Einführung
Inge Protzner-Kaufmann (*1925) aus Aachen erinnert sich an ihr eigenes Schicksal. Aufgrund der Tatsache, dass ihr Vater jüdisch und die Mutter „arisch" war, galt sie nach den Nürnberger Gesetzen vom September 1935 als „Mischling". Die Eltern lebten in einer sogenannten „privilegierten Mischehe“. Inge Kaufmann, ist katholisch und und ging 1934 zur Heiligen Kommunion. Sie erlebte als Kind die Judenverfolgung und den Terror durch die Nationalsozialisten.
Inge Kaufmann besaß allerdings als katholisches Kind aus einer religiösen Mischehe wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit einen gewissen Schutz. Sie war bereits zwei Jahre in der Schule, als das „Hitler-Reich" begann Sie ging brav zum Beichtunterricht, zur Schulmesse und Mai-Andacht. Sonntags hatte sie „Christenlehre" und dienstags „Gruppe" in der Frohschar im Pfarrheim....
Nach Angaben des Verlags gehörte sie zu den ersten Käuferinnen und Lesern des Buches „JUDAICA – Juden in der Voreifel“, Euskirchen 1983. Sie stellte dem Autor Hans-Dieter Arntz im Juni ihre Buchbesprechung zu, die zur gleichen Zeit in Israel veröffentlicht wurde:
Ich, Maria Ingeborg Protzner geb. Kaufmann (*19. Februar 1925 in Aachen) erkläre, dass meine Familie Kaufmann sowie die überwiegende Familie mit Namen André von der Familie Seligmann aus Euskirchen stammt. Die Namensänderung erfolgte während der Franzosenzeit, die Umsiedlung nach Aachen bzw. Kornelimünster vollzog sich sporadisch. Die intensive Ahnenforschung des Genealogen Johannes Houbé aus Stolberg, der wegen seiner nicht-arischen Abstammung aus seinem Arbeitsverhältnis bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse in Aachen entlassen wurde, hat dies ergeben.
Besonders die Familie Kaufmann, zum geringeren Teil die Familie André, hat sich durch religiöse Mischehen und Konversionen zerstreut und mehr und mehr von der Vergangenheit, d.h. auch vom jüdischen Glauben gelöst. Auch ich wurde auf Wunsch meines jüdischen Vaters katholisch getauft und erzogen, was uns dann 1935 und in den folgenden Jahren das Leben rettete und uns auch vor manchem bewahrte. So musste mein jüdischer Vater keinen Stern tragen, weil ich christlich erzogen wurde.... Dies ist alles nachlesbar in den Gesetzen über die privilegierten Mischehen.
Das Buch „JUDAICA – Juden in der Voreifel“ des Autors Hans-Dieter Arntz aus Euskirchen, das ich mir nur ausgeliehen hatte, wollte ich als „Halbjüdin“ eigentlich nur „überfliegen“. Inzwischen habe ich es ganz gelesen und durchstudiert.
Ich möchte dazu jetzt schon bemerken: es ist das beste Buch, das ich seit 1945 zum Thema 3. Reich, hier besonders zur „Judenfrage“, gelesen habe. Ich kann aus persönlicher Erfahrung nur sagen, alles, was von meine Seite her nachprüfbar ist, stimmt absolut.
Hier wird sauber getrennt zwischen Dokumenten und persönlichen Aussagen. Und dazwischen gibt es immer wieder einmal den Hinweis; „So soll es gewesen sein“ - wenn seitens des Verfassers keine Möglichkeit zum wissenschaftlichen Beleg besteht.
Ich habe in diesem Buch nichts gefunden, von dem ich hätte sagen können, das stimmt nicht. Hier wurde verantwortungsvoll und sauber recherchiert, hier wurde Wort für Wort geprüft und so weit es möglich war, mit Dokumenten und Zeitungsartikeln belegt. Hier wurde an keiner Stelle untertrieben oder übertrieben. Das Buch JUDAICA gibt weit über die Judenschicksale hinaus ein Bild dessen, was damals geschah, wie die Menschen lebten, dachten, fühlten.
Das 560 Seiten starke Buch gehört vor allem in die Hand von Lehrern, die neue Geschichte lehren. Die Ereignisse von Euskirchen und dem ungebenden Gebiet sind weitgehend auf die Eifel insgesamt, auf den Aachener Bezirk, auch auf das Rheinland übertragbar. Ich habe Juden aus Berlin und Breslau, aus Wien und aus dem Saargebiet erlebt, die nach dem 9. November 1938 hier in Aachen eine Fluchtmöglichkeit über die Grenze suchten und uns sagten: „Ihr lebt hier in einem anderen Land“.
Die Frage wird immer unbeantwortet bleiben: War es das katholische Rheinland? War es das Rheinland, das viele Jahre unter dem aufklärerischen französischen Einfluss - dem Einfluss der (zwar ungeliebten), aber vielleicht doch guten, weil einflussreichen und „ent-preußenden“ französischen und belgischen Besatzung gestanden hatte? War es die Grenznähe, der tägliche Umgang mit den „anderen" jenseits der Grenzen?
Mein erschütterndes Erlebnis bleibt die kleine Gerda Tempelmann, ganze 5 Jahre alt, die mit ihren Eltern aus Österreich auf der Flucht war und in Aachen herumlief und ihr Kettchen mit dem Judenstern als Anhänger auf ihrem roten Kinderkleidchen sichtbar trug. Ihre entsetzte Mama - übrigens Mutter und Kind waren blond und blauäugig – wiederholte stets den Satz: „Aber Gerda, versteck doch deinen Anhänger“. Aber das Mädchen antwortete: „Mamale, du hast doch gesagt, wenn wir im anderen Land sind, darf ich ihn wieder draußen tragen.“ Und dann meinte die Mutter: „ Aber Gerda, wir sind doch gar nicht in einem anderen Land“. Aber das kleine Mädchen erwiderte:“ Aber Mamale, hier in Deutschland sind doch nur liebe Menschen, ganz anders als bei uns in Österreich.
Auch in dem mir vorliegenden Buch „JUDAICA“ wird öfters die besondere Situation in der katholischen Eifel, im katholischen Rheinland erwähnt. Ich kann dies nur bestätigen....
Interessant war für mich auch die Erwähnung des Buß- und Bettages im Mai! Erwachsene wollten mir diese Erinnerung streitig machen. Auf dem Lande nannte man noch zu meiner Zeit den Buß- und Bettag „Weiß- und Schwatztag", was besagte, dass die Bauern an diesem Tag nicht aufs Feld gingen, sondern die Häuser neu geweißt haben und dabei ein „Schwätzchen“ miteinander hielten......
Im Buch ist z.B. ein Transport von Riga nach Auschwitz zu einem sehr späten Termin erwähnt. Dieser Transport findet sich als „Ankunft in Auschwitz“ in deren Lagerlisten wieder. In den „Heften von Auschwitz" ist er im Kalendarium veröffentlicht. Weiter geht es um die Ankunft der Transporte, die Anzahl und die diesem Transport jeweils zugeteilten Nummern. Der im Buch auf Seite 356 erwähnte Transport ist also bis zur Gaskammer verfolgbar. Siehe auch Seite 365: Ankunft in Auschwitz am 5.11.1943.
Auf Seite 273 wird erwähnt, dass die Juden selber die verursachten Schäden nach der „Kristallnacht“ beseitigen mussten. Ich erinnere mich hierzu, dass die Fensterscheibe des Geschäftes meiner Mutter damals 400 RM gekostet hat. Der Autor Arntz erwähnt gewissenhaft, dass die eigentlichen Unkosten viel höher waren als sie von den Nazis angerechnet wurden.
Im Buch „JUDAICA“ erscheinen die Namen Levano (heute Aachen Central-Hotel). Oder zum Namen Wallach: Mein jüdischer Bruder hatte in den Jahren 1925 bis 1929 einen Lehrer namens Wallach. Weiter erscheint öfters der Name Hartoch. Emil Hartoch wohnte in Aachen und hatte hier eine Viehagentur am Schlachthof, die später mein Vater übernahm.
So könnte man jegliche Schilderung Seite für Seite belegen. Ich habe seit 1945 kein Buch über diese Zeit in der Hand gehabt, das so sauber und wahrhaftig geschrieben worden ist.
Man kann, wenn man dieses Buch liest und benutzt, eine ganze Menge anderer Bücher zu diesem Thema vergessen und beiseitelegen. Dieses Buch ist so synonym für die Zeit von 1933 bis 1945 wie Dachau am Anfang und Auschwitz am Ende Synonym für „Lager" und „Vernichtung" waren.
Das Buch „JUDAICA - Juden in der Voreifel“ hat nichts vergessen! Nichts wird übergangen! Hier wurde nichts übertrieben, hier wurde nichts beschönigt! Hier stimmt einfach alles!
Inge Protzner-Kaufmann
Aachen, im Juni 1983
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