Ernährung im Zweiten Weltkrieg und danach:
Kriegsrationen, Lebensmittelkarten und Essen im neuen Wirtschaftswunderland

von Hans-Dieter Arntz
12.04.2011

Lebensmittelkarten sind vom Staat ausgegebene Bescheinigungen, die der Bevölkerung in Notzeiten eine bestimmte Menge an Nahrungsmitteln zuweisen. Im Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland am 28. August 1939, wenige Tage vor Kriegsbeginn, Lebensmittelmarken und Bezugsscheine für Benzin ausgegeben. Wenig später folgte die Reichskleiderkarte. Die Güterknappheit im Krieg erzwang eine längere Periode ihrer Verwendung im täglichen Leben. Lebensmittelkarten berechtigten zum Empfang, aber nur in soweit, als Waren zur Verfügung standen. Sie stellten also keine Garantie dar. (Wikipedia)

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gaben die alliierten Besatzungsmächte ab Mai 1945 in ihren jeweiligen Sektoren neue Lebensmittelkarten aus, die entsprechend der Schwere der Arbeit in Verbrauchergruppen (Kategorien) von I bis V eingestuft wurden. In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Lebensmittelkarten im Jahr 1950 abgeschafft.

Einschränkungen der Euskirchener Juden

Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Geschichtswerke und historische Abhandlungen in Millionen-Auflage haben die­se Schreckenszeit inzwischen dargestellt und einer interessierten Leserschaft zugänglich gemacht. Wie die Voreifeler Presse bei Kriegsbeginn reagierte, skizzierte ich knapp in dem Zeitungsartikel Die NS-Presse der Kreisstadt Euskirchen bei Kriegsbeginn.

Der Lokalteil des Westdeutschen Beobachters hielt sich anfangs zurück und zeichnete insofern ein falsches Bild von der Realität, als dass er recht biedere Themen wie im tiefsten Frieden publizierte: „Bunte Bilder für Spießer“, „Idylle bevorzugt“ oder „Tiroler Land und Septemberwetter“... Erst in der Mitte des Jahres 1940 steigerte sich die Glorifizierung des „heroisch kämpfenden National­sozialismus“, nachdem man in den Jahren vorher - hier besonders 1934 und 1935 – das Voreifeler Judentum diffamierte. Auch die Reporter in Euskirchen und Schleiden zeigten sich lange Zeit mit dem berüchtigten „Juden-Spiegel" und den rassistischen, ag­gressiven Artikeln von einer mehr als li­nientreuen Seite.

 

Lebensmittel

 

Eine Verordnung der Euskirchener Stadtverwaltung vom 9. Oktober 1939 bestimmte, dass die Euskirchener Juden künftig auch ernährungsmäßig mit großen Einschränkungen zu rechnen hätten. In dem Buch JUDAICA–Juden in der Voreifel, (S. 336) wird die Vorschrift belegt, dass die Einkäufe der noch ansässigen Juden künftig nur noch in der Zeit von 13 bis 14 Uhr stattzufinden hätten. Hierfür kamen zudem nur noch wenige, namentlich aufgeführte Geschäfte in Frage: zwei Metzgereien auf der Kommerner- und der Mittelstraße, zwei Bäckereien in der inzwischen umbenannten Adolf-Hitler-Straße und der Baumstraße, ein Lebensmittelgeschäft in der erwähnten A.-H.-Straße und ein Gemüsegeschäft in der Baumstraße. Juden erhielten auch Lebensmittelkarten, aber mit deutlich weniger Kalorien als ihre Mitbürger. Die örtlich, zeitlich und qualitativ begrenzte Verordnung der Stadtverwaltung bewirkte, dass bei Kriegsbeginn die Juden aus dem Stadtbild verschwanden. Der Kaufladen als „ Begegnungsstätte und Kontaktbörse hatte für sie ausgedient“. Als dann noch am 1. September 1941 der „gelbe Stern“ eingeführt wurde, markierte dies endgültig die öffentlich sichtbare soziale Ausgrenzung.

Schon wenige Tage nach Kriegs­ausbruch kreisten bereits die ersten englischen Flugzeuge über Euskirchen. Unter der Überschrift „Fluch-Blätter" warnte das Volksblatt am 7. September vor dem Aufheben englischer Flugblätter: „England kämpft nicht gegen das deutsche Volk! — Das ist der naive Inhalt der Flugblätter, die englische Flieger bei Nacht und Nebel auch im Kreise Eus­kirchen abwarfen. Es hat sich gegenüber dem Weltkrieg nichts geändert: England will das deutsche Volk für dumm verschleißen!“

Am 20. September 1939 werden Autobesitzer an ihre Pflichten erinnert:

 „Kraftfahrzeuge, deren Besitzer einen Kraftfahrzeug-Freistellungsbescheid der Wehrersatzinspektion vorwei­sen, und andere Fahrzeuge, de­ren Besitzer eine Bescheinigung vorlegen, dass das Kraftfahrzeug im öffentlichen Interesse unbe­dingt weiter benutzt werden muss, werden in diesen Tagen durch einen roten Winkel mit darüber angebrachtem Stempel gekennzeichnet. Jeder möge rechtzeitig daran denken, aber auch nur dann, wenn es unbe­dingt nötig ist...."

Erlaubnisscheine, Lebensmittelkarten und Bezugsscheine reglementierten ab 1939 die vom Staat angeordnete Rationalisierung. Nach dem 2. Weltkrieg und Holocaust verlor keiner mehr ein Wort über die verhungerten und ermordeten Juden oder thematisierte schamhaft deren Schicksal. Im Sinne der Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich waren die Deutschen „unfähig zu trauern“ (1967). Dagegen erinnerten sie sich deutlicher an ihre eigene Ernährung im und nach dem Zweiten Weltkrieg, an ihre eigenen Kriegsrationen, Lebensmittelkarten und ihr Essen im neuen Wirtschaftswunderland.

Die Ernährungslage der Euskirchener Bevölkerung

Im „Euskirchener Volksblatt“ oder im bereits erwähnten „Westdeutscher Beobachter“ gab es in der nächsten Zeit eine Unzahl von Bekanntmachungen, die sich mit der Versorgung der Euskirchener Bevölkerung befassten. Auch die Strukturierung der Lebensmittelkarten wurde im Laufe der Jahre leicht verändert. Da war noch die Mitteilung des Euskirchener Aktivisten Schiffmann, Vertrauensmann des Milch- und Versorgungsverbandes Rheinland-Westfalen im Kreis Euskirchen, vom 29. September 1939 noch ausgesprochen harmlos:

 

Bekanntmachung

 

Ehe ich zu einem Vergleich zwischen dem Nahrungsverbrauch von 1943 und 1980, der Zeit im „neuen Wirtschaftswunderland“, komme, soll ein knapper Auszug aus einer „Bestandsaufnahme der Kreisverwaltung Euskirchen vom 1. April 1945 bis zum 31. März 1947“ vorausgeschickt werden. Den gesamten Bericht publizierte ich auf den Seiten 523-528 meines Buch Kriegsende 1944/45 zwischen Ardennen und Rhein. Über die Tätigkeit des Ernährungs- und Wirtschaftsamtes heißt es in der Bestandsaufnahme von 1947:

Beim Einmarsch der Alliierten befand sich die Dienststelle des Ernährungs- und Wirtschaftsamtes in Kreuzweingarten. Sie war dort seit dem 13. 10. 1944 im Pfarrjugendheim un­tergebracht. Der Leiter der Dienststelle wurde vom Kreis­kommandanten beauftragt, den Dienstbetrieb sofort weiter durchzuführen. Bereits durch Bekanntmachung vom 11. 3. wurde die Bevölkerung davon in Kenntnis gesetzt, dass mit Genehmigung der Militärregierung die bisherigen Vor­schriften über die Zwangsbewirtschaftung von Nahrungs­mitteln und Verbrauchsgütern in vollem Umfange in Kraft blieben. Alsdann wurde die Verbindung mit den Bürger­meistern, Lebensmittelgroßhändlern und Mühlen des Kreises aufgenommen. Es galt, die Ernährungsbetriebe und Karten­stellen des Kreises wieder in Gang zu bringen, was auch nach Überwindung nicht unerheblicher Schwierigkeiten, dank der Einsatzfreudigkeit aller beteiligten Personen gelang. Weiter galt es, den Lebensmittelgroßhandel mit Treib­stoff und Transportmitteln zur Beförderung der Lebensmittel zu versorgen. Dadurch, dass den Befehlen des Gauräumungs­stabes auf Abtransport der Lebensmittel in das rechtsrhei­nische Gebiet keine Folge geleistet worden war, befanden sich auf den Lägern des Großhandels und in den Mühlen recht erhebliche Bestände.

Um keine Versorgungsstörungen aufkommen zu lassen, wurde der Druck der Lebensmittelkarten für die 74. Zuteilungs­periode unverzüglich durchgeführt. Die Karten konnten da­durch rechtzeitig an die Bevölkerung ausgegeben werden, wodurch der Anschluss an die 73. Periode erreicht wurde. Trotz der außergewöhnlichen Schwierigkeiten blieb die Be­völkerung keine Stunde ohne die erforderlichen Lebens­mittelkarten. Hierdurch wurde nicht nur der ordnungsmäßige Ablauf der Versorgung erreicht, sondern auch verhütet, dass durch „freies Wirtschaften“ unverantwortliche Eingriffe in die Lebensmittelbestände vorgenommen wurden, die sich für die Bevölkerung hätten katastrophal auswirken können. Durch die so erreichte Schonung der Lebensmittelbestände war es möglich, die Rationen in den wichtigsten Lebensmit­teln, wie Brot, Fleisch, Butter und Nährmittel für einige Zuteilungen in der gleichen Höhe wie vor der Besatzung aufrechtzuerhalten, was in den benachbarten Kreisen nicht möglich war.

Nachdem sich im Juli das Landesernährungsamt in behelfs­mäßiger Form vorläufig wieder konstituiert hatte, wurde die Einheitlichkeit in der Versorgung und in der Höhe der Rationen für den Regierungsbezirk Köln wiederhergestellt. Die Entwicklung im Aufbau der Ernährungswirtschaft nahm dann ihren bekannten Verlauf.

An dieser Stelle sei anerkennend hervorgehoben, dass die ernährungswirtschaftlichen Betriebe in diesen schwierigen Monaten ihre Einsatzfreudigkeit und Leistungsfähigkeit aufs beste bewiesen haben, wodurch es möglich war, die Versor­gung der Bevölkerung in einem ausreichenden Maße sicher­zustellen. Dies ist um so bemerkenswerter, weil die Ameri­kaner mit Ausnahme von Weizen keinerlei Lebensmittel für die zusätzliche Versorgung der ausländischen Arbeiter und Arbeiterinnen in einer Gesamtzahl von etwa 8.000 Personen zur Verfügung stellten.

Der Kreis hat zurzeit, also am 1. 4. 1947:
62.825 Normalverbraucher,
13.773 Vollselbstversorger,
11.457 Teilselbstversorger.

An Zusatzkarten werden ausgegeben :
11.328 Stück für Schwer- und Schwerstarbeiter usw.
Die Zahl der Haushalte des Kreises beträgt: 23.500.

Ein Test aus dem Jahre 1980: „Eine Woche essen wie im letzten Krieg“

Ein mir überlassener Bericht des Journalisten Rolf Schmalstein berichtete im Jahre 1980 im „Schlemmer-Journal“ der „Bunten“, wie verwöhnt die Bundesbürger inzwischen geworden waren und fragte, wie es sein würde, wenn man noch „nach Lebensmittelkarten von damals kochen“ müsste. Nachdem man eine Woche lang die „Kriegsration“ genossen hatte, freute sich die Testfamilie über den Gewichts­verlust und auf das gegenwärtige Essen.

Das deutsche. Volk, der Kartentrick zeigt es, zerfällt in zwei Teile: Jene, die sich noch genau an den Hunger im Krieg erinnern, an die Lebensmittelkarten, die ro­ten Reichsbrotkarten und die gelben Reichsfettkarten, an die Raucherkarten. Klei­derkarten und Reisemar­ken. Und jene, die das alles nicht mehr wissen.

Vor dreißig Jahren, im Ja­nuar 1950, beschloss das Bundeskabinett, die Le­bensmittelkarten abzu­schaffen. Selbst das Bundes­archiv in Koblenz hat keine mehr vorrätig. Dennoch entdeckte ein Amtmann sie jetzt noch im Bonner Stadt­archiv: Lebensmittelkarten, Fleischkarten und Karten für Selbstversorger mit But­ter. Karten für Schwerst­arbeiter und Karten für aus­ländische Zivilarbeiter. Brotkarten (ziegelrot für Roggenbrot, rosa für Weiß­brot), Nährmittelkarten (für über drei Jahre alte Selbst­versorger mit Getreide), gelbe Fettkarten (auf die es auch Kakaopulver gab) und Lebensmittelkarten (mit Bestellschein für entrahmte Frischmilch).

ReichsbrotkarteUnd wir wollten ausprobieren, ob man davon leben kann: ei­ne Woche lang Kriegs­rationen für zwei Kin­der und drei Erwachsene, dabei die Oma mit „Kriegskocherfahrung“. Unsere Lebensmittelkarten galten für die 46. Zu­teilungsperiode, also vom 8. Februar bis 3. März 1943. Was auf den Karten stand, war damals aber nur eine Ankündigung. Denn nur was über Rundfunk aufge­rufen wurde, die Abschnitte für Fleisch und Quark, Kunsthonig und Ersatzkaf­fee, konnte man tatsächlich einkaufen.

Für diese 46. Zuteilungs­periode wurden an der Hei­matfront folgende Lebens­mittel pro Kopf des durch­schnittlichen Verbrauchers zugeteilt: 9,7 kg Brot, 1,5 kg Fleisch, 250 g Ersatzkaffee, 154 g Fisch, 2,8 Eier, 15,8 kg Kartoffeln, 700 g Marmela­de, 900 g Zucker, 250 g Käse und Quark, 7,5 1 entrahmte Frischmilch, 158 g konden­sierte Milch, 925 g Handels­fette, 600 g Nährmittel, 85 g Schokolade.

Unser eigenes Experi­ment beginnt am Samstag mit dem Frühstück: Brot, Butter, Marmelade, Pfeffer­minztee. Mittags Leber mit Zwiebeln. Äpfeln, Kartof­feln und Kopfsalat. Abends Brötchen und ein Bückling — die Fischration für fünf Menschen für die ganze Woche. Schon am Sonntag ist uns klar: Wir haben zu viele Kar­toffeln, zu wenig Brotauf­strich. Also bäckt die Oma ihren Kartoffelkrümelku­chen, der im Krieg sehr be­liebt war.

Kenner trinken dazu Malzkaffee. Am Mittwoch­abend gibt es nur noch (nur noch?) Tomaten aufs Brot. Am Don­nerstagmittag gibt es fleisch­lose Kartoffelsuppe. Wir haben Hunger. In der Schule bieten Klassenkameraden dem Sohn ihr Frühstücks­brot an. Er bleibt hart. Am Freitagabend ziehen wir Bilanz. Alles ist ver­braucht, bis auf 4 kg Brot und 2,5 kg Kartoffeln. Gesamtverbrauch demnach 62.517 Kalorien zum Preis von 88,01 Mark. Das heißt: 1786 Kalorien für 2,51 Mark pro Kopf und Tag.

Erwartungsvoll stellen wir uns am Samstagmorgen auf die Waage. Fazit der Woche: Alle haben abge­nommen, der Gewichtsver­lustrekord sind drei Pfund. Dann decken wir den Frühstückstisch wie heute gewohnt mit allem Drum und Dran. Doch die Kinder ha­ben jetzt eine Ahnung, wie es im Krieg gewesen ist.

Weitere Sachverhalte, die sich auf die Nachkriegszeit im Kreis Euskirchen und in der Umgebung beziehen, sind in meinen Büchern nachlesbar:

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