Über die ersten Auswanderungspläne der Aachener und Eifeler Juden wird in dem umfangreichen Dokumentationsband Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischem Grenzgebiet berichtet. Das Buch konzentriert sich auf das Eifel-Ardennen-Gebiet im Bereich der einstigen Kreise Aachen und Schleiden, aber auch auf Monschau und das belgische Eupen/Malmedy sowie die Voreifel mit dem Zentrum Euskirchen. Der folgende Beitrag über die „Auswanderungspläne der Aachener Juden im Jahre 1935“ basiert auf den Seiten 341 bis 348.
Nach der sogenannten „Machtergreifung“ und den ersten rassistischen Verfolgungen durch die Nationalsozialisten dachten viele Juden an eine Auswanderung. Beispiele für die ersten Aktivitäten „auf dem Lande“, also in der Eifel und Voreifel, sollen anhand der Grenzstadt Aachen dargestellt werden. Auf die ergänzende regionalhistorische Literatur zum Judentum im 3. Reich sei hingewiesen.
Auch in der Synagogengemeinde Aachen liefen Filme, die auf eine potenzielle Auswanderung junger Juden vorbereiten sollten. Die Versammlungstätigkeit war ein deutliches Zeichen der sozialen Umstrukturierung der jüdischen Gemeinden, und besonders die Zusammenkünfte der Jugend und deren Organisationen wurden stets überwacht. Solange dies einer baldigen jüdischen Emigration diente, machten die Nationalsozialisten keine Schwierigkeiten. Zwar beobachtet ein Aachener Mitarbeiter der Staatspolizei und berichtet hierüber, lässt aber abschließend erkennen, dass man im Prinzip die Aktivitäten der Zionisten unterstützen solle. Andere diesbezügliche Institutionen werden missbilligt. Wörtlich heißt es in im Bericht der Staatspolizei für den Regierungsbezirk Aachen, Juni 1935:
Die zionistische Ortsgruppe Aachen wollte am Sonntag, dem 23. 6. 1935, einen Film mit dem Titel „Land der Verheißung“ in einem hiesigen Kinotheater ihren Mitgliedern vorführen. Von Seiten der hiesigen Kinobesitzer wurde aber die Bereitstellung eines Theaters abgelehnt. Die hiesige Stadtverwaltung hat daraufhin einen Saal im alten Kurhaus den Juden zur Verfügung gestellt. Die Vorführung sollte am 27.6. 1935 stattfinden. Aus dem ganzen Bereich der Staatspolizeistelle Aachen waren die jüdischen Versammlungsteilnehmer - ungefähr 400 Juden - erschienen. Die Vorführung des Filmes konnte aber wiederum nicht stattfinden, und zwar deshalb, weil das aus Düsseldorf gelieferte Filmgerät nur auf Wechselstrom arbeitet (…).
In meinem Schreiben vom 25.6. 1935 habe ich bereits über die Gründung einer Ortsgruppe des Bundes deutsch-jüdischer Jugend berichtet. Hierzu bemerke ich, daß die Mehrzahl der jüdischen Jugend von Aachen der Ortsgruppe beigetreten ist. Auch ein Teil der zionistischen Jugend ist zu der Ortsgruppe übergetreten. Es findet stärkste Überwachung statt. Die Zielsetzung des Bundes ist:
1. Zusammenschluß junger in Deutschland lebender Juden,
2. die Pflege des ihnen angeblich durch Überlieferung, Elternhaus und Schule vertrauten deutschen Kulturgutes.
(…) Hieraus ist zu ersehen, daß der Bund nicht im entferntesten daran denkt, seine Mitglieder für eine Auswanderung zu gewinnen und vorzubereiten. Es geht m. E. nicht an, daß innerhalb der jüdischen Bevölkerung immer noch neue Verbände und Verbändchen gegründet werden, und meist nur solche, die den Zionisten in ihren Auswanderungsbestrebungen eine ernste Gefahr bedeuten.
Aufgrund der auch von den Nazis gewünschten Auswanderung ließen es sich sogar viele Juden aus dem benachbarten Kreis Schleiden nicht nehmen, am Sonntag, dem 14. 7. 1935, nach Aachen zu fahren. Sie zählten zu den insgesamt 550 Juden aus dem Regierungsbezirk Aachen, die im Laufe der nächsten Zeit den Film „Erez Israel" zu sehen bekamen. Auffallend war, dass sich die Anwesenden aus Juden vorgeschrittenen Alters zusammensetzten, die wahrscheinlich nur aus Neugierde gekommen waren. Eigentlich hatte sich herausgestellt, dass sich hauptsächlich junge Juden um eine „Umschichtung“ und danach intensiv um eine Auswanderung bemühten, während sich ihre älteren Angehörigen im Jahre 1935 verstärkt um ihren Besitzstand sorgten und alles Weitere abwarten wollten.
Wie schon vorher, so wurde auch die Veranstaltung vom 14. Juli 1935 in Aachen von der Staatspolizei überwacht. Man wollte sich ein Bild von den Aktivitäten der Juden machen und die Stimmung hierfür eruieren. Ein Vertrauensmann berichtet für die Stapo-Unterlagen (Vgl. ARNTZ, Judenverfolgung und Fluchthilfe, S. 341 und 342):
(…) Die jüdischen Jugendorganisationen der zionistischen Ortsgruppe waren dagegen nur spärlich vertreten. Der Film gab den Juden einen klaren Einblick über den Aufbau Palästinas in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Dabei wurden Bilder gezeigt, wie jüdische Jugend beiderlei Geschlechts körperlich schwere Arbeiten verrichteten; z. B. Straßenbau, Erbauung von Häusern, Fabriken, Kultivieren verwüsteten Ödlandes usw. (…).
Daß derartige Bilder bei den deutschen Juden, deren Mehrzahl solche Handarbeit nicht kennt, keine Begeisterung hervorgerufen hat, ist begreiflich. Demgegenüber haben Bilder, die das Strand- und Badeleben zeigten, ferner Vorbereitungen für den Sabbat, Handel und Wandel in den Städten, allgemeinen und großen Beifall gefunden. Meines Erachtens sind derartige Filme kaum ein geeignetes Propagandamittel für eine Auswanderung der Juden. Der in der letzten Zeit bei der jüdischen Jugend noch vorhandene Auswanderungsdrang hat leider abgenommen, was zum Teil auf finanzielle Schwierigkeiten zurückzuführen ist. Bemerkenswert ist, daß die zionistischen Jugendorganisationen in Aachen nur 25 Mitglieder haben. Ihnen gegenüber steht die erst kürzlich ins Leben gerufene deutsch-jüdische Jugend mit 80 Mitgliedern (…).
Zur allgemeinen Information potenzieller Emigraten dienten auch Zeitungen und ähnliche Schriften. Da war zum Beispiel die englischsprachige Broschüre „The Jewish Village", die in verherrlichender Form Palästina als das „gelobte Land" darstellte. Besonders aktuell und jedem potentiellen Auswanderer bekannt war „Alijah", eine Schrift, die viele Informationen zur Emigration anbot. Hier annoncierten Möbelunternehmen, Banken, Reisegesellschaften. Geeignete Kleidung, in Palästina zu erwartende Arbeitsanforderungen, Verdienst, Sorgen, klimatische Erschwernisse, Hinweise auf Renten oder finanzielle Transaktionen wurden in qualifizierten Artikeln diskutiert.
Die folgende Aufstellung gibt tabellarisch Auskunft über die jüdische Emigration und dient auch zum Verständnis anderer Kapitel des o.a. Buches Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet:
Die jüdische Emigration in Zahlen 1933-1945
Nach: Herbert A. Strauss: Jewish emigration from Germany. Nazi policies and Jewish responses. In: Leo Baeck Institute. Year book. London, Jerusalem, New York. 25 (1980), S. 326.
Dass die Aachener Juden mobiler waren als diejenigen im Hinterland des Eifel-Ardennen-Gebietes, beweist die Übersicht des Rechtsanwaltes Karl Löwenstein, der im Gemeindeblatt für den Bezirk der Synagogengemeinde Aachen die Emigration analysierte. Mit Unterstützung des Gemeindesekretariates und der jüdischen Vereine stellte er für die Kaiserstadt eine namentliche Liste aller Personen zusammen, die seit 1933 ausgewandert waren. Es wurden nur die Auswanderer berücksichtigt, von denen angenommen wurde, dass ihre Abmeldung endgültig war. Jedoch blieben Rückwanderer unberücksichtigt.
Die Staatspolizei des Regierungsbezirkes Aachen interessierte sich für diese Liste und berichtete darüber in ihrem Monatsbericht vom November 1935:
„Seit dem 1.1. 1933 bis zum 30.9. 1935 sind der Aufstellung zufolge von den etwa 1300 Gemeindemitgliedern insgesamt 293 aus Aachen fortgezogen; davon 158 ins Ausland, 107 in andere deutsche Orte, während bei 28, also etwa 10% der Fortgezogenen, das Ziel der Reise nicht festzustellen war. Das Nichtbekanntsein des Reiseziels der sogenannten 28 Personen wird darauf zurückgeführt, daß durch die überstürzte Auswanderung in der Zeit nach April 1933 die Abmeldung unterblieben ist. Es wird unterstellt, daß hiervon der größte Teil ins Ausland verzogen ist. Die Gesamtzahl der ins Ausland Gewanderten beträgt also 172, das sind 13,2% aller am 1.1. 1933 in Aachen ansässigen Gemeindemitglieder.
Von den Ausgewanderten, deren Reiseziel nicht bekannt ist, waren 62 Ostjuden, also 39%, während die Gesamtzahl der Ostjuden von den 1933 in Aachen lebenden Juden auf höchstens 12-15% zu schätzen ist.
In den einzelnen Jahren verteilte sich die Auswanderung auf die hauptsächlichen Länder wie folgt:
Rechtsanwalt Löwenstein folgert allerdings, dass das Aachener Ergebnis nicht auf ganz Deutschland übertragen werden könne. Es sei begreiflich, dass von Aachen als Grenzstadt die Auswanderung zunächst in die nahegelegenen Länder Holland und Belgien und ferner nach Palästina ginge.
(…) Mit der Zahl der nach Palästina abgewanderten Juden dürfte Aachen dem Reichsdurchschnitt nahekommen. Nach den Feststellungen des Preußischen Staatspolizeiamtes sind bis zum Frühjahr 1935 rund 80000 Juden aus Deutschland ausgewandert, so daß sich diese Zahl bis Ende September auf etwa 100000 erhöht haben dürfte.
Hinsichtlich des Altersaufbaues der jüdischen Auswanderer bestätigte die Aachener Statistik die Feststellungen der anderen Städte, daß der ganz überwiegende Teil der Auswanderer, nämlich 125 von 158, also 80%, im Alter von unter 40 Jahren wäre, während nur 33, also nur 20%, im Alter von über 40 Jahren waren. Da nach dem Altersaufbau der Gemeinde Aachen ein viel größerer Teil der Mitglieder älter als 40 Jahre sei, ergebe sich, daß im wesentlichen gerade der jugendliche Teil ausgewandert sei, so daß sich durch die Auswanderung eine Vergreisung des deutschen Judentums ergebe“.
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