Benjamin Murmelstein und Josef Weiss,
 die letzten Judenältesten von Theresienstadt und Bergen-Belsen –
Gedanken zum Film von Claude Lanzmann „Der letzte der Ungerechten“

von Hans-Dieter Arntz
03.08.2013

Dass während der Filmfestspiele in Cannes einige Historiker angeblich auch über mein neues Buch Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen diskutierten, überraschte mich als Autor, machte mich aber auch etwas stolz. Die Problematik des dort aufgeführten Lanzmann-Filmes „Der Letzte der Ungerechten“ ähnelt allerdings der Holocaust-Thematik meiner Biografie bzw. Dokumentation und ruft eventuell zum Vergleich oder gar zur Bestätigung auf. Dies wäre durchaus auch in meinem Sinne!

 

Murmelstein   Weiss

links: Murmelstein

 

rechts: Josef Weiss

Copyright Hans-Dieter Arntz

 

Claude Lanzmann stellte beim Festival von Cannes erfolgreich seinen Film über Benjamin Murmelstein „Der letzte der Ungerechten“ vor, ließ ihn allerdings nur außer Konkurrenz vorführen. Die Begeisterung der Zuschauer war jedoch so groß, dass er sicher mit der „Goldenen Palme“ ausgezeichnet worden wäre.

Auch ich hatte mich jahrelang mit Benjamin Murmelstein (1905-1989) befasst und gewisse Parallelen in meiner 710 Seiten starken Dokumentation über Josef Weiss, den letzten Judenältesten von Bergen-Belsen, erkannt. Mehrere sehr spezielle Argumente von Benjamin Murmelstein – zum Beispiel ein „Eichmann-Komplott“, nach dem Theresienstadt-Überlebende durch typhuskranke Belsen-Evakuierte angesteckt werden sollten -, habe ich zusätzlich in meinem Buch angeführt.

Offensichtlich war es Benjamin Murmelstein, der differenzierte und qualifizierte Vertreter einer Zwangsgemeinschaft (d.h. für Theresienstadt: Judenältester) bisher nicht wert, Protagonist eines Buches oder sonstigen Publikation zu werden. Selbst ein von ihm selbst verfasstes Manuskript hatte in den 1970er Jahren keinen Verleger gefunden. Auch sollte man keineswegs vergessen, dass Claude Lanzmann (* 1925), der berühmte französische Regisseur, Filmemacher und Produzent, - trotz eines etwa 10stündigen Interviews - den letzten Judenältesten von Theresienstadt in seinem neunstündigen Filmwerk Shoah (1985) nicht zu Worte kommen ließ und dies mit folgenden Worten, laut einem FAZ-Interview vom 27. Mai 2013, begründete:

“Shoah“ ist ein epischer Film mit einem tragischen Ton. Wenn man Murmelstein zuhört, merkt man sofort: Das geht nicht zusammen. Mit ihm hatte ich einen lebenden Präsidenten eines Judenrats. Ich entschloss mich, Murmelstein durch einen Toten zu ersetzen, Adam Cerniakow, der sich in Warschau das Leben nahm, als die Deportationen begannen. Raul Hilberg kommentiert in „Shoah“ sein Tagebuch. Ich hatte es ihm zu lesen gegeben. Hilberg war den Judenräten gegenüber sehr kritisch, ja feindlich eingestellt. Ich erläuterte ihm die widersprüchlichen Zwänge, denen sie ausgesetzt waren, dass sie nicht anders handeln konnten. Schließlich gab mir Hilberg recht und hat seine Meinung über die Judenräte geändert.

Jetzt wollte Claude Lanzmann mit dem Film „Le Dernier des Injustes“ bzw. der Dokumentation Der letzte der Ungerechten von 2013 nach eigenem Bekunden Benjamin Murmelstein, dem letzten Vorsitzenden des Judenrates von Theresienstadt, „ein Denkmal setzen“, da dessen „Rolle bislang sehr ungerecht“ dargestellt worden sei.

Dass dies nicht schon längst gemacht worden ist, beklagte sein Sohn Dr. Wolf Murmelstein (* 1936), mit dem ich seit etwa 7 Jahren in Kontakt stehe und den ich als engagierten Berater meiner Forschungen schätzen gelernt hatte. Jetzt vertritt Claude Lanzmann in seinem Film „Le Dernier des Injustes“ die Ansicht, dass tatsächlich eine „Marionette die Fäden ziehen konnte“ und ein Judenältester nicht unbedingt als ein verachteter „Verräter, der mit den Nationalsozialisten kollaboriert hatte,“ zu bewerten ist. Dies entspricht auch der Aussage meines Buches, und nicht umsonst lautet der Untertitel: „Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung“.

Dass dieser aus dem Rheinland stammende Jude nach dem Holocaust sogar respektiert, wenn nicht sogar verehrt wurde, könnte die Funktion eines bisher verachteten Judenältesten in ein noch helleres Licht setzen. Josef Weiss (1893-1976) ist der Protagonist meiner jahrelangen Forschungen, und ich verstehe mein Buch „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“ nicht nur als Biografie, sondern als eine personifizierte Dokumentation von Bergen-Belsen. Auf der Rückseite meines Buchcovers heißt es:

In der Befehlskette des deutschen NS-Terrors war ein „Judenältester“ ein Funktionshäftling, der als exponierte Persönlichkeit einerseits williger Befehlsempfänger, aber andererseits auch Repräsentant eines „Judenrates“ und Helfer der unzähligen, für den Holocaust vorgesehenen jüdischen Opfer sein sollte. Aus dieser Problematik heraus entstand ein Balanceakt, der nie ganz frei vom Vorwurf der Kollaboration und Korruption war.

Insofern ist die vorliegende Dokumentation nicht nur eine Biografie über den aus Deutschland stammenden Josef Weiss, sondern auch der exemplarische Beginn einer bisher in Deutschland kaum angelaufenen Forschung. Die Reputation der „Judenältesten“ ist bis heute durch viele Vorwürfe schwer belastet.

Der Name Bergen-Belsen wurde zu einem Synonym für Terror, Gräuel und verhungerte Menschen im NS-Konzentrationslagersystem. Dass in einem solchen Inferno ein Jude aus der Voreifel zum Vorbild und zur Hoffnung vieler gequälter Menschen werden konnte und als „letzter Judenältester“ schließlich zur charismatischen Persönlichkeit wurde, widerspricht der grundsätzlichen Diskriminierung aller Funktionshäftlinge. Das vorgelegte Material ergibt aber dennoch einen eindringlichen Überblick über die eigentlich unbeschreibbaren Verbrechen im Konzentrationslager Bergen-Belsen (1944/45).

Somit ist das als Biografie konzipierte Buch ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um die angeblich „willigen Helfer“ des NS-Terrors und ein weiterer Nachweis über die Vernichtungsmaßnahmen in Bergen-Belsen...

Vielleicht haben die diskutierfreudigen Gäste in Cannes meine grundsätzliche Aussage auch so betrachtet. Auf dem Festival rollte der Dokumentarfilm von Claude Lanzmann „Der Letzte der Ungerechten“ die jahrzehntelang verdrängte Problematik endlich wieder auf, und in dem erwähnten Interview der Frankfurter Allgemeinen wird die Meinung des französischen Regisseurs und Produzenten zusammengefasst, nach der sein Filmwerk „kein Dokumentarfilm, sondern ein Kunstwerk“ ist.

Außer einem Roman von Steve Sem-Sandberg, der im Jahre 2011 „Die Elenden von Lodzund den Judenältesten Chaim Rumkowski darstellte, gab es bisher keine detaillierte Dokumentation über einen „Judenältesten“ und eine derartige Funktion eines jüdischen Häftlings. Insofern bin ich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ v. 1. Juli 2013) für die Beurteilung meines eigenen Buches „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“ dankbar:

 „Ein bislang fehlendes Porträt eines Judenältesten (...). Die historische Diskussion um die Funktionshäftlinge wurde durch dieses Buch auf eine neue Stufe gehoben“.

Durch Zufall entdeckte ich im Internet eine Reaktion auf den Lanzmann-Murmelstein-Film und fand auch hier die Erwähnung meines Buches: „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen. Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung“.

Bei Movie Blogs (Aktuelle Filmkritik) vom 4. Juli 2013 hieß es:

 

Überlebende

 

Ein Buch und ein Film, die in diesem Jahr herauskamen, widmen sich den sogenannten „Judenältesten“ in den Konzentrationslagern, über die noch immer zu wenig bekannt ist, die aber oft der Kollaboration verdächtigt wurden. Über einen von ihnen hat Hans Dieter Arntz nun eine umfangreiche Dokumentation vorgelegt: „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen. Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung“ (Helios, 2013). Arntz schreibt in seinem 2012 abgeschlossenen Werk, beklagend: „Claude Lanzmann drehte 1975/76 für seinen Dokumentarfilm „Shoah“ auch in Rom und führte ein langes Gespräch mit dem Rabbiner Dr. Benjamin Murmelstein. Die wissenschaftliche Auswertung hätte schon damals das begründete Selbstverständnis eines Judenältesten konstatieren können. Aber das wurde leider unterlassen.“

Inzwischen hat Claude Lanzmann den Dokumentarfilm „Der letzte der Ungerechten“ über Murmelstein beim Festival in Cannes vorgestellt. Er sagte dazu in einem Interview, gefragt, ob der Film eine Rehabilitierung leisten könne: „Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Man ist mit Benjamin Murmelstein sehr ungerecht gewesen. Es geht um eine Wiedergutmachung, die ich leisten will. Der Film zeigt, dass es nicht die Juden waren, die ihre Brüder ermordet haben…“ (FAZ, 27. Mai 2013)
Die ersten Fragen, die Lanzmann Murmelstein gestellt hatte, waren „Warum wurden die Judenältesten mehr gehasst als die Nazis?“ und „Warum leben Sie?“. Diesen Fragen geht auch Arntz in seinem Buch nach. Der Überlebende erscheint verdächtig. Er zitiert einen Häftling aus Bergen-Belsen, Werner Weinberg: „In seinem Buch „Wunden, die nicht heilen dürfen“ vertritt er die Ansicht, dass das Holocaust-Überleben zeitlich unbegrenzt und negativ klassifiziert ist: ‚Ein Überlebender des Krieges ist ein Veteran…Aber ein Überlebender des Holocaust ist geradezu ein Widerspruch in sich selbst, denn ein Ganzopfer lässt keine Überreste…’“

Als Buchautor und Historiker freute ich mich, als meine seit bereits1983 publizierte Ansicht über Funktionshäftlinge - und exemplarisch bezüglich des Judenältesten von Bergen-Belsen – auch schon von Außenminister Dr. Guido Westerwelle zur Kenntnis genommen und am Beispiel von Josef Weiss begrüßt wurde. Bereits am 31. Juli 2012 ließ er mir mitteilen:

Die Kenntnis von Einzelschicksalen – hier des Josef Weiss – führt dem Leser vor Augen, zu welch hohem Maß an Integrität, basierend auf tiefer Überzeugung, manche Menschen in den dunkelsten Stunden fähig waren. Die Erinnerung an sie ist für kommende Generationen sehr wertvoll. Die genaue Kenntnis der Vergan­genheit und menschliche Beispiele helfen uns, uns in der Gegenwart gegen Hass und Antisemitismus stark zu machen...

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