Für den 2. Band des Biographischen Handbuchs der Rabbiner, herausgegeben von Michael Brocke und Julius Carlebach, stellte ich vor einigen Jahren Daten und einige Personalia über den letzten Euskirchener Rabbiner Ferdinand Bayer zur Verfügung (vgl. S. 2202-2003). Diese ergaben sich als Kurzfassung aus meinen Büchern JUDAICA-Juden in der Voreifel, 3. Aufl. 1987, S. 427, sowie „Reichskristallnacht“, Seite 64.
Dieses Fachbuch gibt lexikonartig über das Rabbinat des Deutschen Reiches bis 1945 Auskunft. Diese Zeit ist für die Rabbiner sowohl von gesellschaftlichem Ansehen als auch von Anfeindungen und existentieller Unsicherheit geprägt. Themen der Zeit sind die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, Diskussionen um nationale und jüdische Identität, später dann das Aufkommen des Nationalsozialismus, Entrechtung, Deportation und Emigration. Wer historisch zur Thematik „Judentum“ arbeitet, kommt auch an diesem 2. Band nicht vorbei. Entsprechende Rezensionen hierzu können weitere Auskunft über das Biographische Handbuch geben (vgl. zum Beispiel H/Soz/U/Kult).
Jedoch stellen besonders die Regionalhistoriker gelegentlich fest, dass manche Angaben fehlerhaft oder unvollständig sind, was oft durch die Vernichtung archivalischer Details während der Emigration und Verfolgung sowie durch die bürokratische Aussortierung und Vernichtung von Listen und jüdischen Personalbögen erklärbar sein könnte. Erst die Wiedergutmachungsanträge nach dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust fassen viele Lebensläufe zusammen, weil finanzielle Ansprüche nachzuweisen waren.
Persönliche Kontakte ergänzen zudem mosaikartig den Lebenslauf, personalisieren die anonymen Listen und geben besonders Auskunft über den jüdischen „Survivor“ oder das jeweilige Holocaust-Opfer.
So ging es mir mit auch im Falle Ferdinand Bayer (1901-1989), der als letzter Rabbiner von 1930 bis 1938/39 in der Kreisstadt Euskirchen fungierte und dem eine jüdische Gemeinde von ca. 300 Mitgliedern anvertraut war. Schon in meinem vorletzten Buch „Isidors Briefe“ (S. 60) ergänzte ich meine früheren Aussagen, da mir von ehemaligen Gemeindemitgliedern neue Informationen und Fotos zur Verfügung gestellt wurden. Ein Bild aus dem Jahre 1936 war daher mehr als nur ein regionalhistorischer Beitrag.
Mit dem letzten Rabbiner von Euskirchen führte ich im Jahre 1981 ein Überseegespräch, als in der Kreisstadt ein anfangs umstrittenes Mahnmal eingeweiht wurde und ein von ihm diktierter Text vorgelesen werden sollte.
Mit Bezug auf meine regionalhistorische Homepage nahmen im Jahre 2013 die in den USA lebenden Verwandten von Ferdinand Bayer Kontakt mit mir auf, und so gelang es mir, mithilfe seiner Nichte Fredel F. geb. Jacobs (*1948) den Lebenslauf ihres Onkels zu präzisieren. Ihre Familie stammte ursprünglich aus Nuttlar, und ihre Tante Hilde Jacobs (1904-1979) wurde im Dezember 1931 die Ehefrau des Euskirchener Rabbiners. Die Familie Jacobs konnte 1941 noch im letzten Augenblick Deutschland verlassen. Der 66-jährige Vater hinterließ bei seinem Tode eine umfangreiche Autobiographie in englischer Sprache, von der einige Teile nach seinem Tode auf deutsch übersetzt und publiziert wurden.
Doch zurück zu Ferdinand Bayer, der als beliebter „Onkel Nandi“ eine sehr ruhige, aber sympathische Rolle in den Familien Bayer und Jacobs spielte.
Rabbiner Ferdinand Bayer mit seiner jungen Familie in Nuttlar (1934) |
1945 in London (vgl. Fruhman) |
Er wurde am 28. August 1901 in Preßburg (Bratislava) geboren, zuerst in Pressburg und noch einmal in Köln ordiniert. Gemeinsam studierten er und Fredels Vater Jacobs in der Zeit von 1923 bis 1926 am Rabbiner Carlebach Lehrerseminar in Köln. Danach soll er schon als Rabbiner und Lehrer an der Dr. Wolf`s Talmud Torah Schule in Köln tätig gewesen sein. Seine wichtigste Stelle hatte er jedoch in Euskirchen, wo er in der Billiger Straße Nr. 10 und dann in der Neustraße 8 wohnte. Seit 1938 war er Mitglied im Rheinisch-Westfälischen Rabbinerverband.
Die „Reichskristallnacht“ in Euskirchen war ein traumatisches Erlebnis, von dem er sich psychisch nie ganz erholt hat. Noch heute zeigen Fotos, wie „seine“ entweihten Torahrollen an der Euskirchener Synagoge herunterhängen. Die Monate danach war er als diskriminierter Straßenkehrer im Euskirchener Stadtzentrum zwangsbeschäftigt. Charakteristische Einzelheiten seiner Strenggläubigkeit sind in meinem o.a. Buch „Isidors Briefe“ auf den Seiten 34/35 zu entnehmen.
In Antwerpen (1947) |
In Canada (1953) |
Am 15. April 1939 wollte er mit seiner Frau Hilde und den beiden Söhnen Raphael (*1933) und David (*1936) ins Ausland flüchten. Das wertvolle Mobiliar erbrachte mit 1.500 Reichsmark nur den Bruchteil seines Wertes. Während der Rabbiner in Alphen a.d.Rijn bei christlichen Freunden ein Versteck fand, wurde seine Ehefrau mit den kleinen Söhnen nach Deutschland zurückgeschickt, erhielten dann aber doch ein Permit für England. Hier besuchten die Jungen eine jüdische Schule, wo sie im Sinne der chassidischen Religionsauffassung und Philosophie unterrichtet wurden. Daher wurde die Familienmitglieder Bayer auch später zu Chassiden, zu denen wir heute die „ultra-orthodoxen“ Juden zählen.
Von 1942 bis 1945 fand der deutsche Rabbiner und der mit ihm befreundete, aus Fulda stammende Dr. Hans Bloemendahl Unterschlupf bei Mijnheer van Giels in Alphen a. d. Rijn, einer mittleren Stadt, westlich von Leiden. Die Entbehrungen müssen schrecklich gewesen sein, wie mir vor Jahrzehnten der Meckenheimer Fritz Juhl, der ebenfalls in den Niederlanden unter einem Dachboden dahinvegetieren musste, persönlich berichte.
Hilde Bayer war während der Kriegszeit in Shefford beschäftigt, wo sie sich um Flüchtlingskinder kümmerte. Erst nach dem Krieg gelang eine Zusammenführung der Familie.
Ferdinand Bayer und Ehefrau Hilde geb. Jacobs in Jerusalem |
Ferdinand Bayer kam unmittelbar nach dem Krieg in Belgien unter, und nur – aufgrund einer Einladung zu einer jüdischen Konferenz in England – kam es dort zu einem ersten Wiedersehen mit seiner Familie. Da er nicht bleiben durfte, folgten ihm kurz danach Ehefrau und beide Söhne nach Belgien. Hier wurde auch Benzion, der dritte Sohn, geboren. Zu Beginn der 1950-er Jahre verzog die gesamte Familie nach Canada und ließ sich in Monreal nieder. Offenbar wirkte Ferdinand Bayer erst hier wieder als Rabbiner. Die drei Söhne nahmen in den USA ein Studium auf, wo sie später heirateten und sich in New York niederließen. Um den Kindern und Enkelkinder nahe zu sein, folgten ihnen die Eltern nach einigen Jahren dorthin.
Der Umzug des ältesten Sohnes Rafael nach Jerusalem, wo sich dessen Familie sehr vergrößerte, war die Ursache, dass Ferdinand und Hilde Bayer ebenfalls dort ihren letzten Wohnsitz nahmen. Ein Amt als Rabbiner übte der Vater dort wohl nicht mehr aus. Hilde Bayer geb. Jacobs verstarb 1978 in Jerusalem, Ferdinand im Jahre 1989. Ihnen folgte David, der mittlere Sohn, im Jahre 2012.
Dass heute die chassidischen Familien Bayer weit mehr als 100 Mitglieder umfassen, begründete mir gegenüber die noch in New York lebende Nichte Fredel F. folgendermaßen:
As is the custom in Chassidic families, each of the three sons had many children, who had many children of their own, and my aunt and uncle's descendants -- children, grandchildren, great-grandchildren, and even great-great grandchildren -- probably number several hundred...