Infolge der immer größeren Zeitspanne und in Ermangelung beweiskräftiger Zeugen und Dokumente wird es heute schwieriger, auf neue oder ungelöste Probleme des Holocaust einzugehen. Jedoch bleibt der Eindruck, dass die Dimension des Grauens unfassbar ist und die historische, juristische und politische Aufarbeitung auch noch künftig viele Fragen aufwirft.
Oft konnte man deutlich zwischen Tätern und Opfern unterscheiden. Aber meist unklar blieb das Verhalten derjenigen, die aufgrund einer oktroyierten Funktion den rassistischen Nationalsozialisten dienlich sein mussten. In diesem Zusammenhang spricht man von „Funktionshäftlingen“, die von SS-Bewachern als Aufseher im Arbeitseinsatz oder zu anderen Kontroll-, Ordnungs- und Verwaltungsaufgaben gegenüber Mitgefangenen eingesetzt wurde. Solange sie ihre Aufgaben zur Zufriedenheit der Bewacher erledigten, blieben ihnen Übergriffe und körperliche Schwerstarbeit erspart, und sie erhielten überdies Vergünstigungen, die die Chancen eines Überlebens im KZ vergrößerten.
Problematisch war die Funktion eines „Judenältesten“, der einem so genannten Judenrat vorzustehen und als „Mittler“ zwischen SS-Wächtern und jüdischen KZ-Insassen zu fungieren hatte. Selten war jedoch diesbezüglich die Rede von denjenigen, die in ihrer Position den Unterdrückten und Insassen der Konzentrationslager wahre Helfer und Lebensretter waren.
Zu diesen wenigen jüdischen Persönlichkeiten gehörte Josef („Jupp“) Weiss aus Flamersheim - heute ein Stadtteil von Euskirchen -, der für sein ungewöhnlich hilfreiches Wirken als „Judenältester von Bergen-Belsen“, im Mai 2024 in einem israelischen Staatsakt posthum geehrt wurde.
Vor etwa anderthalb Jahren reichte die Enkelin Atara Zachor-Dayan, Bewohnerin des Kibbuz Regavim, die notwendigen Dokumente bei dem israelischen Komitee ein, das das Heldentum jüdischer Retter während des Holocaust ehrt. Grundlagen waren eigene Forschungen, besonders im Archiv Ghetto Fighters, Lohamei HaGeta`ot sowie die 710 Seiten starke Biographie (2012) aus meiner eigenen Feder: Der Letzte Judenälteste von Bergen-Belsen. Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung.
Atara, die auch schon im Jahre 2013 in Flamersheim anwesend war, als die beantragte Straßenbenennung nach ihrem Großvater und eine Gedenktafel an seinem Geburtshaus angebracht worden war, hielt im Ghetto Fighters Haus seine originalen Aufzeichnungen bewegt in der Hand, als sie von der Fotografin Michelle Dot Com (Israel Hayom) im Foto festgehalten wurde. In der renommierten Zeitung und in der Juni-Ausgabe des dazugehörigen Magazins wurden ihre diesbezüglichen Recherchen und das Leben von „Jupp“ Weiss ausführlich dargestellt. Vgl. hierzu meine deutsche Übersetzung: Israelischer Zeitungsartikel über die Würdigung der Lebensleistung von Josef ("Jupp") Weiss, "Letzter Judenältester von Bergen-Belsen"
Die Archivdirektorin des Hauses der Ghettokämpfer, Anat Bartman-Elhalal, definiert die Hinterlassenschaft von „Jupp“ Weiss – besonders die heimlich angefertigten Kopien aus der Registratur von Bergen-Belsen – als eine ganz besondere Hinterlassenschaft: „Die Arbeit von Joseph Weiss ist ein außergewöhnliches Beispiel dafür, wie wichtig die Dokumentation inmitten dieser schrecklichen Tage in Bergen-Belsen ist und dass jeder Mensch einen Namen hat. Die Namen aller Tausende von Gefangenen sind aufgezeichnet und müssen gewürdigt werden, damit sie nicht vergessen werden und niemals verschwinden."
Kürzlich erhielt Atara Zachor-Dayan die Bestätigung für die renommierte Auszeichnung, die jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag in Israel verliehen wird. Laut Aryeh Barnea, dem Vorsitzenden des Komitees, "zeigte Josef Weiss außergewöhnliches moralisches Engagement, Einfallsreichtum und Mut, begab sich in große Gefahr und rettete verfolgte Juden während des Holocaust vor dem Tod."
Erst 79 Jahre nach Kriegsende und 48 Jahre nach seinem Tod wurde Joseph Weiss vom „Komitee zur Anerkennung des Heldentums jüdischer Retter im Holocaust“ und dem B'nai B'rith Jerusalem World Center mit dem "Jewish Rescuer Award" ausgezeichnet. Dadurch sollte endlich der falsche Eindruck korrigiert werden, dass Juden ihre Brüder während des Holocaust nicht unter Lebensgefahr gerettet haben.
So konnte der Protagonist Josef Weiss posthum in Israel durch einen international sehr beachteten Staatsakt geehrt werden. Das B’nai B’rith World Center und Keren Kayemeth LeIsrael würdigten während der Holocaust-Gedenkzeremonie seinen „Heldenmut als jüdischer Retter“. In Anwesenheit von Ministern, Botschaftern und Politikern fand der Festakt im „Märtyrerwald“ von Jerusalem, der weltweit größten Holocaust-Gedenkstätte statt. Stellvertretend und stolz konnte Atara Zachor-Dayan die Urkunde in Empfang nehmen.
Der in Deutschland geborene Joseph Weiss war ein jüdischer Häftling im „Sternlager“ von Bergen-Belsen, wo er 15 Monate lang blieb. Schon nach kurzer Zeit in diesem berüchtigten Konzentrationslager wurde er ein von Juden und sogar von Deutschen respektierter „Judenältester“. Während all dieser Monate hatte er zwar zu tun, was die Nazis bestimmten, nutzte aber dennoch diese Position, um - im Bereich seiner wenigen Möglichkeiten - im Sinn der gefangenen Juden zu handeln.
Die vielen Details hierzu sind auch meiner regionalhistorischen Homepage zu entnehmen. Vgl. die zusammenfassenden Links am Ende dieses Artikels.
Während dieser israelische Staatsakt in den Medien eine bedeutende Rolle spielte, blieb die Würdigung in seiner deutschen Heimat vollkommen unbekannt. Mein vorliegender Beitrag soll nun darauf erstmals hinweisen!
Eine persönliche Anmerkung zur Ursache meiner eigenen Weiss-Forschungen
Ende der 1970er Jahre begann ich meine Forschungen zur jüngsten deutsch-jüdischen Geschichte. Motiviert durch die eindrucksvolle TV-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss und das Interesse meiner Schüler am Gymnasium Marienschule griff ich die Thematik unter regionalhistorischen Aspekten auf. Kurz danach fand ich zufällig in den Akten des Euskirchener Stadtarchivs Hinweise auf eine gleichnamige jüdische Familie Weiss, die im benachbarten Dorf Flamersheim - heute ein Stadtteil der Kreisstadt Euskirchen - seit dem 18./19. Jahrhundert beheimatet - „und dann im Dritten Reich verschwunden“ war.
Und dann kam es zu einem Ereignis, das für meiner künftigen Forschungsarbeit von großer Bedeutung war: ich lernte den Vater von Anne Frank persönlich kennen und wurde von ihm - aus einem ganz besonderen Grund - dazu angeregt, über einen Joseph („Jupp“) Weiss aus Flamersheim zu recherchieren.
Im Jahre 1979 recherchierte ich nämlich in Basel zur Genealogie der jüdischen Familie Ignatz Schneider aus Euskirchen, deren Tochter H. Gayer dort verheiratet war. Sie brachte mich in einem kleinen Restaurant mit jüdischen Zeitzeugen zusammen, bei denen ganz unauffällig ein älterer Herr saß, der mich bei der Verabschiedung bezüglich Juden in Euskirchen und Flamersheim ansprach. Ungläubig vernahm ich im Laufe des Gesprächs seinen bekannten Namen und den Hinweis, dass er einen gewissen Josef Weiss aus Flamersheim persönlich gekannt habe. 1945 hätte er in Amsterdam von diesem ehemaligen „Judenältesten von Bergen-Belsen“, der auch die gesamte Registratur des Konzentrationslagers unter sich gehabt hatte, erfahren, dass seine Töchter und Margot Ende des Krieges dort umgekommen wären. Angeblich hätte sich „Jupp“ von den verachteten Kapos deutlich unterschieden und im Bereich seiner Möglichkeiten immer den jüdischen KZ-Insassen geholfen. Es wäre sicher eine verdienstvolle Aufgabe, das Schicksal dieses verdienten Mannes zu recherchieren. Joseph Weiss war ein jüdischer Häftling im „Sternlager“ von Bergen-Belsen, wo er 15 Monate lang blieb. Schon nach kurzer Zeit in diesem berüchtigten Konzentrationslager wurde er ein von Juden und sogar von Deutschen respektierter „Judenältester“. Während all dieser Monate hatte er zwar zu tun, was die Nazis bestimmten, nutzte aber dennoch diese Position, um - im Bereich seiner wenigen Möglichkeiten - im Sinn der gefangenen Juden zu handeln und Leben zu retten.
Dies war der erste Schritt zu dem, was mit meinem Buch „Der letzte Judenälteste von Bergen- Belsen“ und den privaten Forschungen von Atara Zachor-Dayan im Mai 2024 einen Höhepunkt fand.
Vgl. auch: Israelischer Zeitungsartikel über die Würdigung der Lebensleistung von Josef ("Jupp") Weiss, "Letzter Judenältester von Bergen-Belsen" – (German Version)
Anhand weiterer Publikationen und den Hinweisen auf meiner Website kann man eine Zusammenfassung dieser jahrzehntelangen Forschung nachvollziehen:
Der letzte Judenälteste von Bergen Belsen
Das Buch „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“ im Spiegel der Presse (Kurzfassung)
Internet-Links zu Rezensionen und Anmerkungen zum Buch von Hans-Dieter Arntz: „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“