kam es nicht, weil
man mit Recht eine Gefahr für die ganze Stadt befürchtete. Der seit 1823 im Queckenwald bestehende jüdische Friedhof wurde verwüstet, die Grabsteine wurden umgestoßen und zum Teil zerstört 2).
Die Bevölkerung von Münstereifel wurde dann durch ein Flugblatt über die wahren „Gründe für diese Maßnahmen" aufgeklärt. Es war von den Ortsgruppen der NSDAP in Münstereifel-Stadt und -Land in aller Eile gedruckt und verteilt worden 3). In der Argumentation erinnerte es an die Pressekampagne des „Westdeutschen Beobachter" und hat wahrscheinlich schon deswegen nicht alle Münstereifeler überzeugen können.
Am 14. November 1938 gab der Bürgermeister von Münstereifel einen Bericht über den Pogrom in der Stadt an den Landrat:
„Zerstörungen haben stattgefunden:
1. Im Konfektions- und Schuhwarengeschäft Hugo Wolff, Münstereifel, Orchheimer Straße. Der Schaden beträgt etwa 2000 Reichsmark.
2. Im Konfektionsgeschäft Karl Nathan, Münstereifel, Orchheimer Straße. Der Schaden l beträgt etwa 1500 Reichsmark.
3. Im Schuhgeschäft Oskar Nathan, Münster-eifel, Orchheimer Straße. Der Schaden beträgt etwa 100 Reichsmark.
4. In der Wohnung des Viehhändlers Andreas Kaufmann, Münstereifel, Entenmarkt. Der Schaden beträgt etwa 1000 Reichsmark.
5. In der Wohnung des Viehhändlers Adolf Wolff, Münstereifel, Markt. Der Schaden beträgt etwa 1800 Reichsmark 4)".
Nach übereinstimmenden Augenzeugenberichten waren die Schäden wesentlich höher.
Der Destruktionstrieb der Menschen ist selten auf dem Lande so ausgelebt worden wie während der „Kristallnacht". Schon dieser Ausdruck für das systematische Zerstören jüdischen Besitzes verniedlichte das Geschehen und schien ausdrücken zu wollen, als ob alle Juden reich seien . . . Der vom Propagandaministerium geprägte Ausdruck verunsicherte somit das Rechtsempfinden des schlichten Landbewohners und der oft human empfindenden Bürger und Kleinstädter.
In Kommern war die tatsächlich wohlhabende Familie Levano — trotz häufiger Beschuldigung, „Kriegsgewinnler" zu sein — als wohltätig und spendabel bekannt. Im Kreiswochenblatt hatten sie oft Mitbürger zu ihren Familienfesten eingeladen. Daher muss es für viele Einheimische schockierend gewesen sein, als der zuständige NSDAP-Leiter mit allen Mitteln versuchte, den einst florierenden
Getreidehandel stillzulegen, so dass mancher Dorfbewohner seine sichere Stellung verlor.
Am 10. November kamen auswärtige SA-Männer, unterstützt von einigen Nationalsozialisten der einquartierten Westwall-Arbeiter, nach Kommern in die Voreifel. Sie hielten auf der Kölner Straße in Höhe der heutigen Poststelle. Zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren beobachteten von einem Garten aus die Männer und hörten, wie sie sich nach der Synagoge erkundigten und davon sprachen, sie anzuzünden. Die Kinder rannten nach Hause, um die Eltern zu alarmieren. Wenig später jedoch loderten die Flammen schon aus dem jüdischen Bethaus in der Pützgasse — nur die Mauern blieben stehen, wie auch das Getreidelager der Levanos5). Der später nach England geflüchtete Siegmund Kaufmann gab dort den Tatbestand folgendermaßen zu Protokoll:
„Als ... ihr kleiner Heimatort von Pogromen heimgesucht wurde, schleppte man den damals 61jährigen Siegmund Kaufmann weg, während seine Frau und die beiden Töchter auf die Straße gejagt wurden. Das Haus wurde vollkommen demoliert, das ganze Geschirr zerschlagen, die Möbel kaputtgehauen, die Teppiche zerschnitten. Die Synagoge brannte. Kein ,Arier' hatte gewagt, die Juden zu beherbergen — aus Angst vor Strafe. Man konnte deutlich spüren, dass kein Hass da war, sondern nur Mitleid. Es war ja nur ein kleines Städtchen, und jeder kannte jeden. Ein katholischer Pfarrer hatte sogar zwei Verwandte von Siegmund Kaufmann für eine Nacht aufgenommen. Die Polizei half, jüdische Leute zu finden, die ihnen für diese Nacht Unterkunft gewährt hatten. Frau Kaufmann und ihre Töchter gingen am nächsten Morgen in ihr zerstörtes Haus zurück. Sie hatten nur das eine Ziel vor Augen, den Vater zu befreien.
Siegmund Kaufmann wurde .. . morgens um 10.00 Uhr verhaftet. Erst kam er nach Zülpich ins Gefängnis, dann in ein Sträflingsheim bei Köln. Von dort transportierte man ihn nach Dachau. Seine Kleider wurden ihm abgenommen. Er mußte einen Sträflingsanzug tragen. Die Gefangenen lagen auf Pritschen eng aneinandergepresst. Das Essen bestand aus einer Wassersuppe, in der einige Gemüsestückchen schwammen. Gearbeitet hat Kaufmann nicht, aber täglich mußte er sich zum Appell anstellen, und sie wurden gezwungen, Übungen zu machen. Er ist auch nicht misshandelt worden, aber es wurde ihm erzählt, dass die Juden eine ganze Nacht unbeweglich still stehen mußten, weil ein Jude irgendeines Vergehens beschuldigt wurde.
Frau Kaufmann und ihre Tochter Emmy haben die drei Orden des Vaters einem Gesuch beigelegt, das ihnen ein Verwandter, ein Rechtsanwalt, aufgesetzt hatte. Sie sind damit zur Gestapo gegangen und haben wirklich die Freilassung von Siegmund Kaufmann erwirkt. Herr Kaufmann wurde nach acht Tagen entlassen, und es wurden ihm seine Kleider wiedergegeben. Doch bevor er Dachau verließ, mußte er sich verpflichten, nichts zu erzählen, was er dort gesehen hatte. Und es wurde ihm gedroht, dass er wieder eingesperrt würde, wenn er das Versprechen nicht hielte.
Siegmund Kaufmann kam nach Kommern zurück und wurde gezwungen, Land und Haus zu verkaufen und seine Metzgerei zu schließen. Eines Tages ließ ihn der Bürgermeister W... rufen, er hätte die Steuern nicht bezahlt und müsse deshalb 5000 RM hinterlegen. Herr Kaufmann hatte aber die Steuern bezahlt, und es gelang ihm, den Erpresser mit 500 Mark zu befriedigen. Dieser Bürgermeister hatte auf diese Weise auch bei anderen Juden Gelder erpresst und sich auf deren Kosten bereichert.
Die Familie Kaufmann ist dann bald nach England ausgewandert; nur mit einem Koffer ausgerüstet, kam sie in London an . . .,6)."
Die Aussagen jüdischer Einwohner Kom-merns unterscheiden sehr deutlich zwischen Nazis und Nicht-Nazis. In dem in der Londoner Wiener Library hinterlegten Protokoll der Familie Siegmund Kaufmann wird ganz besonders die Familie Golden hervorgehoben. Frau Golden kümmerte sich nach der „Kristallnacht" um die jüdischen Kinder: „Diese Frau schlich oft nachts heimlich durch die Hintergärten, um den Kindern, die vollkommen abgerissen und ausgehungert waren, Kleider und Lebensmittel zu bringen. Unter Lebensgefahr! — Auch der Postmeister Holt-zem muss hier erwähnt werden" 7).
Jahre später stellte sich erst heraus, was noch in der „Kristallnacht" von Kommern geschah:
„Am 10. November 1938 arbeitete ich auf dem Bauernhof in der Burgstraße. Die Mittagspause war gerade beendet, als wir im Dorf Feueralarm hörten. Der Feuersäule nach konnte der Brand nur in der Hüllenstraße oder in der Pützgasse sein. Da ich gut zwei Monate vorher das Wohn- und Geschäftshaus Hüllenstraße von den Erben Löwenstein (jüdische Familie) gekauft hatte, bekam ich Angst und fuhr sofort mit dem Fahrrad dorthin. Meine Fahrt endete im Hof des jüdischen Markus Schmitz, der mit seiner Frau ein Gemischtwarengeschäft betrieb. Markus Schmitz war in erster Ehe mit einer geb. Löwenstein verheiratet und hatte 1938 das Amt des Vorstehers der Synagogengemeinde inne. Sofort erkannte ich, dass die Synagoge brannte, die sich hinter dem Garten von Markus Schmitz befand.
Ich hörte Menschen johlen und schreien. Andere schrien Befehle. Genau sehen konnte ich nichts, weil beide Grundstücke durch eine zwei Meter hohe Mauer getrennt waren, was übrigens auch heute noch der Fall ist.
Jetzt hatten mich auch Markus Schmitz und seine Frau erblickt. Sie kamen zögernd in den Garten. Wir diskutierten über die Brandstifter. Das jüdische Ehepaar wusste wohl noch nichts über die Grynspan-Affäre und vermutete sogar, einheimische Kinder hätten Feuer in der Synagoge gelegt. Heute meine ich, dass die jüdische Familie mehr wusste, als sie damals zugab.
Da sich nichts Neues tat, fuhr ich mit dem Fahrrad zur Arbeit zurück, in der Annahme, die hiesige Feuerwehr würde sich schon um den Brand kümmern.
Kurz nach 18.00 Uhr aßen wir zu Abend, als wir plötzlich gewahr wurden, dass ganz in der Nähe, aus dem stattlichen Haus der Familie Levano, Möbel auf die Straße geworfen wurden. Einheimische Nazis waren in voller Aktion. Etwa 100 Dorfbewohner standen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrten in das hellerleuchtete Haus. Wir sahen keinen Fremdarbeiter, dafür aber erschreckte Mädchen der jüdischen Familie und Rabauken, die sogar einen großen Schrank mit wertvollen Kristallsachen nach vorne kippten. Dies alles beobachteten wir machtlos etwa VA Stunden. Inzwischen hatten sich weitere Dorfbewohner eingefunden, die über ähnliches in der Kreisstadt Euskirchen berichteten. Alle Geschäftshäuser hätte man
zerstört und sogar die Synagoge ausbrennen lassen! Auch der aus unserem Dorf stammende Möbelhändler Hörn hätte in Euskirchen durch Brand seine Existenz verloren.
Als ich von Zerstörungen in Kommern hörte, befürchtete ich, dass mein neuerworbenes Haus in der Hüllenstraße gefährdet sei. Es hätte ja immerhin sein können, dass man Markus Schmitz noch als Besitzer vermutete.
Mit einem Freund schlich ich zu dem heutigen Haus Nr. 16—18, wo anscheinend alles ruhig war. Jedoch hörte ich von den Fensterladen aus, dass im Hause selber viele Menschen beteten und schluchzten. Da klopfte ich an die Fensterlade, und sofort wurde alles still. Als mich der ängstliche Synagogenvorsteher erblickte, ließ er mich und meinen Freund sofort hinein und bat uns um Beistand für die etwa 15 hier versammelten Menschen. Ich weiß noch genau, dass z. B. Lenchen und Selma Frohwein mit zwei Kindern hier waren, Abraham Hörn und Frau, Frau Steinhardt, Frau Levi mit Kind, die sonst in der Weingartenstraße wohnte . . .
Diese Menschen waren mir deshalb so vertraut, weil wir bis 1932 in nächster Nachbarschaft mit ihnen gewohnt hatten. Wegen der Ereignisse in den letzten Jahren hatten wir alle nicht mehr miteinander gesprochen, und so war die Begegnung jetzt besonders herzlich.
Als plötzlich Dachpfannen schepperten, stürmte ich nach draußen und sah zwei Westwall-Arbeiter, die mit Steinen auf mein Haus warfen. Sie glaubten, dass Haus sei noch in jüdischem Besitz und ließen sich nur schwer von weiteren Zerstörungen abbringen.
Während die jüdischen Mitbewohner unter sich blieben und im Wohnzimmer beteten, hielt ich mich mit meinem Freund bis etwa Mitternacht lesend rechts neben dem Ladenlokal auf. Dann ging mein Freund nach Hause, und ich schlug den verängstigten Juden vor, sie ins Kloster zu bringen. Alle erhofften, mit meiner Hilfe bei den Nonnen Schutz zu finden. Ich selber hatte Angst, wenn ich an den Weg dorthin dachte, und hoffte, dass mich keiner unterwegs sehe. Eigentlich brauchten ja nur 100 Meter von der Hüllenstraße entlang zum Kloster zurückgelegt zu werden.
Wir traten alle auf die Straße und verhielten uns ruhig. Die beiden älteren Frauen, Frau Schmitz und Frau Hörn, hatten sich bei mir eingehakt. Vorsichtig zogen wir los und bemerkten links lebhaften Betrieb zwischen Rathaus und Parteilokal, rechts Krach im Hause Levano. Es bedeutete für uns alle einen großen Schock, als wir plötzlich feststellen mußten, dass der Haupteingang verschlossen war und wir zum Hintereingang schleichen mußten. Als wir etwa 50 m davon entfernt waren, lief Herr Schmitz schon vor, kam aber dann zurück und bat mich ängstlich, doch die Glocke zu läuten. Erst kamen der Nachtwächter, dann die Mutter Oberin in Begleitung einer weiteren Nonne heraus. Wir kannten uns alle persönlich. Ich erzählte von dem Geschehen und der Angst unserer Kommerner Juden. Alle durften sofort ins Kloster kommen!
Auf dem Heimweg kam ich an dem Parteilokal R. vorbei, wo noch große Stimmung herrschte. Ich ging hinein und trank noch einige Glas Bier. Innerlich war ich zu erregt, um irgendeinen Kontakt mit diesen Menschen zu finden.
Da ich die Schlüssel von Markus Schmitz hatte, konnte ich mit seiner Genehmigung in die Wohnung gehen, um seinen Besitz zu sichern. Diese Aufgabe nahm ich sehr ernst. Der Vorsteher der Synagogengemeinde dankte mir später, und unser Kontakt hielt noch lange an, zumal wir danach noch 5 Monate gemeinsam unter einem Dach lebten.
Morgens gegen 5.30 Uhr kehrte ich erst nach Hause zurück und kam dann wieder am Hause Levano vorbei. Am Kellereingang saßen immer noch mir bekannte Parteigenossen und tranken aus den Beständen des Weinkellers. Ich wurde aufgefordert, mitzutrinken, konnte aber glaubhaft versichern, dass ich schon auf dem Wege zur Arbeit wäre. Sicher vermuteten sie, dass auch ich in der .Kristallnacht' in Kommern aktiv mitgewirkt hätte und somit eine Stärkung verdient hätte.
In der Küche traf ich meine Mutter, deren Hauptsorge war, ob mich eventuell jemand bei meiner,Hilfsaktion' beobachtet hätte."
Im Mai 1939 wurden dann die ersten Juden aus Kommern in das ehemalige Haus Frohwein in der Kölner Straße „umgesiedelt". Familie Schmitz gehörte auch dazu. 1942 wurden alle deportiert 8).
In vielen Orten waren es meist auswärtige Rollkommandos, die die Synagogen oder Betstuben anzündeten oder zerstörten. Dr. Max Felsenmeyer, 1978 stellvertretender Bürgermeister von Schieiden, bestätigte, dass in seiner Heimat auch Einheimische mithalfen. In Hellenthal war ein nach dem Kriege recht wohlhabend gewordener Unternehmer dabei und entpuppte sich am 10. November 1938 als sehr aktiver SA-Mann. Vor dem Schöffengericht in Gemünd wurde er nach dem 2. Weltkrieg der vorsätzlichen Brandstiftung angeklagt. Auch der Brand der Synagoge von Gemünd fand vor dem Gemünder Gericht ein Nachspiel. Ein Brandmeister der Feuerwehr war angeklagt, weil er nicht gelöscht hatte9). Von diesem Gotteshaus steht heute nur noch ein Mauerrest am Ende der Kreuzbergstraße.
Im damaligen Kreis Schieiden, der heute zum Kreis Euskirchen zählt, lebten verhältnismäßig wenig Juden. Im Jahre 1925 gab es hier die letzte aufschlussreiche Volkszählung. Während es im Kreise Euskirchen 1,4 % Juden gab, lag die Prozentzahl in Schieiden mit nur 0,6 % deutlich darunter. Zentren waren hier Helienthal, Gemünd, Kall, Blumenthal und Mechernich. Aber auch in diesen Orten betrug die Zahl der jüdischen Einwohner kaum mehr als 100.
Bis zur „Kristallnacht" dachten tatsächlich auch viele Eifelbauern, dass alle Juden sehr reich seien. Nur kritischen und gebildeten Zeitgenossen war klar, dass dies eine zweckdienliche, von den Nationalsozialisten propagierte Lüge war. Der Chronist und Heimatforscher von Gemünd, Paul Schröder, resümiert, dass es zwar einige wohlhabende jüdische Familien gab, aber diese eigentlich doch nur dem bürgerlichen Mittelstand angehörten. Doch seit 1964 gewinnt die Legende vom „reichen Juden" wieder an Bedeutung. Nach einer Zeitungsnotiz vom Mai des Jahres wurden bei Abbrucharbeiten eines ehemals jüdischen Hauses in Kirschseiffen angeblich 700 000 RM gefunden, die man kurz vor dem November-Pogrom versteckt hatte. Am 10. November 1938 wurden aus dem Kreis Schieiden 23 jüdische Einwohner aus Kirschseiffen, Hellenthal, Schieiden, Mechernich, Kall, Gemünd, Nettersheim und Dollendorf deportiert und meist erst gegen das Versprechen, ihren Besitz zu veräußern und auszuwandern, wieder freigelassen.
Im Jahre 1903 wurde die Synagoge in Blumenthal erbaut und im Sommer 1904 feierlich eingeweiht. Anwesend waren ein Rabbiner, die gesamte Synagogengemeinde Blumenthal/Hellenthal sowie sämtliche Honoratioren. Für eine noch zu schreibende Judaica der Eitel sei darauf hingewiesen, dass sich die frühere Synagoge im heutigen Haus Karl Josef Giefer befand. Nach der „Kristallnacht", die in Blumenthal die gleichen Zerstörungen zur Folge hatte wie anderswo, hatten sich am Tage darauf alle männlichen Juden vor dem zerstörten und ausgebrannten Gotteshaus zu versammeln, den Hut abzuziehen und sich vor den anwesenden SS- und SA-Männern zu verneigen. Eine entehrende Situation!
Wenn auch auf dem Lande später manches anders verlief als in den anonymen Großstädten, so wissen wir heute doch, dass die „Kristallnacht" der Anfang vom Ende war. Ende
Mai 1941 folgten die ersten Umsiedlungen und im Sommer 1942 die Deportationen, von denen die meisten Eifeler Juden nicht mehr zurückkehrten.
Anmerkungen:
1) Eidesstattliche Erklärung von Frida Kaufmann, geb. am 24. 5. 1887 in Veldenz a.d. Mosel, vor dem Notar von Sioux City/Iowa v. 20.12.1948 (Fotokopie im Besitz des Verfassers).
2) Kolvenbach, Willibald: Geschichte der Juden in Münstereifel, Examensarbeit 1962
3) Ebenda, S. 54
4) Ebenda
5) Kölner Stadtanzeiger, Teil Euskirchen, v. 9. 11. 1978.
6) Original-Protokoll von Siegmund Kaufmann, aufgenommen am 31. 3.1955, deponiert in der Wiener Library/London, P ll/d - No. 40, ausgehändigt mit Genehmigung von Frau Emmy Golding, geb. Kaufmann, am 3. 2. 1982.
7) Ebenda sowie persönliches Schreiben v. 5.1. und 3.2.1982
8) Protokoll v. 30.10. 1982 (J. H. aus Kommern)
9) Kölner Stadtanzeiger, Teil Euskirchen, v. 9. 11. '1978