Lebensmittelkarten sind vom Staat ausgegebene Bescheinigungen, die der Bevölkerung in Notzeiten eine bestimmte Menge an Nahrungsmitteln zuweisen. Im Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland am 28. August 1939, wenige Tage vor Kriegsbeginn, Lebensmittelmarken und Bezugsscheine für Benzin ausgegeben. Wenig später folgte die Reichskleiderkarte. Die Güterknappheit im Krieg erzwang eine längere Periode ihrer Verwendung im täglichen Leben. Lebensmittelkarten berechtigten zum Empfang, aber nur in soweit, als Waren zur Verfügung standen. Sie stellten also keine Garantie dar. (Wikipedia)
Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gaben die alliierten Besatzungsmächte ab Mai 1945 in ihren jeweiligen Sektoren neue Lebensmittelkarten aus, die entsprechend der Schwere der Arbeit in Verbrauchergruppen (Kategorien) von I bis V eingestuft wurden. In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Lebensmittelkarten im Jahr 1950 abgeschafft.
Einschränkungen der Euskirchener Juden
Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Geschichtswerke und historische Abhandlungen in Millionen-Auflage haben diese Schreckenszeit inzwischen dargestellt und einer interessierten Leserschaft zugänglich gemacht. Wie die Voreifeler Presse bei Kriegsbeginn reagierte, skizzierte ich knapp in dem Zeitungsartikel Die NS-Presse der Kreisstadt Euskirchen bei Kriegsbeginn.
Der Lokalteil des Westdeutschen Beobachters hielt sich anfangs zurück und zeichnete insofern ein falsches Bild von der Realität, als dass er recht biedere Themen wie im tiefsten Frieden publizierte: „Bunte Bilder für Spießer“, „Idylle bevorzugt“ oder „Tiroler Land und Septemberwetter“... Erst in der Mitte des Jahres 1940 steigerte sich die Glorifizierung des „heroisch kämpfenden Nationalsozialismus“, nachdem man in den Jahren vorher - hier besonders 1934 und 1935 – das Voreifeler Judentum diffamierte. Auch die Reporter in Euskirchen und Schleiden zeigten sich lange Zeit mit dem berüchtigten „Juden-Spiegel" und den rassistischen, aggressiven Artikeln von einer mehr als linientreuen Seite.
Eine Verordnung der Euskirchener Stadtverwaltung vom 9. Oktober 1939 bestimmte, dass die Euskirchener Juden künftig auch ernährungsmäßig mit großen Einschränkungen zu rechnen hätten. In dem Buch JUDAICA–Juden in der Voreifel, (S. 336) wird die Vorschrift belegt, dass die Einkäufe der noch ansässigen Juden künftig nur noch in der Zeit von 13 bis 14 Uhr stattzufinden hätten. Hierfür kamen zudem nur noch wenige, namentlich aufgeführte Geschäfte in Frage: zwei Metzgereien auf der Kommerner- und der Mittelstraße, zwei Bäckereien in der inzwischen umbenannten Adolf-Hitler-Straße und der Baumstraße, ein Lebensmittelgeschäft in der erwähnten A.-H.-Straße und ein Gemüsegeschäft in der Baumstraße. Juden erhielten auch Lebensmittelkarten, aber mit deutlich weniger Kalorien als ihre Mitbürger. Die örtlich, zeitlich und qualitativ begrenzte Verordnung der Stadtverwaltung bewirkte, dass bei Kriegsbeginn die Juden aus dem Stadtbild verschwanden. Der Kaufladen als „ Begegnungsstätte und Kontaktbörse hatte für sie ausgedient“. Als dann noch am 1. September 1941 der „gelbe Stern“ eingeführt wurde, markierte dies endgültig die öffentlich sichtbare soziale Ausgrenzung.
Schon wenige Tage nach Kriegsausbruch kreisten bereits die ersten englischen Flugzeuge über Euskirchen. Unter der Überschrift „Fluch-Blätter" warnte das Volksblatt am 7. September vor dem Aufheben englischer Flugblätter: „England kämpft nicht gegen das deutsche Volk! — Das ist der naive Inhalt der Flugblätter, die englische Flieger bei Nacht und Nebel auch im Kreise Euskirchen abwarfen. Es hat sich gegenüber dem Weltkrieg nichts geändert: England will das deutsche Volk für dumm verschleißen!“
Am 20. September 1939 werden Autobesitzer an ihre Pflichten erinnert:
„Kraftfahrzeuge, deren Besitzer einen Kraftfahrzeug-Freistellungsbescheid der Wehrersatzinspektion vorweisen, und andere Fahrzeuge, deren Besitzer eine Bescheinigung vorlegen, dass das Kraftfahrzeug im öffentlichen Interesse unbedingt weiter benutzt werden muss, werden in diesen Tagen durch einen roten Winkel mit darüber angebrachtem Stempel gekennzeichnet. Jeder möge rechtzeitig daran denken, aber auch nur dann, wenn es unbedingt nötig ist...."
Erlaubnisscheine, Lebensmittelkarten und Bezugsscheine reglementierten ab 1939 die vom Staat angeordnete Rationalisierung. Nach dem 2. Weltkrieg und Holocaust verlor keiner mehr ein Wort über die verhungerten und ermordeten Juden oder thematisierte schamhaft deren Schicksal. Im Sinne der Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich waren die Deutschen „unfähig zu trauern“ (1967). Dagegen erinnerten sie sich deutlicher an ihre eigene Ernährung im und nach dem Zweiten Weltkrieg, an ihre eigenen Kriegsrationen, Lebensmittelkarten und ihr Essen im neuen Wirtschaftswunderland.
Die Ernährungslage der Euskirchener Bevölkerung
Im „Euskirchener Volksblatt“ oder im bereits erwähnten „Westdeutscher Beobachter“ gab es in der nächsten Zeit eine Unzahl von Bekanntmachungen, die sich mit der Versorgung der Euskirchener Bevölkerung befassten. Auch die Strukturierung der Lebensmittelkarten wurde im Laufe der Jahre leicht verändert. Da war noch die Mitteilung des Euskirchener Aktivisten Schiffmann, Vertrauensmann des Milch- und Versorgungsverbandes Rheinland-Westfalen im Kreis Euskirchen, vom 29. September 1939 noch ausgesprochen harmlos:
Ehe ich zu einem Vergleich zwischen dem Nahrungsverbrauch von 1943 und 1980, der Zeit im „neuen Wirtschaftswunderland“, komme, soll ein knapper Auszug aus einer „Bestandsaufnahme der Kreisverwaltung Euskirchen vom 1. April 1945 bis zum 31. März 1947“ vorausgeschickt werden. Den gesamten Bericht publizierte ich auf den Seiten 523-528 meines Buch Kriegsende 1944/45 zwischen Ardennen und Rhein. Über die Tätigkeit des Ernährungs- und Wirtschaftsamtes heißt es in der Bestandsaufnahme von 1947:
Um keine Versorgungsstörungen aufkommen zu lassen, wurde der Druck der Lebensmittelkarten für die 74. Zuteilungsperiode unverzüglich durchgeführt. Die Karten konnten dadurch rechtzeitig an die Bevölkerung ausgegeben werden, wodurch der Anschluss an die 73. Periode erreicht wurde. Trotz der außergewöhnlichen Schwierigkeiten blieb die Bevölkerung keine Stunde ohne die erforderlichen Lebensmittelkarten. Hierdurch wurde nicht nur der ordnungsmäßige Ablauf der Versorgung erreicht, sondern auch verhütet, dass durch „freies Wirtschaften“ unverantwortliche Eingriffe in die Lebensmittelbestände vorgenommen wurden, die sich für die Bevölkerung hätten katastrophal auswirken können. Durch die so erreichte Schonung der Lebensmittelbestände war es möglich, die Rationen in den wichtigsten Lebensmitteln, wie Brot, Fleisch, Butter und Nährmittel für einige Zuteilungen in der gleichen Höhe wie vor der Besatzung aufrechtzuerhalten, was in den benachbarten Kreisen nicht möglich war.
Nachdem sich im Juli das Landesernährungsamt in behelfsmäßiger Form vorläufig wieder konstituiert hatte, wurde die Einheitlichkeit in der Versorgung und in der Höhe der Rationen für den Regierungsbezirk Köln wiederhergestellt. Die Entwicklung im Aufbau der Ernährungswirtschaft nahm dann ihren bekannten Verlauf.
An dieser Stelle sei anerkennend hervorgehoben, dass die ernährungswirtschaftlichen Betriebe in diesen schwierigen Monaten ihre Einsatzfreudigkeit und Leistungsfähigkeit aufs beste bewiesen haben, wodurch es möglich war, die Versorgung der Bevölkerung in einem ausreichenden Maße sicherzustellen. Dies ist um so bemerkenswerter, weil die Amerikaner mit Ausnahme von Weizen keinerlei Lebensmittel für die zusätzliche Versorgung der ausländischen Arbeiter und Arbeiterinnen in einer Gesamtzahl von etwa 8.000 Personen zur Verfügung stellten.
Der Kreis hat zurzeit, also am 1. 4. 1947:
62.825 Normalverbraucher,
13.773 Vollselbstversorger,
11.457 Teilselbstversorger.An Zusatzkarten werden ausgegeben :
11.328 Stück für Schwer- und Schwerstarbeiter usw.
Die Zahl der Haushalte des Kreises beträgt: 23.500.
Ein Test aus dem Jahre 1980: „Eine Woche essen wie im letzten Krieg“
Ein mir überlassener Bericht des Journalisten Rolf Schmalstein berichtete im Jahre 1980 im „Schlemmer-Journal“ der „Bunten“, wie verwöhnt die Bundesbürger inzwischen geworden waren und fragte, wie es sein würde, wenn man noch „nach Lebensmittelkarten von damals kochen“ müsste. Nachdem man eine Woche lang die „Kriegsration“ genossen hatte, freute sich die Testfamilie über den Gewichtsverlust und auf das gegenwärtige Essen.
Das deutsche. Volk, der Kartentrick zeigt es, zerfällt in zwei Teile: Jene, die sich noch genau an den Hunger im Krieg erinnern, an die Lebensmittelkarten, die roten Reichsbrotkarten und die gelben Reichsfettkarten, an die Raucherkarten. Kleiderkarten und Reisemarken. Und jene, die das alles nicht mehr wissen.
Vor dreißig Jahren, im Januar 1950, beschloss das Bundeskabinett, die Lebensmittelkarten abzuschaffen. Selbst das Bundesarchiv in Koblenz hat keine mehr vorrätig. Dennoch entdeckte ein Amtmann sie jetzt noch im Bonner Stadtarchiv: Lebensmittelkarten, Fleischkarten und Karten für Selbstversorger mit Butter. Karten für Schwerstarbeiter und Karten für ausländische Zivilarbeiter. Brotkarten (ziegelrot für Roggenbrot, rosa für Weißbrot), Nährmittelkarten (für über drei Jahre alte Selbstversorger mit Getreide), gelbe Fettkarten (auf die es auch Kakaopulver gab) und Lebensmittelkarten (mit Bestellschein für entrahmte Frischmilch).
Und wir wollten ausprobieren, ob man davon leben kann: eine Woche lang Kriegsrationen für zwei Kinder und drei Erwachsene, dabei die Oma mit „Kriegskocherfahrung“. Unsere Lebensmittelkarten galten für die 46. Zuteilungsperiode, also vom 8. Februar bis 3. März 1943. Was auf den Karten stand, war damals aber nur eine Ankündigung. Denn nur was über Rundfunk aufgerufen wurde, die Abschnitte für Fleisch und Quark, Kunsthonig und Ersatzkaffee, konnte man tatsächlich einkaufen.
Für diese 46. Zuteilungsperiode wurden an der Heimatfront folgende Lebensmittel pro Kopf des durchschnittlichen Verbrauchers zugeteilt: 9,7 kg Brot, 1,5 kg Fleisch, 250 g Ersatzkaffee, 154 g Fisch, 2,8 Eier, 15,8 kg Kartoffeln, 700 g Marmelade, 900 g Zucker, 250 g Käse und Quark, 7,5 1 entrahmte Frischmilch, 158 g kondensierte Milch, 925 g Handelsfette, 600 g Nährmittel, 85 g Schokolade.
Unser eigenes Experiment beginnt am Samstag mit dem Frühstück: Brot, Butter, Marmelade, Pfefferminztee. Mittags Leber mit Zwiebeln. Äpfeln, Kartoffeln und Kopfsalat. Abends Brötchen und ein Bückling — die Fischration für fünf Menschen für die ganze Woche. Schon am Sonntag ist uns klar: Wir haben zu viele Kartoffeln, zu wenig Brotaufstrich. Also bäckt die Oma ihren Kartoffelkrümelkuchen, der im Krieg sehr beliebt war.
Kenner trinken dazu Malzkaffee. Am Mittwochabend gibt es nur noch (nur noch?) Tomaten aufs Brot. Am Donnerstagmittag gibt es fleischlose Kartoffelsuppe. Wir haben Hunger. In der Schule bieten Klassenkameraden dem Sohn ihr Frühstücksbrot an. Er bleibt hart. Am Freitagabend ziehen wir Bilanz. Alles ist verbraucht, bis auf 4 kg Brot und 2,5 kg Kartoffeln. Gesamtverbrauch demnach 62.517 Kalorien zum Preis von 88,01 Mark. Das heißt: 1786 Kalorien für 2,51 Mark pro Kopf und Tag.
Erwartungsvoll stellen wir uns am Samstagmorgen auf die Waage. Fazit der Woche: Alle haben abgenommen, der Gewichtsverlustrekord sind drei Pfund. Dann decken wir den Frühstückstisch wie heute gewohnt mit allem Drum und Dran. Doch die Kinder haben jetzt eine Ahnung, wie es im Krieg gewesen ist.
Weitere Sachverhalte, die sich auf die Nachkriegszeit im Kreis Euskirchen und in der Umgebung beziehen, sind in meinen Büchern nachlesbar: