Eine genealogische Odyssee der jüdischen Familie Schneider
aus Euskirchen (1979-2008)

von Hans-Dieter Arntz
09.05.2008

Unter dieser vielleicht etwas irritierenden Überschrift soll eigentlich nur festgestellt werden, dass sich regionalhistorische Forschungen – besonders in Bezug auf das Judentum – nicht nur auf statische Archivforschungen beziehen, sondern sich auch  - im Verlaufe der Jahrzehnte - sozial und zwischenmenschlich auswirken können. Exemplarisch soll dies am Beispiel der Familien Ignatz und Karl Familie Schneider aus Euskirchen dargestellt werden, die nur deswegen -  trotz Judenverfolgung und Holocaust - nicht vergessen sind.

Während die geschichtswissenschaftliche Arbeit in der Regel nur mit historischem Aktenmaterial zu tun hat, erweitert die Regionalhistorie die Ergebnisse durch persönliche Kontakte und setzt eigentlich die Forschung bis zur Gegenwart fort. Am Beispiel der jüdischen Familie Schneider aus Euskirchen, Klosterstraße 4, heißt dies eigentlich, dass mit deren Deportation im Jahre 1942 „die Akte geschlossen“ war. Wenn aber persönliches Umfeld später gesichtet, bewertet und aktualisiert werden kann, wenn Kontakte zu Überlebenden und deren genealogisch relevanten Details möglich werden, dann ist der besondere Wert der Regionalhistorie erkennbar, die deutlich über die schlichte Heimatkunde hinausgeht.

In einem meinen ersten Vorträge über das Judentum in Euskirchen thematisierte ich im November 1979 auch die Familien IGNATZ und KARL SCHNEIDER, die jahrzehntelang in der Kreisstadt beheimatet waren und deren Fischgeschäft in der Klosterstraße 4 eigentlich eine kulinarische Institution war.

schneider01Der Kölner Stadt-Anzeiger vom 7. November 1979 beschrieb diese Form der Aufarbeitung unter der Überschrift „Wie konnte es unter uns geschehen?“ als Besonderheit unter „lokalem Akzent“,  betonte aber auch die Brisanz, sich - vor 3 Jahrzehnten - regional mit Nationalsozialismus und Holocaust zu befassen:

„Die Stadtvolkshochschule Euskirchen betritt am Montag, dem 12. November um 20 Uhr, Wege, die möglicherweise erst seit der Fernsehreihe `Holocaust´ als begehbar betrachtet werden dürfen: In einem 90minütigen Vortrag mit Dias setzt sich der Euskirchener Oberstudienrat Hans-Dieter Arntz mit dem zeitgeschichtlichen Thema `Nationalsozialismus und Judentum in Euskirchen´ auseinander.“

Das Bemühen, die regionale Judenverfolgung und den Holocaust exemplarisch zu personalisieren, soll am Beispiel der jüdischen Familien Ignatz und Karl Schneider dargestellt werden. Sie sind heute noch – oder wieder – ein Begriff, ja, man „stolpert“ über sie, da die „Stolpersteine“ des Kölner Bildhauers Gunter Demnig  auch  an diese Opfer der NS-Zeit erinnern, indem er „vor ihrem letzten Wohnort“ Gedenktafeln aus Messing ins Trottoir verlegt hat.

schneider02Im Laufe der nächsten Monate kontaktierten mich Besucher meines Vortrags und ältere Bewohner mit wichtigen Hinweisen. Die in Euskirchen geborene Dr. Ilse Jung, verh.Yudit Yago-Jung, schrieb sogar aus New York und bot ihre Hilfe an. Gemeinsam planten wir nun eine mediale Recherche in den Vereinigten Staaten, da inzwischen bekannt geworden war, dass KARL SCHNEIDER den Holocaust überlebt und nach dem Kriege dort eine neue Familie gegründet hatte.

Größte Resonanz erhoffte sich Dr. Yudit Yago-Jung durch eine Anzeige in der größten deutsch-jüdischen Zeitung AUFBAU, die 1934 in New York gegründet worden war und sich bis zum Jahre 2004 rasch zur wichtigsten Informations- und Anlaufquelle für die jüdischen Flüchtlinge und deren Nachkommen in den Vereinigten Staaten entwickelte. Der Titel Aufbau sollte den Aufbau des deutsch-jüdischen Lebens in den USA beinhalten,  bezog sich auch auf das „Wir-bauen-auf“ - in Palästina. Zur Zeit meiner ersten Recherchen war die von  deutschen und österreichischen Emigranten gegründete Zeitung ein sehr bekanntes   Forum. Zur Zeit der Judenverfolgung im Deutschen Reich galt sie als kulturelle Plattform und als respektiertes Sprachrohr. Sie war das wichtigste Organ der in die USA geflüchteten deutschsprachigen Juden.

Der Aufbau veröffentlichte unsere Anzeige am Freitag, dem 5. Dezember 1980. Als amerikanischer Ansprechpartner firmierte Dr. Yudit Yago-Jung mit ihrer damaligen Anschrift 123 Arlington Ave. Port Jefferson, New York 11777. Der Erfolg war verblüffend, da viele Juden ihre Wurzeln im Rheinland hatten und sich als direkte oder indirekte Mitglieder eines „German-Jewish-Club“ oder einer diesbezüglichen „Jewish Community“ verstanden.

 

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Links:  Bericht des „Euskirchener Wochenspiegels“ vom 22. November 1979.
Rechts : Anzeige in der deutsch-amerikanischen Zeitung „Aufbau“ am 5. Dezember 1980.

 

Als Folge dieser Suchanzeige und einem Interview im amerikanischen Fernsehen hatte ich die Aufmerksamkeit für den aus Euskirchen stammenden jüdischen Mitbürger gefunden. Immerhin gehörte Karl Schneider zu den Wenigen des Kölner Riga-Transportes vom 6. Dezember 1941, die das Martyrium lebend überstanden hatten. Bis zu dieser Zeit galten die 1000 Deportierten als verschollen. Keiner wusste etwas über das Schicksal der Kölner Juden und ihre letzten Stunden im Holocaust. Karl Schneider jedoch war in der Lage, nach dem 2. Weltkrieg nicht nur über den Verbleib, sondern auch über das jüdisch-religiöse Leben im Ghetto von Riga zu berichten. Später stellte sich heraus, von welch inniger Frömmigkeit die nächsten Jahre der Kölner Juden geprägt waren und wie „typisch kölsch und rheinisch“ das improvisierte „jüdische Gemeindeleben in der Diaspora“  ablief.

 

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Karl Schneider (1902-1962) aus Euskirchen, Überlebender des Ghettos von Riga

 

Über diese Details wusste ich noch nichts, als sich Frau Gerda Schneider aus Philadelphia, die 2. Ehefrau von Karl Schneider (1902-1962), brieflich bei mir meldete und Fotos und ein handgeschriebenes Manuskript von Karl Schneider zur Verfügung stellte, das ich wegen seiner Einmaligkeit mehrfach publizieren konnte:

 

Religiöses Leben der Kölner Juden im Ghetto von Riga – nach den Erinnerungen von Karl Schneider

1.     Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins, Nr. 53 (1982), S. 127 – 152

2.     JUDAICA – Juden in der Voreifel,  Euskirchen 1983, 3. Aufl. 1986, S. 351 – 369

3.     Jahrbuch des Kreises Euskirchen, 1983, S. 68 – 86

4.     Homepage von shoa.de Dezember 2006

5.     Homepage des Autors

Besondere Passagen wurden inzwischen  von Dr. Wolf Murmelstein, dem Sohn des letzten Jewish Elder von Theresienstadt, ins Italienische übersetzt:

6.     Canto del Ghetto - CANTI DI EBREI DEPORTATI

7.     Vita Religiosa Ebraica Nel Ghetto Di Riga

 

Während die Angehörigen von Ignatz und Karl Schneider im Holocaust umkamen, überlebte Karl Schneider als Einziger. Seine schrecklichen Erlebnisse im Ghetto von Riga und die Geschichte des Kölner Transportes dorthin gehören auch zur Geschichte des Kölner Judentums. Einleitend heißt es in meiner o.a. Publikation

„Es gibt nur wenig erhaltene Dokumente aus der Zeit des in Europa grassierenden  Nationalsozialismus, die aus der Perspektive des Mikrokosmos jüdisch-religiöses Leben darstellen. Bei allem religiösen Auf und Nieder der jüdischen Geschichte war es am Schluss doch immer wieder ein tiefstes religiös-geistiges Bewusstsein, das gerade jetzt zum entscheidenden Durchbruch kam. Die vorliegenden Auszüge aus dem `Tagebuch´ des am 10. November 1902 in Euskirchen (Rheinland) geborenen Karl Schneider geben darüber Auskunft, was sich auf dem religiösen, aber auch sozialen und kulturellen Sektor im Ghetto von Riga tat.

Der Rheinländer Karl Schneider gehörte der jüdischen Gemeinde Euskirchen an und war ein recht aktives Mitglied. Neben den diesbezüglichen Aktivitäten war er voll integriert in die Jugendarbeit der deutschen Kreisstadt, die in den 20er Jahren etwa 20.000 Einwohner zählte. Karl Schneider gehörte dem Vorstand des ESC-Sportvereins und von 1925 bis 1933 dem Vorstand des Rennsportclubs 1921 an; gleichzeitig war er auch Mitglied des Gauvorstandes des Bundes deutscher Rennfahrer (BDR).

Mit seiner Frau Frieda und seinen beiden Söhnen wurde er von Köln aus, wo er längere Zeit aus Kaufmann tätig war, am 6. Dezember 1941 in das Ghetto von Riga deportiert.

Er gehörte zu den wenigen, die die Auflösung des Ghettos am 2. November 1943 und die spätere Zeit überlebten. Er verlor allerdings Frau und Kinder. Nach der Befreiung lebte er in Schweden, wo er eine neue Familie gründete. 1949 emigrierte er in die Vereinigten Staaten und wurde in Philadelphia sesshaft. Dort war er bis 1961 Vorstandsmitglied der deutsch-jüdischen Kultusgemeinde und Präsident des Central Club of Philadelphia. Ein Jahr später verstarb er und hinterließ seine Frau und eine Tochter, die beide noch in den USA leben.

Im Nachlass fand die Witwe, Frau Gerda Schneider, `Erinnerungen an das jüdisch-religiöse Leben im Ghetto von Riga...´, ein Konzept, das noch in Schweden entstand und wohl noch redigiert werden sollte.“

Längere Zeit war es still um die allmählich entstehende Genealogie der Familien IGNATZ Schneider und KARL Schneider, ehe sich im Dezember 2007 Euskirchener Bürger dankenswerterweise dazu entschieden, 7 „Stolpersteine“ setzen zu lassen, was auch im Dezember durch Gunter Demnig medienwirksam  in der Klosterstraße 4 ermöglicht wurde. Leider war das Euskirchener Stadtarchiv nicht in der Lage, präzise und korrigierte Angaben für die kleinen Inschriften zu geben, obwohl es inzwischen Kontakte zu weiteren Angehörigen gab. Sicher wäre auch ein Vertreter von ihnen bei der Legung der Steine gerne anwesend gewesen. Selbst die Tatsache, dass die 7 jüdischen Mitbürger schon seit 1935 gar nicht mehr in dem Haus Klosterstraße 4 wohnten, gab Anlass zur Irritation. Ignatz Schneider war mit seiner Familie in die Frauenbergerstraße 35 umgezogen und lebte später bis 1942 im „Judenhaus“ Hochstraße 56. Karl Schneider wohnte mit seiner Familie inzwischen in Köln.

Folgendes nichtige Ereignis, das in der Euskirchener Lokalausgabe des Westdeutschen Beobachters  vom 22. März 1935 polemisiert wurde, hatte sofort für ein Ende des Fischgeschäftes IGNATZ SCHNEIDER gesorgt:

EINE JÜDISCHE PROVOKATION DER FISCHJUDE SCHNEIDER GRÜSST MIT 'HEIL HITLER'

Ein ortsunkundiger SA-Führer ließ sich durch den Namen `Schneider´, den das jüdische Fischgeschäft in Euskirchen, Klosterstraße, trägt, verleiten, dort einen Einkauf zu tätigen. Bei seinem Eintritt wurde er von dem Juden mit dem Hitler-Gruß begrüßt und nach dem getätigten Einkauf wieder mit ,Heil Hitler' und erhobener Hand verabschiedet. Dem SA-Mann fiel während seines Einkaufs auf, daß sich verschiedene Hitlerjungen am Schaufen­ster herumdrückten und ihn beobachteten. Als er nun aus dem Geschäft herauskam, rief er die Jungen zu sich und fragte sie, warum sie sich für seinen Einkauf so interessierten, worauf ihm die Antwort gegeben wurde: ,Sie haben hier bei einem Juden gekauft! Aber an den Spiegeln Ihrer Uniform sehen wir, daß Sie hier fremd sind.' Der betreffende SA-Mann nahm sich nun gestern einen SS-Kameraden mit, um dem Juden den Betrag des damaligen Einkaufes vor die Füße zu werfen. Beim Eintritt wurden beide wieder von dem Juden Schneider mit dem Hitlergruß empfangen.

Wir erblicken in diesem tpyisch jüdischen Verhalten eine Verächtlichmachung der Uniform, für die eine rigorose Bestrafung am Platz wäre!  

(Aus: Hans-Dieter Arntz, JUDAICA – Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983, S.200)

 

Ergänzend zu den „Stolpersteinen“ vor dem Hause Klosterstraße Nr. 4, sei noch abschließend angemerkt: Auch der eingravierte Hinweis, dass der 1901 geborene Albert Schneider am 31. Dezember 1941 in Theresienstadt umgekommen sein soll, basiert sicher auf falscher Recherche, denn dann wäre er der erste Tote im gerade eingerichteten Lager Theresienstadt gewesen. Stattdessen lebte er im Untergrund und hatte ein anderes Schicksal.

 

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Jüngere Angehörige der Familie Schneider nahmen seit Bestehen dieser Homepage (August 2006) online Kontakt mit mir auf. Von diesen aktivierte Frau Shulamit Spain-Gayer aus Schottland die persönlichen Beziehungen, so dass aus der fast 3 Jahrzehnte alten Recherche eine sehr  persönliche Kooperation entstand, die im März 2008 durch ein Treffen in Euskirchen  bestärkt wurde. Sie ist über Sibilla Schneider, Karls Schwester, mit der Familie Schneider verwandt.

 

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Die 2. Familie von Karl Schneider bei einem Treffen in Basel (1963). v.l.n.r. Ehefrau Gerda Schneider,
Tochter Doris Schneider, Sibilla Schneider verh. Gayer (Schwester von Karl Schneider) und Mitglieder der
Familie Gayer.

 

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Angehörige aus der 2. Ehe von Karl Schneider (2005):  Familienfoto von Doris Doctors Familie, der Tochter
aus Karl Schneiders aus zweiter Ehe (l.)

 

Die vor knapp 30 Jahren begonnene genealogische Odyssee der jüdischen Familie Schneider aus Euskirchen (1979-2008) fand ein vorläufiges, menschlich bewegendes Ergebnis, da es eine Entdeckung gab: Noch heute lebt in Mechernich eine Cousine x-ten Grades (K.W. geb. J.), mit der Shulamit  Spain-Gayer jetzt  Kontakt aufnehmen konnte.

Der jetzige  Besitzer des Hauses Klosterstraße 4 ermöglichte anstandslos Shulamit und ihrem Ehemann Philipp aus Glasgow den Zugang in die früheren Räume des Fischgeschäftes Ignatz Schneider und den Hinterhof. Der Vergleich der Fotos einst und jetzt erweckte dabei den Eindruck, als wäre die Zeit stehen geblieben:

 

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Aus dem Fotoalbum (1934): Szenen im Hinterhof des Hauses in Euskirchen, Klosterstraße 4.
Die Treppe ist auch noch im Jahre 2008 vorhanden. Das rechte Foto zeigt Fischhändler Albert (l.) und
Karl Schneider (Mitte).

 

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Shulamit Spain Gayer und Ehemann Philipp sowie Hans-Dieter Arntz im besagten Hinterhof des ehemaligen
jüdischen Fischgeschäfts Schneider (März 2008)

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