Wahrscheinlich gibt es keinen Schüler der Nachkriegsgeneration, der nicht das abgebildete „Prangerbild“ aus dem Geschichtsbuch kennt. Es wurde unmittelbar nach Inkrafttreten der „Nürnberger Gesetze“ (15. September 1935) in Hamburg gemacht und zeigt ein Paar, das angeblich gegen die neuen „Rassegesetze“ verstoßen hatte. Kurz vorher war beschlossen worden, dass Eheschließungen und außereheliche sexuelle Beziehungen zwischen „Juden“ und „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ verboten waren.
Man hatte den „Tätern“ ein Schild umgehängt, um sie vor der Gesellschaft zu verunglimpfen und zu diskriminieren. Diese primitive Form des „Anprangerns“ war eigentlich eine spezielle Form der negativen Sanktionierung, die man bis vor einigen Jahrhunderten noch praktiziert hatte. Die Zeit des „Schandpfahls“ sollte jedoch im einigermaßen zivilisierten Westeuropa längst vorbei sein. In meinem Artikel Die Geschichte der Juden in der Eifel zeigte ich aber eine „Pranger-Tafel“, auf der im Jahre 1935 die Euskirchener Nationalsozialisten „Judenknechte“ - also Menschen, die sich nicht vom Rassismus und Fanatismus der Nationalsozialisten beeindruckt zeigten und weiterhin die Juden als gleichberechtigt betrachteten -, mit Kreide brandmarkten. Bewusst wollte man die „Ehrlosigkeit“ der hiermit Stigmatisierten propagieren.
In meinem am 10. Juli 2008 erschienen Dokumentationsband „REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande stelle ich im 5. Kapitel den „Boykottag“ von Zülpich dar. Am 1. April 1933 wurde der jüdische Arbeiter und Viehhändler Julius Voß – mit einem Schild um den Hals - durch die Straßen der Römerstadt getrieben. Im November 1923 war er für kurze Zeit Bürgermeister der kleinen Eifelgemeinde Kall gewesen und hatte sich daher als „Separatist“ den Hass der deutschnationalen Bevölkerung zugezogen. Die damalige Funktion des jüdischen „Kurzzeit-Funktionärs“ hatten auch die Nationalsozialisten nicht vergessen. Laut Gerichtsunterlagen musste Voß auf Brust und Rücken ein Schild mit der Aufschrift tragen: „Ich Judenlümmel war Separatisten-Bürgermeister von Kall. Meine eingeschlagene Nase zeugt von der ruchlosen Tat“. Bei diesem Umzug am 1. April 1933 in Zülpich wurde mit einer Handglocke geschellt, um die Bevölkerung aufmerksam zu machen.
An diese Situation muss ich immer denken, wenn ich das berühmte Foto aus dem Geschichtsbuch sehe.
In meinem neuen Buch „Reichskristallnacht“ stelle ich diese Form des primitiven Prangers detailliert dar und ergänze meine Ausführungen durch die Einlassung des Bonner Gerichtes. Am 12. April 1949 wurde diesbezüglich über die Zülpicher Verantwortlichen das Urteil gesprochen. Auf Seite 26 ff. zitiere ich dann nicht nur die heute kaum noch nachvollziehbare, milde Strafzumessung, sondern besonders auch die unter Eid gemachten Zeugenaussagen, die weit über das eigentliche Geschehen am „Boykottag“ (1. April 1933) hinausgehenund nicht berücksichtigt wurden. Sie sind typisch für den „Nationalsozialismus auf dem Lande“.
Obwohl meine Dokumentation „REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande erst seit wenigen Tagen im Buchhandel ist, gibt es schon die ersten Reaktionen. Ein Schreiben an den Autor von N.N. aus Zülpich bezieht sich auf das 5. Kapitel und ergänzt das Geschehen folgendermaßen:
(…) Was nun die Verurteilung der Anwohner von der Grünstraße in Zülpich-Hoven angeht, so habe ich noch folgendes als Augenzeuge zu sagen. Am besagten Tag also ging die Ausruferglocke, und ich wollte, wie gewohnt, die städtischen Ansagen hören. Stattdessen sah ich Heinrich H(…), Matthias Sch(…) von der Grünstraße in Hoven und einen Herrn Sch(…), genannt „T(…)" wohnhaft Ecke (…) in Zülpich. Sie hatten einem Mann eine Kuhkette um den Hals gehängt und führten ihn durch Hoven, aber nicht über die Grünstraße Der Mann hatte vorn und hinten je einen großen Pappkarton umhängen, auf dem zu lesen war: `Ich bin (Julius) Voss, ich bin der ehemalige Bürgermeister von Kall, ich bin ein großes (Juden)Schwein.´ (Das Eingeklammerte ist mir im Augenblick nicht ganz sicher) Eine Verletzung habe ich nicht beobachtet.
Ich bin noch ca. 1000 Meter mit Abstand hinterher gegangen, konnte aber keine Schläge oder dergleichen feststellen. Im Neuer Weg durfte Herr Voss sich an einem Holzlichtmast ausruhen, bevor es weiterging. Zur Person des Heinrich H(…) möchte ich ergänzend sagen, dass dieser aus einer (…) Familie stammte, die (…) vermerkt ist und in Sinzenich ihren „Stammsitz" hatte. Er war außer Ihrem präzisen Bericht schon einmal (…).
Die Stadt Zülpich hatte ihn zum F(…) bestellt, was für diesen eine besondere Macht darstellte. Er erntete ohne Arbeit und wehe dem, der ihm was `nachsagte´. Ein ergiebigeres Feld eröffnete sich für ihn, als er (…).
Es waren also drei Leute, die Herrn Voß durch die Stadt zogen, in Ihrem Bericht sind vier Personen erwähnt. Eine Schumannstrasse gibt es in Zülpich nicht (…).
Es wird für einen Geschichtsforscher und Regionalhistoriker unmöglich sein, die wirkliche Wahrheit zu veröffentlichen, zumal die Nachkommen der Nutznießer in allen möglichen Stellen zu finden sind und für den Schreiber sehr unangenehm würden.
Zum `Verhöhnungsgang´ des Herrn Voß möchte ich noch sagen, dass es so gut wie keine Gaffer in Zülpich gab. Es blieben keine Leute auf der Straße stehen, es rief auch keiner irgendwas. Die Türen oder Fenster gingen auf und gleich wieder zu.
Die Zülpicher Nationalsozialisten schikanierten den jüdischen Viehhändler auch in den nächsten Jahren. Für die Regionalhistorie ist folgender Artikel aus dem SCHLEIDENER BEOBACHTER, der Lokalausgabe des WESTDEUTSCHEN BEOBACHTERS, vom 1. Juni 1935 vielleicht interessant. In hämischer Form berichtet der NS-Journalist über Voß, der „vor den Gerichtsschranken“ stand: