Politisch motivierte Mobilität zwang die Juden, auch durch Landstriche zu wandern, die sie sonst als Wohnstätte nie bevorzugt hätten. Nur so ist es zu verstehen, dass sich seit dem 12./13. Jahrhundert Juden auch in der Voreifel niederließen. Mit Münstereifel und Euskirchen sind spätestens seit 1349 kleine jüdische Gemeinschaften nachweisbar. Ihre erste Erwähnung geht auf Pogrome im Jahre 1349 zurück. Angeblich verantwortlich für Pest, Hostienschändung und Wirtschaftskrisen, drang man in ihre Häuser ein, und „das Landvolk erschlug sie fast alle“. So ist es im Deutzer und Düsseldorfer „Memorbuch“ nachzulesen.
Während in den Städten am Rhein strenge Gesetze für das Wohnrecht von Juden galten - immerhin durfte im Kölner Stadtgebiet von 1424 bis 1794 kein Jude seßhaft sein - gewann das Hinterland an Bedeutung. Besonders das Dreieck Köln, Bonn und die Voreifel wurde von den vielen jüdischen Händlern und Metzgern bevorzugt, gab es doch gerade hier hervorragende Standortpräferenzen. Die Eifel selber war wegen der Unwirtlichkeit und Kargheit unbeliebt.
Die Geschichte der Juden in der Voreifel, die in der umfangreichen Dokumentation „JUDAICA“ ausführlich in Wort und Bild dargelegt wird, beweist, dass in dem toleranten Klima des Dorfes Flamersheim nicht nur Evangelische, sondern auch Juden harmonisch mit der katholischen Bevölkerung zusammenlebten. Typische Ghettos - schon in Anbetracht der wenigen hier lebenden Familien -gab es in der Voreifel nicht. Auch in Flamersheim, wo mit Jacob Wallich und Wolff Judt 1659 die ersten Juden benannt wurden, stand man nie unter dem Druck, in beengten Gassen wohnen zu müssen. Während im 16. Jahrhundert die deutschen Christen erstmals die Erfahrung machten, die den Juden längst in Fleisch und Blut übergegangen war, nämlich dass man um seines Glaubens willen verfolgt, vertrieben und vernichtet werden konnte, stärkte die religiöse Toleranz von Flamersheim das Gefühl nach Sicherheit und Geborgenheit. Hier und später auch in Großbüllesheim waren die Burgen der Herren von Quadt, die als Besitzer der Herrschaft Landscron und danach als sogenannte Unterherren der herzoglich jülischen Oberhoheit in der Voreifel segensreich wirkten.
Sie gewährten in einer streng katholischen Region den Evangelischen die ersten Kultusstätten und verteidigten diese im Laufe der Zeit in einer Art, wie sie im 16.lYJ. Jahrhundert wohl einmalig war.
Die auch von der Bevölkerung gezeigte Toleranz wirkte sich sehr positiv aus und ist auch sicher ein Faktor dafür, dass um die Jahrhundertwende aus Flamersheim das im Rheinland so bekannte „JUDENDORF“ wurde. Etwa 13 % der gesamten Bevölkerung war um 1900 in Flamersheim jüdisch!
Man täte den vielen jüdischen Flamersheimern Unrecht, wenn ihre Bereitschaft, in der kommunalen Verwaltung Verantwortung zu übernehmen oder mildtätig zu sein, negiert würde. Andererseits jedoch darf man nicht vergessen, dass viele Voreifeler – und auch Flamersheimer – Juden recht arm waren, was später keineswegs in das Bild passte, was sich die Nationalsozialisten vom „reichen Juden“ machten.
Überregional wurde ab 1670 Joseph Wolff aus Flamersheim bekannt, der als Thoralehrer wirkte und selbst im jüdischen Voreifel-Zentrum Euskirchen eine anerkannte Tätigkeit ausübte.
Mit Mencken Wolff (1699-1744) ist uns auch der erste Judenvorsteher von Flamersheim bekannt. Wir erinnern uns daran, dass Arthur Weiss der letzte Vorsteher war. Mit seiner Familie konnte er 1938 noch rechtzeitig nach Palästina emigrieren. Dort befindet sich auch noch eine Thorarolle, die in der Flamersheimer Synagoge in der Valdergasse jahrzehntelang Verwendung fand.
In Schultes Buch „Dokumentation zur Geschichte der Juden am linken Niederrhein“ ist u. a. nachzulesen, dass um 1820 Josef und Jacob Wendel wohlbestellte Händler in Flamersheim waren...
Im 18. Jahrhundert waren die Juden von Flamersheim und Kirchheim in gottesdienstlicher Hinsicht miteinander verbunden. Die Lehr- und Betstube befand sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im Wohnhaus der Familie Wendel in Flamersheim, nahe beim Markt, das die alte Bezeichnung Pützgasse 118 trug. Erster namentlich bekannter Lehrer und Prediger war Israel Beer, von dem es 1719 heißt, er versehe sein Amt, ohne eine Nebentätigkeit oder Handel zu betreiben. An dem Gottesdienst in Flamersheim nahmen bis 1874 auch die Juden von Schweinheim teil. Damals fasste der Lehr- und Betraum gerade noch diese Familien. Im Jahre 1879 konnte man in der Valdergasse, direkt neben dem Anwesen der Familie Herz, eine Synagoge einweihen, in der etwa 60 Plätze vorhanden waren. Die Baukosten betrugen 7 500 Mark.
Von 1856 bis zu seinem Tode war Michael Wendel Vorsteher der Flamersheimer Synagoge. Im Amte folgten ihm sein Sohn Ferdinand Wendel, der um 1901 nach Euskirchen verzog, und sein Schwiegersohn Julius Cleffmann (1844-1932). Dieser war einer der angesehendsten Juden in Flamers-heim. Um die Cleffmannsche Familiengeschichte zu ergänzen, sei gesagt, daß der gleichnamige Sohn und seine Schwester Rosalie David, Ehefrau des bekannten Bonner Facharztes für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Dr. David in der Herwarthstraße, mit dem letzten Schiff vor Kriegsausbruch Europa verließen und nach Casablanca zogen. Hier lebt Ilse David noch heute, die Tochter des Bonner Arztehepaares. Für Flamersheimer Heimatkundler könnte es von Interesse sein, dass diese in zweiter Ehe mit dem Rechtsanwalt Maurice Schumann, einem Bruder des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten und Außenministers Robert Schumann (1886-1963), verheiratet ist. Große Teile des Weidelandes zwischen Flamersheim und Kirchheim befinden sich heute noch in ihrem Besitz. Julius Cleffmann starb am 27.11.1952, Rosalie David geb. Cleffmann am 29.1.1966. Beide sind auf dem jüdischen Friedhof in Bonn beerdigt.
In der bereits erwähnten Dokumentation „JUDAICA - Juden in der Voreifel“ wird nachgewiesen, wie sich die jüdische Bevölkerung von Kirchheim in der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich nach Flamersheim orientierte und auch dorthin umzog. Ganz besonders deutlich wird dies am Beispiel der Familie Albert Weiss, der seine Familie von Kirchheim nach Flamersheim brachte. Hier heiratete er Mathilde (Amalia) Michel aus Seibersbach und pflegte zudem mit seinen vielen Geschwistern ein inniges Familienleben. Auch die neun Kinder der Ehe Albert/Amalia Weiss vertieften dieses Verhältnis, so dass es kein Wunder ist, dass auch der jüngste Sohn, der berühmt gewordene „Jupp“ Weiss, (der „Juden-Älteste von Bergen-Belsen“) immer ein Familienzentrum war. Viele Fotos beweisen dies.
Es würde hier zu weit führen, die glückliche Zeit der Flamersheimer Juden in der Zeit bis etwa 1930 darzustellen. Dies würde jedoch beweisen – und das gilt für die gesamte Voreifel —, wie unauffällig und harmonisch sie integriert waren. Im Flamersheimer Gemeinderat waren bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung immer auch jüdische Bürger vertreten. Die erhalten gebliebenen Protokollbücher bestätigen zum Beispiel für 1926, „dass Max Oster und Emil Herz an Eides Statt durch Handschlag in das Amt eingeführt wurden“. Jegliches Engagement wurde dann aber ab 1933 im Keime erstickt. Man nahm Emil Herz die kommunale Verantwortung, den Beruf als Kornhändler und schließlich jeden Lebensmut. In der „JUDAICA“ wird das Schicksal der Familie Herz detailliert dargestellt. Der Psycho-Terror durch die Euskirchener Lokalausgabe des „Westdeutschen Beobachters“ zielte auch auf die in Flamersheim beheimateten Juden. Die jüdische Einwohnerschaft war bis 1933 deutlich kleiner geworden, umfasste aber mit 5,6 % noch prozentual dreimal soviel wie die im gesamten Deutschen Reich. Dr. Moritz Herz, bekannter Tierarzt in Flamersheim, wurde 1935 beruflicher Unregelmäßigkeiten beschuldigt. So war es nicht verwunderlich, wenn bis 1938 folgende jüdische Geschäfte im Dorf schließen mussten, weil sie wirtschaftlich nichts mehr erbrachten: Louis Cleffmann, Colonialwaren und Manufakturen (1935), Wolfgang Weiss, Lebensmittel (1937), Leo Arensberg, Metzgerei (1937), Wolfgang Weiss, Viehhandel (1937), Arthur Weiss, Viehhandel (1937), Oskar Aron, Manufakturen (1938), Gustav Oster, Viehhandel (1938), Moritz Daniel, Metzgerei (1938).
Der Wahrheit halber muss gesagt werden, dass sich die Flamersheimer Bevölkerung sehr eingeschüchtert zeigte und, wie von den Nationalsozialisten geplant, sich in Kontakten zurückhielt, was das menschliche Schicksal der Flamersheimer Juden psychisch nicht erleichterte. Nur wenige Frauen, die dem Chronisten inzwischen namentlich bekannt sind, ließen sich nicht einschüchtern und halfen, so lange dies möglich war. Besonders Erna Herz weiß sich einigen Dorfbewohnern sehr verbunden.
Die „Kristallnacht“ am späten Nachmittag des 10. November 1938 ist den heute noch lebenden Flamersheimer Juden in schrecklicher Erinnerung. Die bereits erwähnte „JUDAICA“ hält diese auf den Seiten 289-303 chronologisch fest. Wenn auch Rieka Weiss (heute in den USA lebend) meint, dass kein Einheimischer aktiv sich an den vielen Zerstörungen beteiligte, so weiß der Chronist doch mehr. Er kennt denjenigen, der die auswärtigen Rollkommandos nach Flamersheim lotste und persönlich die Judenhäuser zeigte. Auch diejenigen, die dem jüdischen Kaufmann Isidor Oster das letzte Bargeld stahlen, konnten nicht unbekannt bleiben. Wolfgang Weiss vermisste zwei goldene Frauenringe und andere Schmuckstücke. Gustav Oster wusste die einheimischen Diebe zu nennen, die ihm Wäsche, eine goldene Herrenuhr mit Kette, eine goldene Damenuhr mit Kette, einen Brillantring und eine goldene Brosche stahlen.
Es sei zusammengefaßt aber gesagt, dass sämtliche Zerstörungen durch SA-Männer aus der Bonn-Godesberger Gegend stattfanden und nur 4-5 Flamersheimer ihren nationalsozialistischen Beitrag leisten wollten. Die gesamte Bevölkerung hielt sich sonst entsetzt zurück, und nicht wenige halfen unauffällig bis Mai 1941, als die Flamersheimer Juden nach Zülpich und Sinzenich „umgesiedelt“ wurden.
Ein Dokument ersten Ranges hinterließ Oskar Aron von der Pützgasse, der ein ausführliches Tagebuch schrieb und einen lebhaften Eindruck von der „Kristallnacht“ in Flamersheim geben konnte. Auszüge sind der genannten „JUDAICA“ zu entnehmen.
Mitte Juli 1942 wurden die Flamersheimer Juden, die nicht mehr emigrieren konnten - oder wollten – deportiert und in den „Osten verschickt“. Recherchen ergaben, dass die Flamersheimer Juden ins Warschauer Ghetto kamen. Eine Karte von Emil Herz konnte von einem mitleidigen Soldaten nach Flamersheim geschickt werden. Sie war wohl aus dem Zuge, an der polnischen Grenze, herausgeworfen worden.
Für uns Flamersheimer, die wir am 24. Juni 1984 unserer ehemaligen jüdischen Mitbürger gedenken, sind die Angehörigen der Familien Dr. Moritz Herz, Emil Herz, Arensberg, Wolfgang Weiss, die bis zum letzten Tage in ihrer Heimat aushielten, besonders vertraut. Wir wissen heute, dass mancher noch hätte auswandern können. Aber keiner glaubte wohl daran, dass es im 3. Reich noch schlimmer werden könnte!
Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung aus der umfangreichen Dokumentation "JUDAICA - Juden in der Voreifel", Euskirchen 1983 (3. Auflage 1986).
Er ist ein Beitrag aus dem Erinnerungsbuch, das anlässlich einer Begegnung mit ehemals in Flamersheim beheimateten Juden herausge-geben wurde. Dieses Dorf ist heute ein Stadtteil der Kreisstadt Euskirchen.
LINKS
Jüdische Gäste in Flamersheim: Ein Sonderbericht des Euskirchener Wochenspiegels vom 28. Juni 1984
Vor 23 Jahren: Städtepartnerschaft und Schüleraustausch zwischen Euskirchen und Israel
Deutsch-jüdische Freundschaft zwischen Flamersheim und Tirat Hacarmel
Geschichte der Juden von Flamersheim, in: JUDAICA – Juden in der Voreifel
Wikipedia: Josef („Jupp“) Weiss, der Judenälteste von Bergen-Belsen
Jupp Weiss aus Flamersheim, der Judenälteste von Bergen-Belsen
Würdigung des letzten Judenältesten von Bergen-Belsen: Jupp-Weiss-Straße in Euskirchen-Flamersheim
Gedenktafel und Straßentaufe zu Ehren des „letzten Judenältesten“
Jupp Weiss: Ein großes Vorbild in unmenschlicher Zeit (Euskirchener Wochenspiegel vom 22.05.2013)
Der Rundfunk berichtet über das Buch: „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“
„The Beginning of a Road" (AJR-Journal England, Dec. 2013) (English Version)
Hans-Dieter Arntz schrieb über einen Helden aus Flamersheim (Interview des „Bonner General-Anzeigers“ vom 16. Mai 2013)
Jupp Weiss: Ein großes Vorbild in unmenschlicher Zeit (Euskirchener Wochenspiegel vom 22.05.2013)
Der Rundfunk berichtet über das Buch: „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“