Der Novemberpogrom von 1938 machte vielen Juden klar, wie hoffnungslos ihre Zukunft unter der Herrschaft der Nationalsozialisten sein würde. Hatte man zwar bereits seit der sogenannten „Machtergreifung" im Jahre 1933 Boykott und Diskriminierung, Entrechtung und Rassentrennung, ja, sogar nach dem Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 den Ausschluss aus der deutschen Volksgemeinschaft hinnehmen müssen, so war die „Reichskristallnacht" das Signal zur nun einsetzenden Massenflucht.
Inzwischen hatte das Ausland Quoten für jüdische Immigranten vereinbart. Besonders junge Flüchtlinge, wohlhabende oder diejenigen mit Beziehung schafften es bald, das rassistische Deutsche Reich zu verlassen. Andere versuchten, über die „grüne Grenze" nach Belgien oder in die Niederlande zu gelangen. Zu diesen gehörten anfangs mehr Juden aus Österreich als aus dem Rheinland.
Walter Falkenthin (Eli Eytan) – einst Aachen, später Israel – berichtete dem Autor des Buches „Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet“ (1), wie er in seiner Heimat Aachen jüdischen Flüchtlingen half, dem Terror der Nationalsozialisten zu entkommen. Dabei war er als jüdischer Jugendlicher selber gefährdet.
Die Eifel war unauffällig zu erreichen. Über Euskirchen, Gemünd, Schleiden, Hellenthal kam man in das deutsch-belgische Grenzgebiet, von wo aus die Flucht durch die dichten Wälder möglich war. Der Grenzverlauf zwischen Losheim und Monschau machte viele Varianten des Entkommens und auch der Fluchthilfe möglich. Grundsätzlich galt es, unter allen Umständen einen Weg zu finden, um unbemerkt ins benachbarte Ausland zu gelangen.
Zeitgenössische Ansichtskarte 1938: An der Grenze bei Losheim und Losheimergraben
(Archiv: Hans-Dieter Arntz)
Ein weiterer Fluchtweg war über Düren in das Aachener Grenzgebiet. Hier spielte die Vennbahn lange Zeit eine wichtige Rolle. Unter der Überschrift „An den Nummern werdet ihr sie erkennen" forderte der „Westdeutsche Beobachter" seine Leser bereits im Juli 1935 auf, Autos und Fahrer aus entfernten Kreisgebieten Deutschlands zu erkennen und beobachten.(2) Schon seit Monaten war bei den Redakteuren die Vermutung aufgekommen, dass nicht nur Touristen und Erholungssuchende, sondern auch potentielle Flüchtlinge im Grenzgebiet zwischen Aachen, Monschau und Losheim durch die dichten Wälder wanderten. Das, was im Juli 1935 noch als sachliche Erklärung und Aufforderung zum „hübschen Gesellschaftsspiel des Nummernlesens" (WDB) galt, bekam spätestens 1938 einen anderen Sinn. Die Anweisungen der jeweiligen Ortsgruppenleiter im westdeutschen Grenzgebiet sahen tatsächlich vor, verdächtig parkende Autos zu melden und deren Fahrer zu veranlassen, sich auszuweisen.
Der Aachener Eli Eytan (früher Walter Falkenthin) führte als Jugendlicher |
Eine Kontaktadresse für Flüchtlinge gab es auch in Aachen, nämlich das jüdische Hotel „Schloß", das offenbar nach seinem Besitzer benannt worden war. Der gebürtige Aachener Eli Eytan (früher: Walter Falkenthin) erinnert sich an diesbezügliche Beobachtungen:
Ich, Eli Eytan, wurde am 4.10.1921 in Aachen als Sohn des Kaufmannes Eugen Falkenthin und seiner Frau Friedel geb. Rosemann geboren. Leider starb meine Mutter, als ich etwa 3 ½ Jahre alt war. Mein Vater, ein gebürtiger ,Oecher' (geb. 10.2. 1895) heiratete später erneut, nämlich Margarete Schnell aus Harzgerode (…).
Meine Jugend verbrachte ich in der Rochusstraße 9. Gleich um die Ecke wohnten mein Cousin Arie Eytan und meine Großmutter Falkenthin. Von dort zogen wir - ich glaube 1936 - in die Guaitastraße 20 um. Im Gegensatz zu vielen meiner Verwandten hatte ich das Glück, den Nazikrallen zu entkommen, obwohl ich noch bis Juli 1939 in Aachen lebte, von dort nach Urfeld (zwischen Bonn und Köln) zu einem Vorbereitungslager für Palästina ging und erst im September 1940, mit dem letzten Transport, das sogenannte 1000jährige Reich verlassen konnte. Die ,grüne Grenze' habe ich als Aachener selber erlebt.
Für uns 14-15jährige jüdische Jugendliche hatte die Jugendzeit eigentlich schon aufgehört. Nirgendwo konnten wir uns beteiligen. Für uns gab es keine Kino- oder Theatervorstellungen mehr, keine öffentlichen Freibäder, wenig und dann streng kontrollierte Sportaktivitäten (…). Nur der Besuch der Berufsschulen oder Sprachenschulen (z.B. Berlitz) war uns noch bis zum 10.November 1938 gestattet. So suchten wir uns also Beschäftigungen. Seit etwa 1936/37 kamen viele Juden aus Osteuropa, dann aus Österreich und sogar nicht wenige aus Berlin nach Aachen, um über die ,grüne Grenze' nach Belgien zu gehen. Nach Holland wollte eigentlich kaum jemand. In dem jüdischen Hotel ,Schloß' fanden diese Flüchtlinge einen Aufenthalt, von wo aus sie Verbindungen und Möglichkeiten zum illegalen Grenzübertritt suchten.
Natürlich war bekannt, dass die deutsche Grenzpolizei niemanden ohne Ausweis die Grenze überschreiten ließ und die Belgier jeden Illegalen zurückschickten. Wir erfuhren schnell, dass sich dort bei ,Schloß' ein regelrechter Menschenhandel abspielte. Die Menschen zahlten von 1000 bis 10000RM an die Menschenschmuggler. Je höher die Bezahlung, desto besser die Bedienung. Man konnte sich ganz vornehm von einem Taxi abholen und bis zur Grenze kutschieren lassen. Mit einem Schmuggler schlich man dann über Seitenwege nach Belgien hinein, wo man dann wieder empfangen und später nach Brüssel oder Antwerpen gebracht wurde. Das war Luxus und kostete dementsprechend.
Sehr viel Genaueres wusste ich damals noch nicht. Auf jeden Fall kam ein Bruder meiner verstorbenen Mutter auf diese Weise nach Belgien, nicht ohne dass meine Großeltern vorher eine stattliche Summe auf den Tisch legen mussten.
Etwa seit 1937/38 machten sich mein Freund und ich einen Sport daraus, so oft wie möglich nachmittags und in den frühen Abendstunden mit den Fahrrädern an die Grenze im Wald zu fahren, um vor allem die Plätze aufzusuchen, wo für den Westwall gebaut wurde und Tankfallen allmählich ein interessantes Aussehen annahmen. Das waren Abenteuerfahrten, natürlich verbunden mit Besuchen bei jungen Mädchen. Aber was hätte man sonst noch tun können?Eines Tages stießen wir auf einem Seitenweg, ganz nahe der Grenze, auf einige Leute, die ängstlich um sich schauten. Man merkte sofort, dass sie verlassen und ratlos waren. Instinktiv stiegen wir von den Rädern ab und fragten nach ihrem Ziel. Sie sprachen kein Deutsch. Ich merkte aber sofort, dass sie Juden waren - anscheinend aus dem Osten. Sie sagten etwas in Jiddisch, was wir nicht verstanden. Aber nachdem ich den Anfang eines hebräischen Gebetes ,Schema Jisrael', d.h. ,Höre, Israel!' geflüstert hatte, vertrauten sie sich uns an. Ein junger Mann, der die deutsche Sprache beherrschte, kam hinzu, und, nachdem er uns vorher von der Seite gemustert hatte, erklärte er uns das Schicksal dieser Gruppe. Diese bestand aus etwa 8-10 Menschen.
Sie hatten in einem Hotel einem Menschenschmuggler eine bestimmte Summe Geld gegeben und das Versprechen erhalten, sicher und unauffällig über die Grenze gebracht zu werden. In zwei Autos wurden die Flüchtlinge abgeholt und auf der Hauptstraße, bis etwa 2 km vor der Grenze, abgesetzt. Sie sollten sich jetzt rechts in die Büsche schlagen und auf einen Belgier warten, der dann natürlich nicht kam. So hatten sie ihr gesamtes Geld ausgegeben und waren nun völlig ratlos.
Mein Freund und ich wussten in der Gegend gut Bescheid. Nach kurzer Beratung waren wir bereit, die jüdischen Flüchtlinge zum Grenzgraben zu führen. Wir kannten da eine Stelle, an der sich niemals Grenzer sehen ließen. Damals war ich 16 Jahre alt. Ich sollte vorneweg fahren und mein Freund am Schluss, falls deutsche Grenzpolizei auftauchen sollte. Für den Fall einer plötzlichen Gefahr hatten wir ausgemacht, eine bestimmte Melodie zu pfeifen. Die Flüchtlinge sollten sich dann unverzüglich in die Büsche schlagen. Nach etwa 20 Minuten erreichten wir den Platz, von dem aus es nicht mehr weit zum nächsten belgischen Dorf war, das schon hinter der Kontrolle der Grenzposten lag.
Nach diesem ersten Erfolg gelang es uns noch mehrere Male, jüdische Flüchtlinge vor der Verhaftung oder der offiziellen Zurückweisung zu retten. Wir haben nie erfahren, was aus den Flüchtlingen geworden ist. Dass Belgien nicht die Endstation der Flucht wurde, ist ja leider bekannt." (3)
Schnellbrief der Geheimen Staatspolizei vom 15. März 1939: Unterbindung der illegalen
Auswanderung von Juden (Hauptstaatsarchiv RW 36-15, S. 26)
Dass Eli Eytan bald selber Hilfe benötigen würde, um sich zu retten, ahnte er damals noch nicht. Bis zum Juli 1939 lebte er in seiner Heimatstadt Aachen, bis er dann nach Urfeld bei Wesseling ging, um sich in diesem jüdischen Vorbereitungslager auf die landwirtschaftliche Tätigkeit in Palästina vorbereiten zu lassen. Seit der „Reichskristallnacht“ war jedem klar, dass die rassistische Politik der Nationalsozialisten eine systematische Verfolgung der ehemaligen Mitbürger vorsah.
Über seine eigene Flucht berichtete 1980 eine große israelische Zeitung. Vor den Ufern Palästinas wurde das baufällige Schiff „MS Patria“ von den Engländern aufgebracht. Die vielen jüdischen Flüchtlinge mussten damit rechnen, in spezielle Lager auf Zypern oder sogar nach Europa zurückgebracht zu werden. Was jetzt geschah, hätte dem Aachener Walter Falkenthin (Eli Eytan) das Leben kosten können. Um die Weltöffentlichkeit auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen und gleichzeitig die Engländer zu zwingen, sie auf jeden Fall in das britische Mandatsgebiet hineinzulassen, sprengten sie die „MS Patria“ in die Luft.
Lange noch wurde gerätselt, wie der Explosionsstoff, trotz der strengen Bewachung, an Bord des Schiffes kam. Heute ist dieses Geheimnis gelüftet: In einem Beutel voller Sandwiches, übergossen mit einem Eierkuchen! Ein Mann der Hagana brachte es als Arbeiter verkleidet an Bord. Er war von den Engländern angefordert worden, einen Backofen zu reparieren und nutzte diese Chance, seinen Glaubensbrüdern zu helfen.
An dem Tage, an dem es zur Explosion kam, erhielten die vielen jüdischen Flüchtlinge den Befehl, auf Deck an einer Demonstration teilzunehmen. Walter Falkenthin und einer Anzahl junger Männer wurde aufgetragen, im Verlaufe der Demonstration ins Meer zu springen. Um 9 Uhr standen alle auf den beiden Seiten der Decks. Als plötzlich eine Stimme rief: „Springen!“, sprangen sie in das Wasser. Fast im gleichen Augenblick ertönte eine gewaltige Detonation. Der Aachener Walter Falkenthin hatte nur noch ein einziges Ziel: sich vom Schiff zu entfernen und an Land zu schwimmen.
Die Engländer benahmen sich völlig kopflos. In der Überraschung vermuteten viele, ein deutsches U-Boot hätte die „Patria“ torpediert oder ein Luftangriff finde statt. So drängten die Soldaten die jüdischen Flüchtlinge in das Innere des Schiffes zurück.
Diejenigen, die nicht mehr an Deck gekommen waren, verloren ihr Leben. Etwa 250 Menschen kamen um oder wurden vom Wasserstrudel der untergehenden „Patria“ erfasst. Walter Falkenthin rettete sein Leben dadurch, dass er ein guter Schwimmer war. Zwei schwerbeladene Boote kamen in einiger Entfernung vorbei, konnten ihn aber nicht mehr aufnehmen. Das war eigentlich sein Glück, denn es stellte sich später heraus, dass die Geretteten in das nächste Gefängnis gebracht wurden.
Erst ein anderes Boot fischte ihn auf. Der junge Aachener war der Besatzung behilflich, einige Schiffbrüchige aufzufischen. Es war der 25. November 1940. Es herrschten kühle Temperaturen, und manche zitterten vor Kälte.
Im Hafengelände herrschte Freud und Leid. In einem großen Lagerraum suchten Eltern ihre Kinder, Männer ihre Ehefrauen, Freunde ihre Kameraden. Fast alle waren nackt oder halb bekleidet. Man rief sich beim Namen, suchte auf den Tragbahren nach Verletzten oder Angehörige unter den Toten. Das Verhalten der Engländer war unbegreiflich. Sie bildeten einen großen Kreis um die Schiffbrüchigen und zielten mit Gewehren oder Bajonetten auf sie, damit nur keine Fluchtversuche unternommen würden.
Am Abend des 25. November 1940 brachte man alle Schiffbrüchigen in das Gefangenenlager in Athith, wo sie ein Jahr lang inhaftiert waren. Walter Falkenthin alias Eli Eytan ging in einen Kibbutz, wo er noch mehr als 30 Jahre in der Landwirtschaft tätig war. Später wurde Generalsekretär einer großen israelischen Firma, die sich auf Samenzucht spezialisierte.
Als Pensionär arbeitete der gebürtige Aachener, der einst anderen bei der Flucht über die „grüne Grenze“ bei Aachen geholfen hatte und später selber als Flüchtling gerettet wurde, ehrenamtlich bei der URO, einer internationalen Organisation für Wiedergutmachung. (4)
FUSSNOTEN
(1) Hans-Dieter Arntz, Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet“, Euskirchen1990.
(2) „Westdeutscher Beobachter“, Lokalteil Schleiden, vom 22. Juli 1935.
(3) Schreiben von Eli Eytan (früher: Walter Falkenthin) vom 1. Mai 1989.
(4) Inhaltliche Wiedergabe nach ARNTZ, Judenverfolgung und Fluchthilfe, a.a. O. S. 692-697.
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