KINDERTRANSPORTE. Überlebt, aber nicht überwunden.
Das Schicksal der Helga Leiser aus Drove

von Hans-Dieter Arntz
19.11.2015

Die Zahl der jüdischen Zeitzeugen und der dem Holocaust Entkommenen wird immer kleiner. Umso dankbarer muss man sein, wenn ihre Nachkommen den oft bedrückenden Nachlass nicht gedankenlos entsorgen, sondern der Regionalhistorie zur Verfügung stellen.

 

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Die jüdische Schülerin Helga Leiser aus Drove (ganz oben links stehend in weißem Kleid und Armbanduhr)
bei einem Klassenausflug nach Schwammenauel bei Heimbach in der Eifel (1938)

 

Im Herbst des letzten Jahres machte mir der Genealoge und Lokalhistoriker Stefan Kahlen, Autor des Buches „Far Away from Würselen“, erneut interessantes Material zugänglich: die Korrespondenz zwischen den jüdischen Mädchen Edith Leiser (Weilerswist) und Helga Leiser (Drove). Der nicht nur genealogisch interessante Briefwechsel wurde ihm von Miriam (Mimi) Rose geb. Voss, aus Albuquerque, New Mexico, USA, einer verstorbenen Verwandten von Helga, zur eventuellen Auswertung überlassen. Bewegend ist der kindliche Briefwechsel zwischen den Cousinen Helga und Edith, so dass eine historische Auswertung auch aus diesem Blickwinkel und der Weilerswister Situation möglich gewesen wäre.

 

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Stefan Kahlen und ich einigten uns jedoch, den Dürener Regionalhistorikern Schnitzler und Nolden die Auswertung zu überlassen, weil die meisten Briefe zwischen England und dem bei Düren gelegenen Ort Drove gewechselt wurden. Klaus Schnitzler und Karl-Josef Nolden hatten sich bereits vor sieben Jahren mit ihrem Buch „ lokale Verdienste erworben, so dass bei ihnen der Nachlass in den richtigen Händen lag.

Jetzt handelte es sich um mehrere hundert Originalbriefe aus der Zeit zwischen 1938 bis 1942 und viele inhaltlich wertvolle Fotos. Auch ein aus dem Jahre 1916 in Breslau publiziertes „Gebet- und Erbauungsbuch für Israels Frauen und Jung-Frauen zur öffentlichen und häuslichen Andacht, sowie für alle Verhältnisse des weiblichen Lebens“ , Kinderschuhe und andere Habseligkeiten, die die damals 13-jährige Helga Leiser auf ihrem Kindertransport nach England mitnehmen konnte, gehörten zu dem Paket aus den USA.

 

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Etwa 10.000 jüdische Kinder - ohne ihre Eltern, meist als einzige Familienüberlebende - aus dem Deutschen Reich und den von ihm besetzten Gebieten fanden zumeist in Großbritannien, aber auch in anderen Länder, die sich zu ihrer Aufnahme bereit erklärt hatten, eine neue Heimat. Diese „Kindertransporte“ waren bewundernswerte Rettungsaktionen, die in den Monaten nach dem Novemberpogrom 1938 anliefen. Zu den verschickten Kindern gehörten zum Beispiel auch die aus Gemünd stammende Hannelore Zack, über die ich bereits unter der Überschrift Rettung jüdischer Kinder durch den „Winton-Train“ und das englische Projekt „Refugee Children Movement“. Das Beispiel der Johanna Zack aus Gemünd/Eifel auf meiner regionalhistorischen Homepage berichtet habe.

Auch die aus Drove stammende Helga Leiser verdankt ihr Leben der englischen Initiative, während ihre Eltern und anderen Angehörige im Holocaust umkamen.

testHanna Miley geb. Zack hat bereits ein Buch über ihre Rettung und ihr Leben in der Emigration verfasst. Die heute in Phoenix, Arizona, und in der Eifel lebende Holocaust-Überlebende aus Gemünd, veröffentlichte ihre biografischen Erinnerungen und den langen Weg zurück in die Eifeler Heimat: „Meine Krone in der Asche. Der Holocaust, die Kraft der Vergebung und der lange Weg zur persönlichen Heilung.“ (Verlag fontis, Basel, ISBN: 978-3-03848-010-5).

Dies holten nun auch die Regionalhistoriker Klaus Schnitzler und Karl-Josef Nolden exemplarisch für den Dürener Raum nach. Ihr 136 Seiten starkes Buch Kindertransporte. Überlebt, aber nicht überwunden. Das Schicksal der Helga Leiser aus Drove erschien Anfang November 2015 im Hahne & Schloemer Verlag Düren.

Publiziert werden wichtige Passagen aus den vielen Briefen, die die Eltern, Verwandten, Nachbarn und Freunde aus Drove an die in England lebende Helga Leiser geschrieben haben. Der Dürener Verlag nennt hiervon einiges in seiner Vorschau:

„Es ist ein furchtbares Gefühl, ich lebe hier wie im Schlaraffenland ... wann kommt ihr endlich nach?“, schreibt die vierzehnjährige Helga Leiser sinngemäß immer wieder seit Juni 1939 aus England an ihre Eltern. „Liebes gutes Hümmel­chen, wir kommen wieder nicht zum Reisen ...“, antworten die Eltern stets aus Drove oder: „Habe Geduld, Gott hilft“ und „Wir warten noch auf Bürgschaft.“ Was für eine unglaubliche seelische Belastung für alle, und was für ein Terror! In England die Tochter Helga in Sicherheit, aber elternlos, zu früh und brutal erwachsen geworden. Und hier in Drove die Eltern Isidor und Billa und die Tanten Jutta und Selma in ständiger Gefahr, den mordenden Nazis nicht mehr entfliehen zu können. Einerseits Erleichterung über die Rettung ihrer Tochter Helga und andrerseits Angst vor den Nazis. Sehnsucht und Sorge auf beiden Seiten und die Hoffnung, dass doch alles gut wird.

 All das liest sich in den Briefen, die von 1939 bis 1942 zwischen Helga Leiser in England und ihren Eltern Isidor und Billa Leiser in Drove hin und her gingen, bis diese in das Ghetto in Izbica deportiert und schließlich ermordet wurden. Die Briefe verschlagen einem oft den Atem, wie Mutter und Vater versuchen, das Familienleben über Zeit und Raum zu bewahren. Vater Isidor versucht, seine Erziehungsgrundsätze durchzusetzen, und Mutter Billa berät ihre Tochter in allen Lebensfragen. Die Angst um das Kind kriecht zwischen die geschriebenen Zeilen; über allem liegt der deutsche Wahnsinn jener Jahre, der in den vielen Briefen konserviert wurde. Diese sind schließlich Dokumente gegen das Vergessen.

Helga Leiser war die Tochter von Isidor und Sibilla Leiser aus Drove. Über Isidor Leiser schrieb der Nobelpreisträger Heinrich Böllin seinem Essay „Die Juden von Drove”.

Ein letztes, das allerletzte Lebenszeichen eines deportierten Drovener Juden brachte Tillmann Hoff - eben jener, der sich als Feuerwehrmann weigerte, zum Synagogenbrandstifter zu werden - im Sommer 1942 mit aus Warschau. Mit einem Lazarettzug fuhr er als Verwundeter in den Warschauer Zentralbahnhof ein, der Zug hatte sechs Stunden Aufenthalt, und Hoff beobachtete, auf einer Wagenrampe sitzend, eine Gruppe älterer Leute, die am Schotter arbeiteten. Er erkennt darunter den Bäcker Leiser, diesen stillen hageren Mann, bei dem man Brot und Brötchen kaufte, der den vorbereiteten Sonntagskuchen der Familien um eine geringe Gebühr in den Ofen schob - er rief Leiser mit seinem Vornamen an' "Isidor!", wurde vom Posten, der die Kolonne bewachte, vertrieben, sammelte dann von den Kranken und Verwundeten im Lazarettzug, die gerade neu verpflegt wurden, Lebensmittel. Es gelang ihm später, sie Leiser zuzustecken und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Er fragte nach Frau und Kindern, über deren Schicksal Leiser nichts wusste.

Helgas aus Weilerswist stammende Cousine Edith (*1931, † 1942 Izbica) kam mit ihren Eltern - Hermann Leiser und Johanna geb. Carl - im Holocaust um. Über das Schicksal der Familie Leiser aus Weilerswist findet man viele Details in dem Buch von Helene Kürten und Margarete Siebert „Vergangenheit – Unvergessen“. Zusammenfassend heißt es dort (S. 41 ff.):

... Die Familie Leiser-Carl wohnte in Weilerswist und zog am 10. Januar1939 mit den Eltern von Johanna Carl nach Drove. Sie wohnten dort im Haus von Leo Kaufmann, einem Verwandten von Hermann Leiser. 1942 erfolgte die Internierung in der Villa Buth in Kirchberg bei Düren, von dort die Deportierung nach Izbica bei Lublin. Ihre Tante Mechthildis Dardenne geb. Carl, die 1943 bis 1945 in dem Ghetto Theresienstadt lebte, führte dazu aus: »Johanna, Hermann und Edith waren in Lublin. Anfangs konnte ich ihnen noch schreiben und etwas schicken, dann auf einmal nicht mehr, und ich bekam auch von niemanden mehr ein Lebenszeichen.«

 

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