Anmerkungen zu Thomas Eßer, Vizepräsident des Deutschen Reichstages (1926–1933): Verfolgter, aber kein Widerstandskämpfer

von Hans-Dieter Arntz
09.03.2018

Dass die Verdienste historischer Persönlichkeiten von späteren Generationen dankbar anerkannt und gewürdigt werden, gehört zur Erinnerungskultur. Aber je größer der zeitliche Abstand zu ihrem Wirken wird, desto eher kommt es gelegentlich vor, dass sie heroisiert werden. In den etwa 40 Jahren meiner regionalhistorischen Arbeit stellte auch ich dieses Phänomen fest.

 

Thomas Eßer, Vizepräsident des Deutschen Reichstages (1926-1933),
 Collage in: Hans-Dieter Arntz „JUDAICA- Juden in der Voreifel“(1983), S. 165


Als regionalhistorisches Beispiel möchte ich die Diskriminierung und Verfolgung des damals in Euskirchen lebenden Vizepräsidenten des Deutschen Reichstages (1926-1933) anführen: Thomas Eßer (* 1870 in Schwerfen; † 1948 in Euskirchen). Wikipedia konstatiert seinen politischen Werdegang sowie seine Verfolgung im Dritten Reich:

Am 6. April 1933 wurde er wegen angeblicher Verfehlungen vom NS-Regime verhaftet und blieb bis zum 16. Mai im Kölner Gefängnis Klingelpütz inhaftiert. Am 7. Juni 1933 wurden ihm die Ehrenbürgerrechte der Stadt Euskirchen aberkannt. Da ihm Schreib- und Redeverbot erteilt wurde, schrieb er danach anonym diverse Romane und Geschichten.

Im September 1933 wurde er als Leiter der Euskirchener Gewerbebank zwangspensioniert.

Am 22. August 1944 wurde Eßer nach dem Attentat auf Hitler im Rahmen der Aktion Gewitter verhaftet und als Schutzhäftling zusammen mit Konrad Adenauer, Josef Baumhoff, Peter Schlack, Otto Gerig und Joseph Roth in das Arbeitserziehungslager in den Messehallen in Köln-Deutz überführt.

Ohne jetzt im Jahre 2018 auf die inzwischen vorliegenden Forschungsergebnisse diesbezüglicher Historiker einzugehen, möchte ich auch auf meiner Homepage festhalten, dass ich bereits im Jahre 1983 Thomas Eßer als Verfolgten, aber nicht als heroischen Widerstandskämpfer betrachte. Vorausgegangen waren damals mehrere Veranstaltungen zur Erinnerung an die „vielen Euskirchener Widerstandskämpfer“, entsprechende Zeitungsartikel und widersprüchliche Reaktionen darauf.
Meine Ansicht begründete ich am 21. Februar 1983 in einem Leserbrief an den Kölner Stadt-Anzeiger, Teil Euskirchen/Eifeler Land:

 


Verfolgter, kein Widerstandskämpfer

Diskussion um den 30. Januar 1933 und seine Folgen:
Historiker H.-Dieter Arntz gegen Mythenbildung

 

Die Erinnerung an die Machtergreifung der Nazis vor 50 Jahren - am 30. Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler - hat, begünstigt durch den Wahlkampf, wie kein anderes Ereignis politische Emo­tionen freigesetzt. In Anspra­chen und Leserbriefen wurde die Vergangenheit beschworen, wobei mit den geschichtlichen Tatsachen nicht immer mit der gebotenen Sorgfalt und Genau­igkeit umgegangen wurde, so dass es zu Missdeutungen und Missverständnissen kam. Um Klarheit zu schaffen und, wie er selbst schreibt, der Mythenbil­dung entgegenzutreten, veröf­fentlichen wir deshalb einen Le­serbrief des Historikers Hans-Dieter Arntz, der sich seit Jahren mit der Geschichte des Nationalsozialismus im Kreise Euskir­chen befasst und dazu auch schon zahlreiche Beiträge veröf­fentlicht hat.

H.D. Arntz schreibt:

Als sich der so genannte „Tag der Machtergreifung“ zum 50. Mal jährte, wurden die Bürger des Kreises Euskirchen zu einer Gedenkfeier eingeladen. Große Anzeigen in den Tages- und Wo­chenzeitungen begründeten dies: „Millionen Menschen wurden verfolgt, gefoltert und getötet. Aber es gab auch Bürger unseres Landes, die dem Naziregime aktiv Widerstand geleistet haben, darunter viele Bürger aus dem Kreis Euskirchen.“

Jahrelange Recherchen

Als Verfasser der Ende März erscheinenden „JUDAICA“ war ich an der Darstellung des „Wi­derstandes“ sehr interessiert, hatte ich doch bei den jahrelangen Recherchen keineswegs „viele Bürger des Kreises“ fin­den können. Am 30. Januar 1983 wurden den vielen Zuhörern „Stellvertreter der vielen Wider­standskämpfer“ präsentiert: Ka­plan Kellermann, Willi Graf und Thomas Eßer.

Besonders für die jüngere Ge­neration sei gesagt, dass Kaplan Kellermann (1912-1945) sich in beispiellosem Einsatz für seine Mitmenschen einsetzte und unermüdlicher Helfer seiner Pfarrkinder während der Bom­benangriffe war. Am 3. 2. 1945 verstarb er an den Verletzungen, die ihm Bombensplitter beibrachten. Über politische Akti­vitäten des geachteten Priesters wurde nichts bekannt. Wider­standskämpfer war er nie! Er war nur ein Opfer der national­sozialistischen Kriegspolitik!

Willi Graf (1918-1943) spielt als Widerstandskämpfer tat­sächlich in meiner „JUDAICA“ eine wichtige Rolle, verzog je­doch mit seiner Familie nach Saarbrücken, so dass nur die Tat­sache, dass er bis zum 4. Lebens­jahr in Kuchenheim lebte, einen Bezug zu Euskirchen erlaubt. Erst in München profilierte er sich als Widerstandskämpfer, so dass er auch nicht stellvertretend für die „vielen Widerstands­kämpfer unserer Heimat“ gelten kann.

Meine Ansicht, die ich am 30. Januar 1983 im Rahmen eines Rund­funkinterviews in Bezug auf Thomas Eßer äußerte, unter­streiche ich - nach meinen Stu­dien - noch heute: Der Vizeprä­sident des Reichstages war kein Widerstandskämpfer, sondern ein Verfolgter!

In der Nachkriegszeit waren unsere Kommunalpolitker be­scheidener. Selbst unter dem Eindruck des Naziregimes führte man am 30. 1. 1947 Eßer in der Liste der „politisch Verfolgten“, aber es wurden weitere 68 Euskirchener hier aufgeführt (Eusk. Stadtarchiv IV, 1885). Diese Liste der dann insgesamt 69 Verfolg­ten wurde kurz danach auf 42 Personen zusammengestrichen - und Thomas Eßer erschien nicht mehr.

Neun Euskirchener waren in KZs

Dennoch ist leicht nachzuweisen, dass er ein Verfolgter war. Nach Maßstäben heutiger Zeit war er jedoch kein Widerstandskämpfer. Die in einem anderen Leserbrief aufgeführten Argumente können nicht stichhaltig sein, da laut städtischen Unterlagen neun Euskirchener in Konzentrations­lagern waren - übrigens we­sentlich länger und unter viel schlimmeren Umständen - , ohne dass diese von Euskirche­ner Kommunalpolitikern als Wi­derstandskämpfer bewertet wur­den.
Thomas Eßer wurde seit 1930 bewusst von den Nationalsoziali­sten provoziert und angepöbelt. Eine Versammlung am 21. 8. 1930 in Heimerzheim ist wohl das markanteste Beispiel und wurde auch gerichtlich geahn­det. Erfolgreich konnte sich der Wahl-Euskirchener gegen die vielen Verleumdungen wehren. Aber die ruppigen Attacken der Nazis blieben vielen Leuten bes­ser im Gedächtnis haften als die kluge Argumentation des Reich­stagspolitikers. Diese Abwehr war jedoch zwangsläufig mit seiner beruflichen Position ver­bunden, weniger mit aggressi­vem Widerstand.

Als Thomas Eßer am 2. 9.1932 neben dem uniformierten Her­mann Göring saß, wurde das von vielen Bürgern und Zeitun­gen als Wink des Schicksals ver­standen. Sogar der ehemalige Zentrumspolitiker und Reichs­kanzler Brüning erinnerte sich wenig später an den Optimis­mus des Euskircheners, der ihn Ende April 1933, einen Tag vor seiner Abreise in die Voreifel, besucht habe und ihm klarzuma­chen versuchte, dass Göring es mit der Parteispitze des Zentrums gut meinte. Als er wenige Stunden später danach in Euskirchen verhaftet wurde, gab es keinen historischen Akt eines Widerstandes und keine Meinungsäußerung eines feindlichen Inhalts.

Es gibt heute Politologen, die die Haltung der Zentrumspolitiker bei und nach der „Machtergrei­fung“ sehr kritisch bewerten und nach neuesten Forschungen eventuell bereit sind, diese in Bezug auf von Papen zu sehen, der tatsächlich zum „Steigbügel­halter“ Hitlers wurde. Auch die Euskirchener Zentrumsleute waren politisch nicht mehr in der Lage, Widerstand zu leisten. So wurde am 3. 4. 1933 im Eus­kirchener Stadtrat betont, dass „man einen maßgebenden An­teil an den Arbeiten der vergan­genen Jahre“ habe und „der neuen Regierung mit Rat und Tat zur Seite“ stehe. Auch im Kreistag wurden offiziell am 13. April 1933 der „wundersame Geist in den deutschen Landen“ und die „zusammengefassten Kräfte“ gelobt, „die im Euskirchener Kreistag wieder ihren Platz haben.“

Wie erniedrigend muss es für Thomas Eßer gewesen sein, als man ihm am 7. Juni 1933 das ver­liehene Ehrenbürgerrecht aber­kannte. Dies war ein Vorgriff auf den im Februar 1934 laufenden „Handwerkskammer-Prozess“, der u. a. auch dem Euskirchener „Unterschlagung und Riesenbe­trügerei“ vorwarf. Gleiches je­doch machte man mit Tausen­den von deutschen Ex-Bürgermeistem und Honoratioren.

Thomas Eßer konnte unbe­schadet ab 1934 wieder seine journalistische Tätigkeit in sei­ner Heimatstadt aufnehmen. Seine damaligen Freunde und Arbeitgeber leben heute noch und bewundern seine spitze Feder, die manch politisch profi­lierten Leitartikel schrieb. In dieser Zeit wurden auch die vie­len Heimatromane verfasst.

Während zum Beispiel der Gemünder Journalist Josef Lorbach einge­sperrt wurde und Berufsverbot erhielt, konnte sich Thomas Eßer solchen Eingriffen entzie­hen. Informierte Zeitgenossen erinnern sich heute noch daran, dass selbst Goebbels vor dem Zentrumsmann eine gewisse Scheu hatte. Tatsächlich bleibt es der Beurteilung des Lesers überlassen, ob die Nazis jahre­lang einem Widerstandskämpfer die Möglichkeit gaben, politi­sche Leitartikel zu verfassen und materielle Zuwendungen emp­fangen zu können.

Wahnwitz der Zeit

Eßers erneute Inhaftierung nach dem 20. Juli 1944 entsprach dem Wahnwitz der damaligen Zeit, wurde jedoch von der Hi­storie bisher nie in Verbindung mit dem Widerstand unter Lei­tung von v. Stauffenberg ge­bracht.

Mit Respekt vor der politi­schen Leistung und den erdulde­ten Drangsalierungen des Politi­kers schlage ich vor, Abstand zu nehmen von dem glorifizieren­den Wort „Widerstandskämp­fer“, das von den im Rheinland lebenden Verwandten auch nicht verwandt wird. „Wider- standliches Verhalten in histori­scher Dimension“ ist nicht un­bedingt erkennbar. Der Sohn unserer Stadt ist ein Verfolgter des Naziregimes.

Hätte man anlässlich der Ge­denkfeier in der Herz-Jesu-Kirche der Verfolgten unseres Krei­ses gedacht, hätten sich sicher alle Parteien gemeinsam daran beteiligt. Manche Missverständ­nisse oder überspitzte Interpretationen wären den Bürgern erspart geblieben.

H.-Dieter Arntz

 

 

Aus den NEWS 2017 der regionalhistorischen Homepage von Hans-Dieter Arntz

 

06.10.2017

Schon bevor die Nazis an die Macht kamen: Populismus und Verleumdung des in Euskirchen wohnhaften Vizepräsidenten des Reichstages, Thomas Eßer (1932)

 

Unter der heutzutage häufig gebrauchten Bezeichnung Populismus versteht man laut Wikipedia einen meist ideologisch zu bewertenden Begriff, der im Internet als polemischer Vorwurf verstanden wird,

den sich Vertreter unterschiedlicher Richtungen gegenseitig machen, wenn sie die Aussagen der Gegenrichtung für populär, aber nachteilig halten. Man spricht dann auch von einem politischen Schlagwort bzw. „Kampfbegriff“ (...) Anfang des 21. Jahrhunderts ist die in Europa verbreitetste Form des Populismus der sogenannte „Rechtspopulismus“, welcher politisch gesehen darauf aus ist, Macht in Form von Anfeindungen gegenüber Fremden oder Ausländern zu generieren.(...) Populismus betont häufig den Gegensatz zwischen dem „Volk“ und der „Elite“ und nimmt dabei in Anspruch, auf der Seite des „einfachen Volkes“ zu stehen.

Es handelt sich also hier offenbar um ein Hilfsmittel opportunistischer Politik, die „die Gunst der Massen zu gewinnen sucht“. In der Umgangssprache ist dies ein häufiger Vorwurf an bestimmte Parteien und einzelne Politiker.

 

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Als regionalhistorisches Beispiel möchte ich die Diskriminierung des damals in Euskirchen lebenden Vizepräsidenten des Deutschen Reichstages anführen: Thomas Eßer (* 1870 in Schwerfen; † 1948 in Euskirchen). In absehbarer Zeit wird Genaueres auf dieser regionalhistorischen Homepage zu lesen sein.

Aber heute möchte ich schon auf einen Artikel des „Euskirchener Volksblattes“ vom 30. Mai 1932 hinweisen, der die Abwehr von plumpem Populismus und falscher Beschuldigung - unter noch demokratischer und wertfreier Rechtsprechung im Jahre 1932 - konstatiert. Der fanatische Euskirchener Nazi-Redakteuer und Schriftleiter Strang wurde wegen seiner populistischen Anschuldigung und plumpen Beleidigung des prominenten Zentrum-Politikers Eßer mit einer drakonischen Gefängnis- und Geldstrafe belegt.

 

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