Flucht und Vertreibung der Deutschen
Vortrag des Regionalhistorikers Hans-Dieter Arntz anlässlich einer Gedenkstunde im Sitzungssaal der Kreisverwaltung Euskirchen
am 5. Juni 1985

von Hans-Dieter Arntz
10.10.2007

Die Entscheidung der NRW-Landesregierung, „Flucht und Vertreibung der Deutschen“ im Lehrplan der Schulen zu verankern, ist keineswegs neu.

Bereits vor dem Ende des „Kalten Krieges“ und etwa fünf Jahre vor dem Zusammenbruch des Kommunismus im östlichen Europa thematisierte auch schon der Euskirchener Oberstudienrat Hans-Dieter Arntz das Thema „Flucht und Vertreibung der Deutschen“. Am Mittwoch, dem 5. Juni 1985, hielt er im Sitzungssaal der Kreisverwaltung Euskirchen anlässlich der Ausstellung „40 Jahre nach Kriegsende“ ein Grundsatzreferat, das auf diesen wichtigen Aspekt der jüngsten deutschen Geschichte hinwies. Als Pädagoge betonte er - bereits vor 22 Jahren – die Notwendigkeit, diesem Thema mehr Bedeutung beizumessen und im Unterricht didaktisch zu problematisieren.

Die Presseagentur ddp veröffentlichte nun am Samstag, dem 22. September 2007, den Entscheid der Landesregierung NRW, die „Flucht und Vertreibung der Deutschen im 2. Weltkrieg“ zum Pflichtthema im Unterricht zu machen:

`Junge Menschen müssen ihre Geschichte kennen´ begründete Landesschulministerin Barbara Sommer (CDU) in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung die verbindliche Festschreibung im Kernlehrplan Geschichte für die Klassen fünf bis zehn (…).

Der Euskirchener Regionalhistoriker Hans-Dieter Arntz betonte in seinem Grundsatzreferat vom 5. Juni 1985 vor den vielen Angehörigen der Landsmannschaften und Vertriebenenverbände sowie den Kreistagsabgeordneten, Schulleitern und der Bevölkerung den wichtigen historischen Aspekt bezüglich des Themas „Flucht und Vertreibung der Deutschen“. Dabei gab er nicht nur einen Überblick über die historischen Fakten, sondern konkretisierte dies exemplarisch am Beispiel der Voreifel und des Eifelortes Hellenthal. Arntz umriss zudem die damalige Aufbauarbeit der Flüchtlinge und Vertriebenen im Westen sowie die Ostpolitik der Landsmannschaften und Verbände, wies aber auch auf kritische Aspekte hin. So stellte er abschließend die Forderung auf, detailliert darüber nachzudenken, ob die während des Nationalsozialismus aus Deutschland vertriebenen Juden künftig nicht auch als „politische Flüchtlinge oder Vertriebene“ behandelt werden müssten.

H. L.

 

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Flucht und Vertreibung der Deutschen
Vortrag des Regionalhistorikers Hans-Dieter Arntz  anlässlich einer Gedenkstunde im Sitzungssaal der Kreisverwaltung Euskirchen am 5. Juni 1985

 

Teilaspekte:
1.)    Allgemeines zur  Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Ostdeutschland
2.)    Historisches: Flucht und Vertreibung  1944/45
3.)    Regionalhistorisches: Ein Flüchtlingsschicksal aus Hellenthal/Eifel (1951)
4.)    Die gegenwärtige Situation (1985)
5.)    ANHANG: Kölnische Rundschau, Lokalteil Euskirchen:
         „Euskirchen gedachte der vielen Vertriebenen“ (24.Juni  1985)
          

1.) Allgemeines zur  Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Ostdeutschland

Meine Damen und Herren!
Mit Erschütterung haben wir soeben Bilder gesehen, die nur andeutungsweise  Momente physischer und psychischer Not wiedergeben. Flucht und Vertreibung sind zu komplex, um sie jemals voll erfassen oder sublimieren zu können. Und obwohl schon vier Jahrzehnte vergangen sind, haben diejenigen unter uns, die diese schreckliche Zeit selbst miterlebt haben, bei diesen wenigen Filmausschnitten ihr individuelles Schicksal nachempfinden können (…).

Während  Auswanderung oder Abwanderung im Allgemeinen auf dem eigenen, freiwilligen Entschluss beruhen - wenn auch der eigentliche Beweggrund meist  in unbefriedigenden ökonomischen Verhältnissen zu suchen ist-, so ist der Komplex Flucht und Vertreibung stets ein verhängnisvoller Bereich der Geschichte und Politik. Angesprochen ist das, was wir in der Soziologie „ unter religiösem oder politischem Druck vollziehende Emigration“ nennen.

Als nach der deutschen Niederlage vor 40 Jahren die Waffen schwiegen, begann für das deutsche Volk der zweite Teil einer Tragödie, die als die wohl größte Vertreibung der Menschheitsgeschichte bezeichnet werden muss.

Von 1945 bis 1950 sind aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches rund 7 Millionen, aus dem Sudetenland fast 3 Millionen und aus den übrigen Ländern Osteuropas knapp 2 Millionen Deutsche geflüchtet oder wurden aus ihrer seit Jahrhunderten besiedelten Heimat vertrieben. Die Gesamtzahl der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge - ohne die Deutschen in der Sowjetunion -, betrug bis 1950 rund 12 Millionen Deutsche. Hinzu kommen mindestens weitere 2,2 Millionen Tote als unmittelbare Opfer von Flucht und Vertreibung.

Dies, meine Damen und Herren, sind nüchterne Zahlen, die in ihrer Dimension erst dann annähernd begreifbar werden, wenn man sich vorstellt, dass diese Vertriebenen, Flüchtlinge und Opfer der Vertreibung annähernd der Bevölkerung Skandinaviens mit Schweden, Norwegen und Dänemark entsprechen.

Die Menschen, die in die Besatzungszonen des Reichsgebietes gelangten, kamen in ein zerstörtes Land, das nicht einmal der eingesessenen Bevölkerung hinreichend Unterkunft, Nahrung und Arbeit geben konnte. Allein nach Westdeutschland drängten 8 Millionen Vertriebene, deren Zahl sich im Laufe der Jahre auf fast 11 Millionen erhöhte und später durch die Fluchtbewegung aus Mitteldeutschland weiter anwuchs.

 

Meine Damen und Herren!
Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ist ein Ereignis, dessen volle geschichtliche Tragweite sich heute noch einem Urteil entzieht. Mag man es als Schlussakt eines Krieges betrachten, in dem die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des Nationen- und Staatenverkehrs tausendfach verletzt und die Vernichtung ganzer Völker nicht nur als Ziel verkündet, sondern in der Tat begonnen worden war. Oder man mag es als die Endphase eines fast anderthalb Jahrhunderte tobenden, erbitterten Nationalitätenkampfes in der Völkermischzone Europas ansehen; in jedem Falle lassen uns die geläufigen Maßstäbe der europäischen Geschichte im Stich. Es belastet die Erinnerung von Millionen, die das Schicksal der Heimatlosigkeit zu tragen haben, und ist darin noch ganz Gegenwart, da es soziale, bevölkerungsdynamische, politische Bewegungen ausgelöst hat, die noch längst nicht abgelaufen sind.

Während der regionalhistorischen Arbeiten für mein Buch „KRIEGSENDE 1944/1945" wurde ich - ein Angehöriger des Jahrgangs 1941 – immer wieder gefragt, ob es denn sinnvoll sei, wieder und wieder in unserer jüngsten Geschichte „herumzuwühlen". Aber dieselbe Frage sollte uns auch in Bezug auf  die Erforschung jüdischer Schicksale und des Holocaust beschäftigen! Aber einige beschränken sich offenbar vorläufig  mehr auf die sie quälende Frage: Ist es heute - nach 40 Jahren Kriegsende – noch sinnvoll, über die Thematik  „Flucht und Vertreibung der Deutschen" zu reflektieren? Ja, dies gehört auch zur Aufarbeitung unserer jüngsten Geschichte und müsste längst ein Teil des Curriculums für Schulen sein!

Der intensiveren und diesbezüglich didaktischen Forschung und Lehre eines solchen Phänomens müssten wir jetzt wegen der entstandenen temporären Distanz - auch in Form der Regionalhistorie -, durchaus zugänglich sein. Flucht und Vertreibung werden im gymnasialen Unterricht eigentlich noch gar nicht behandelt. Als ich Schüler war, war das Thema Nationalsozialismus und Holocaust völlig tabu. Offenbar laufen wir immer der Geschichte hinterher.

Eine geforderte Vertiefung der wissenschaftlichen Arbeit – bei einem so kontroversen Thema – setzt Wertfreiheit voraus und keineswegs den Willen zur Anklage oder gar der Rechtfertigung. Eine Erklärung ist notwendig.

Auch die heutige Feierstunde versteht sich nicht als kurzfristiges Gedenken von inzwischen als Historie Nachweisbarem, sondern - meiner Meinung nach - als Ausdruck der Sorge, Geschehnisse von der furchtbaren Größe der Massenaustreibung könnten der jüngeren Generation unbekannt bleiben. 

    
2.) Historisches: Flucht und Vertreibung  1944/45

Flucht und Vertreibung der Deutschen dürfen nicht in Vergessenheit geraten! Jeder sollte dafür sorgen, dass die abschreckenden und aufrüttelnden Erfahrungen aus dieser europäischen Katastrophe nicht der jüngeren Generation sowie den Staatsmännern und Politikern, denen ein kooperatives Europa zu schaffen aufgetragen ist, verloren geht.

Nur eine einzige wissenschaftliche Dokumentation gibt bisher über die ungeheuerlichen Vorgänge im Osten Europas am Ende des Zweiten Weltkrieges detailliert  Auskunft. Es handelt sich um die im Jahre 1954 vom Bundesministerium für Vertriebene herausgegebene "Dokumentationder Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa." In den umfangreichen Bänden  fand das Schicksal von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in Form von Erinnerungsprotokollen seinen Ausdruck.

Aber selbst der 1984 erschienene Neudruck ist im Kreis Euskirchen in keiner einzigen Bibliothek auffindbar. Rückfragen bei profilierten Schulen unseres Kreises ergab, dass die Thematik „Flucht und Vertreibung der Deutschen" im Unterricht so gut wie gar nicht behandelt wird. Wenn also historisches und politisches Bewusstsein des jungen Deutschen - laut didaktischer Anweisung unserer Lehrpläne – „geschult oder gar gefördert werden soll“, dann muss auch über diesen schrecklichen „Schlussakkord“ unserer jüngsten Geschichte Lehrmaterial vorhanden sein!   

Wenn wir uns auf diese Thematik besinnen, dann muss die Vertreibung besonders der ostdeutschen Bevölkerung detailliert dargestellt und historisch erfasst werden. Es muss die Erkenntnis gelten, dass  die Vertreibung nicht bloß ein so genannter „Bevölkerungstransfer" war und nicht einfach identisch ist mit  „Ausweisung“. Aus ihr resultierte ein vielgestaltiges Schicksal der betroffenen Menschen und ein mehrjähriger Prozess, zu dem die Flucht vor der Roten Armee und die Ereignisse, Maßnahmen und Zustände der russisch-polnischen Herrschaft in Ostdeutschland nach 1945|ebenso gehören wie die Ausweisungsbefehle und -transporte, durch die der Gesamtvorgang der Vertreibung seinen Abschluss fand.

Jede Darstellung der „Austreibung der Deutschen aus dem Osten“ wird, wenn sie den richtigen Ausgangspunkt gewinnen will, von den Bevölkerungsbewegungen auszugehen haben, die sich während des Zweiten Weltkrieges seit 1939 in allen Teilen des Deutschen Reiches vollzogen haben. Gelenkte und spontane Wanderungsvorgänge größeren Stils, Evakuierungen auf der einen Seite, Menschenkonzentrationen auf der anderen veränderten auch in Ostdeutschland  den Bevölkerungsstand gegenüber der Vorkriegszeit erheblich.

Sie erkennen, dass ich z.B. die „Rücksiedlung" deutscher Volksgruppen aus Osteuropa ins Reichsgebiet oder auch die vielen, in den deutschen Osten Evakuierte anspreche.

Viele kriegsbedingte Bevölkerungsverschiebungen wirkten sich auf die deutschen Ostgebiete jenseits der Oder und Neiße aus. Zusammen mit den Evakuierten aus den ostdeutschen Großstädten strömten Hunderttausende von Bombenflüchtlingen aus dem mittleren und westlichen Reichsgebiet in die ländlichen Gegenden Ostdeutschlands, ein.

Auch landschaftlich begünstigte Gegenden wie das Riesengebirge und die Ostseeküste erwiesen sich als besondere Anziehungspunkte. In diese Gegenden führte auch die so genannte Kinderland- Verschickung, bei der schulpflichtige Kinder aus luftgefährdeten Städten in Heime auf dem Lande evakuiert wurden.

Um vollends begreifen zu können, wie vielschichtig die Flüchtlingswelle 1945 war, sind weitere Fakten zu beachten:

Unmittelbarer als die Evakuierung der westlichen Städte des Reiches wirkte sich auf Ostdeutschland die Evakuierung der Reichshauptstadt Berlin aus. Bis Ende 1944 hatten 1,5 Millionen Menschen Berlin verlassen und waren zunächst vor allem in Brandenburg,  später auch zu großen Teilen in Ostpreußen, Schlesien und selbst im Reichsgau Wartheland untergebracht worden. Zusammen mit den zahlreichen Westdeutschen, die meist aus persönlicher Initiative bei Verwandten oder Bekannten in Ostdeutschland Unterkunft gefunden hatten, bewirkte der Bevölkerungszustrom aus Berlin, dass die Zahl der in Ostdeutschland lebenden Zivilbevölkerung in den letzten Kriegsjahren fortgesetzt anstieg.

Zu der Vielschichtigkeit der Flüchtlinge der Jahre 1944/45 gehört die Bemerkung, dass viele Fremdarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt waren und deutsche Männer ihren Kriegsdienst ableisteten. Jetzt wird allmählich verständlich, wie chaotisch die Flucht gewesen war: Greise, Frauen und Kinder, ortsfremde Evakuierte, fliehende Soldaten, Fremdarbeiter...

Da selten eine organisierte Evakuierung angesetzt war, ja, offiziell verboten war, um Auflösungserscheinungen des Reiches nicht erkennbar zu machen, kann man sich die Panik vorstellen, die nun auftrat, als plötzlich die russische Walze näher kam. Der eiskalte Winter, die Angst vor einer bisher unbekannten Brutalität des Siegers, der Terror der nationalsozialistischen Partei (…):das alles  kumulierte mit der zusätzlichen physischen und psychischen Not.

Militärische Operationen bestimmten weitgehend die Fluchtwege, die Fluchtrichtung sowie die Entstehung gewisser Brennpunkte der Fluchtbewegung. Nur einem geringen Teil der ostpreußischen Flüchtlinge war es gelungen, vor der Einschließung Ostpreußens die Weichsel nach Westen  zu überschreiten. Jede weitere Fluchtbewegung in Richtung Westpreußen war nunmehr unmöglich geworden. Als letzter Ausweg für die im mittleren Teil Ostpreußens unterwegs befindlichen Trecks blieben nur das Samland mit dem Hafen von Pillau und vor allem das zugefrorene Frische Haff und die Nehrung, die noch eine letzte Landverbindung nach Westen boten.

In einem schlauchartigen Kessel, der an das Frische Haff angelehnt war und in seinem Zentrum die Kreise Braunsberg und Heiligenbeil umfasste, waren kurz danach Hunderttausende von ostpreußischen Flüchtlingen zusammengedrängt, die von dort aus in endlosen Trecks den gefahrvollen Weg über das Eis des Frischen Haffs antraten. Neben dem Kessel des Frischen Haffs waren noch die Stadt Königsberg sowie das westliche Samland mit Neukuhren Rauschen, Pillau und Fischhausen in deutscher Hand. Hier hatten sich ebenfalls unzählige Flüchtlinge versammelt.

Aus vielen Zeitungsberichten und Fernsehfilmen der letzten Wochen wissen wir, dass diese letzten deutschen Bastionen in Ostpreußen in den folgenden Monaten äußerst zäh verteidigt wurden, um Zeit zum Abtransport der Zivilbevölkerung über das Haff und über den Seehafen Pillau zu gewinnen. Erst am 25. März 1945 verließen die letzten auf der Halbinsel Balga zusammengedrängten deutschen Truppen über das Haff den Heilsberger Kessel. Am 9. April fiel Königsberg und am 25. April 1945 Pillau, während sich auf der Frischen Nehrung noch bis zum Waffenstillstand am 9.Mai deutsche Truppen hielten.

Die ostdeutsche Bevölkerung machte sich seit Januar 1945  auf die Flucht, obwohl in allen Provinzen ein äußerst strenger Winter herrschte, der unterwegs Erfrierungen, auf den eisglatten Straßen und schneeverwehten Wegen härteste Strapazen befürchten ließ. Hinzu kam, dass der plötzliche Vormarsch der Russen und der Mangel an ausreichenden Transportmitteln dazu zwangen, nur die nötigsten Gebrauchsgegenstände und Lebensmittel mitzunehmen. Der größte Teil des Besitzes, Haus und Hof, mussten zurückgelassen werden, und vor allem auch das zahlreiche Vieh, was gleichbedeutend war mit seinem Verlust. Außerdem war vielerorts die Chance des Entkommens äußerst gering, da die russischen Panzer schneller waren als die Flüchtlingstrecks, und überdies ständig die Gefahr bestand, eingeschlossen zu werden oder auf offener Straße in die Kampfhandlungen hineinzugeraten. Die übermenschlichen Leistungen der Frauen konnten jedoch nicht immer die sich im Kriegseinsatz befindlichen Männer ersetzen.

Die hohe Zahl der Verzweiflungstaten und Selbstmorde in jener Zeit - und bereits vor dem Eintreffen der russischen Truppen - verdeutlicht die verzweifelte Notlage der ostdeutschen Bevölkerung und deren Furcht vor den Gefahren der Flucht und den unermesslichen Leiden, die von der Roten Armee drohten.

Trotz dieser entsetzlichen Not entschied sich dennoch der überwiegende Teil der Gebiete, der  jenseits des Oder-Neiße-Gebietesausharren musste,  für den Aufbruch zur Flucht. Alle Bedenken wurden von der Furcht vor den Kampfhandlungen und vor den zu erwartenden Übergriffen der sowjetischen Truppen übertroffen.

Obwohl die Flüchtenden zweifellos nicht absehen konnten, was ihnen im Einzelnen unter russischer Herrschaft bevorstand, so bewies sich doch später anhand der vielfältigen schrecklichen Erfahrung derjenigen, die zurückgeblieben waren oder denen die Flucht misslang, dass die Flucht im Rahmen des Gesamtschicksals der ostdeutschen Bevölkerung nach 1945 noch das geringste Übel war.

1954 konstatierte das bereits erwähnte Bundesministerium für Vertriebene: „Unzählige Menschen sind dadurch vor Schlimmeren bewahrt geblieben, denn die Verluste, die während der Flucht entstanden, reichten - so schmerzlich sie waren - nicht an die viel höheren Verluste und Schädigungen heran, die als Folge der russisch-polnischen Herrschaft über Ostdeutschland für diejenigen entstanden, die in diesen Gebieten geblieben waren."

 

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Diese Ansicht wird - mit Recht - von vielen Vertriebenen bestätigt. Immer wieder wurde von den vielen Übergriffen und Gewalttaten der Polen und Russen berichtet. Ostdeutsche Zivilpersonen wurden in die Sowjetunion zwangsverschleppt. Systematisch ließ man Bevölkerungsteile in Ostpreußen - auf das ich mich in diesem  Vortrag etwas mehr konzentriere -, in den ersten Nachkriegsmonaten verhungern.

Obwohl die spätere Ausweisung der deutschen Bevölkerung östlich der Oder-Neiße-Linie nur die Endphase jener Ereignisse darstellt, die insgesamt die Vertreibung der ostdeutschen Bevölkerung ausmachen, und obwohl sie für viele der Betroffenen geradezu das Ende eines unerträglichen Zustandes und die Erlösung von unsäglichen Verfolgungen sowie Leid darstellte, ist sie das eigentliche zentrale Ereignis im „Vertreibungsschicksal der Ostdeutschen“.

Alle vorherigen Ereignisse werden - wie am Phänomen der Flucht bereits dargelegt - ja nur deshalb als zum Gesamtprozess der Vertreibung gehörig betrachtet, weil sie am Ende alle  in die Ausweisung mündeten. Entweder waren sie, wie die Verfolgungen und Diskriminierungen unter russischer und polnischer Herrschaft, den Ausweisungen unmittelbar vorangegangen und hatten teils bewusst auf sie hingezielt, oder sie erhielten, wie die Flucht vor der Roten Armee, erst durch den Beschluss der Ausweisung den Charakter gewaltsamer Vertreibung,

Zweifellos war auch die nationalsozialistische Politik  schuld daran, dass überhaupt Maßnahmen wie die der Umsiedlung und Verpflanzung der unzähligen  Volksgruppen als Mittel zur Erreichung einer politischen Neuordnung betrachtet wurden.

Die Ausweisung der deutschen Bevölkerung, die sich nach der Besetzung Ostdeutschlands noch in den Gebieten östlich der Oder und Neiße befand oder dorthin zurückgekehrt war, vollzog sich in einzelnen, zeitlich begrenzten Etappen als ein Prozess, der mehrere Jahre in Anspruch nahm und erst in der unmittelbaren Gegenwart abgeschlossen zu sein scheint.

Neben den öffentlichen Aufforderungen wurden jedoch auch massivere Maßnahmen zur Verdrängung der Deutschen durchgeführt. Ganze Straßenzüge wurden zwangsweise durch polnische Miliz von Deutschen geräumt. Innerhalb kürzester Frist wurden die aus ihren Wohnungen Vertriebenen in geschlossenen Eisenbahntransporten, meist in Richtung Stettin, abgeschoben. Die Regelmäßigkeit, mit der von Danzig aus Züge mit Vertriebenen nach Westen abgingen, durch Pommern hindurch fuhren und auf dem Bahnhof Stettin-Scheune ankamen, reizte zahlreiche beutelustige Polen und auch russische Soldaten zu fortgesetztem Raub und zur Ausplünderung. Nicht selten bildete sich auf den Bahnhöfen und Zwischenstationen  ein regelrecht organisiertes Plünderungs- und Raubsystem aus, dem kaum einer der Deutschen entging.

In Oberschlesien vollzog sich die Ausweisung im Herbst 1945 meist in der Weise, dass die aus ihren Wohnungen Vertriebenen zunächst in Lagern gesammelt wurden, die sich in der Regel in den Kreisstädten befanden. Dort mussten sie in völlig überfüllten Baracken oder Fabrikräumen, ohne ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wochen und Monate vegetieren. Polen und Russen sortierten die noch Arbeitsfähigen aus. Alle übrigen wurden zu Transporten zusammengefasst, zu 60-70 Personen in einen Güterwagen verladen und - in einer Fahrt von meist mehr als zwei Wochen -, nach dem Westen abgeschoben.

Ähnlich war es auch in POMMERN, wo die Bevölkerung meist in der Mitte der Ortschaften, mitunter sogar in der Kirche zusammengetrieben wurde. Von dort ging es im Fußmarsch zum nächsten Verladebahnhof, wo entweder geschlossene Transporte zusammengestellt oder einzelne Güterwagen an fahrplanmäßige Züge angehängt wurden

Sammellager war ab Oktober 1945 das berüchtigte Grenzübergangslager Scheune bei Stettin, wo im Herbst 1945 und auch noch im Frühjahr 1946 Gewalttaten, Plünderungen und Willkürakte einzelner Polen und Milizangehöriger an der Tagesordnung waren.

Auch im südlichen OSTPREUßEN war es ähnlich: Plötzliche Ausweisungsbefehle, lange Gewaltmärsche  der Vertriebenen zu den Sammelstellen und Bahnhöfen, Gepäckkontrollen und während der Bahnfahrt fortgesetzte Plünderungen durch  Scharen von Polen, die meist die langen Wartezeiten der Transportzüge auf den Bahnhöfen für ihre Zwecke nützten, teils sogar auf die fahrenden Züge sprangen und überall panikartige Angst hervorriefen. Auch zahlreiche Todesfallen gab sich infolge der oft mehrere Wochen dauernden Transporte, die ohne Verpflegung und unter größten körperlichen Anstrengungen erduldet werden mussten.

 

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Archiv Rolf Herbrand/Gemünd. Das Foto wurde erstmals im Buch von Hans-Dieter Arntz publiziert:
„Kriegsende 1944/1945 zwischen Ardennen und Rhein“, Euskirchen 1984, Seite 137.

 

Zu 3.) Regionalhistorisches: Ein Flüchtlingsschicksal aus Hellenthal/Eifel (1951)

Meine Damen und Herren!

Millionenfache Beispiele beweisen, dass Flucht und Vertreibung keineswegs mit dem Waffenstillstand vom 9.Mai 1945 beendet waren und dass ein Ende absehbar war. Für die Bewohner des heutigen Kreises Euskirchen wurde der Treck von St.Vith, der im September 1944 durch die noch einigermaßen „friedliche“ Voreifel zog, eine Warnung für das war, was viele Deutsche im Laufe der nächsten Monate erwarten sollten. Solche Flüchtlinge hatten wir bisher hier nicht kennen gelernt.

Nach der Rückkehr vieler Evakuierter aus Mitteldeutschland in den Kreis Euskirchen zurück verloren sich nach dem 2. Weltkrieg die Eindrücke von Flucht und kurzfristiger Vertreibung. Um den Gedanken ganz profan abzukürzen: Wir im Westen haben im eigentlichen Sinne FLUCHT und VERTREIBUNG, wie dies im Osten geschah, nicht kennen gelernt. Dafür sollten wir alle dankbar sein! Der Vormarsch der westlichen Alliierten und die Besetzung lässt sich kaum mit der Situation im Osten vergleichen.

Dieser Umstand jedoch sollte uns heute nicht dazu verleiten, das Phänomen  Flucht und Vertreibung aus dem Gedächtnis zu verdrängen. Seit dem 2.Weltkrieg hat es wieder 150 Kriege in der Welt gegeben, die Flucht und Vertreibung - in Verbindung mit vielen Grausamkeiten - zur Folge hatten.

Ich habe in meinem Archiv  einen Zeitungsartikel gefunden, der aus dem Jahre 1951 stammt und exemplarisch den Eifelort HELLENTHAL mit dem Schicksal der aus dem Osten Vertriebenen konfrontierte:

 

Eine Frau kehrte aus russischer Gefangenschaft zurück
Ein Bericht des Grauens  ---  Von Sibirien in die Eifel

 

Kölnische Rundschau vom 23. Juli 1951

Hellenthal. Eine 46jährige Frau, deren Mann nach dem Kriege seinen Wohnsitz in Hellen­thal genommen hatte, kehrte vor wenigen Tagen aus russischer Gefangenschaft zurück. Sie wurde als Frau des neuen Hellenthaler Mitbürgers überall im Ort freundlich aufgenommen, und allenthalben freute man sich, dass die schwer­geprüfte Frau das Ende ihres Leidensweges erreicht hat.

Eine besondere Freude für die Heimkehrerin, die aus Königsberg in Ostpreu­ßen stammt, war es, zu hören, dass fünf ihrer Kinder in einer westdeutschen Stadt leben und wohlauf sind.  Die Frau war 1945, als der Russe Königsberg besetzte, mit ihrer damals 24jährigen Tochter und ihrem achtjährigen Jungen in der Stadt. Mit ruhigen, verhaltenen Worten schildert oder deutet sie die unvorstellbaren Schrecken an, die die Deutschen in Königsberg vom Tage der russischen Besetzung an zu er­tragen hatten; ja, sie vermag sogar - äußer­lich ruhig - zu berichten, wie ihr achtjähriges Söhnchen im wahrsten Sinne des Wortes verhungerte, in ihren Armen verhungerte. Mit wenigen Worten gibt sie ein Bild der Situation der Deutschen in der ostpreußischen Stadt: ununterbrochen  lauernde  Gefahr,  Rechtlosigkeit, Vergewaltigung, Hunger und Angst.

Bis März 1947 hielt  sie es aus,  dann flüchtete sie, zu Fuß, nach Litauen.  Vorher war in Königsberg ihre Tochter - ohne irgendeinen Anlass, ihre Tochter von den Russen verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Sie konnte  jedoch nach acht Tagen entfliehen und versuchte, nach Litauen zu kom­men.  Ein halbes Jahr suchten sich Mutter und  Tochter in Litauen, in einem Land, in dem es  für die Einheimischen das gefährlichste Wagnis war, einem Deutschen auch nur ein Stück Brot zu reichen. Als die Mutter  in Litauen ange­kommen war und bei der Polizei um Obdach bat, wurde ihr gesagt, man habe für Deutsche keinen  Platz.  Alle  Deutschen müssten sterben und sie solle ja zusehen, dass sie innerhalb von 24 Stunden außer Landes sei. Sie blieb den­noch, um ihre Tochter zu suchen, schlief auf der Straße, hungerte und hielt sich mit Brotrinden, die man ihr irgendwo heimlich gereicht hatte, am Leben.  Durch einen Zufall traf sie tatsäch­lich ihre Tochter, als sie gerade vor einer Poli­zeistreife geflohen war.

 

Fertigmachen zum Abtransport!
Aber nur wenige Tage hatten Mutter und Tochter das Glück des Vereintseins. Schon wenige Tage nach dem Zusammentreffen wurde die Tochter wieder verhaftet. 14 Tage später wurde auch sie selbst verhaftet. Das war im Mai 1948. Im Gefängnis trafen sich Mutter und Tochter wieder.

Zwei Monate waren sie ge­meinsam in Wilna, Turma Nr. 1, und er­warteten ihr Schicksal. Eines Tages hieß es „Fertigmachen zum Abtransport". Mutter und Tochter wurden in einen Güterzug verfrachtet. Es war ein Transport, aber beide lagen in verschiedenen Wagen. Acht Tage vor der Mutter wurde die Tochter irgendwo in Sibirien aus­geladen. Und sie sahen einander nicht mehr. Für die Mutter war Uchta, ein sibirisches Lager, das Endziel. Kaum war sie angekommen, be­gann die Arbeit in einer Ziegelfabrik. Ein Tag verlief wie der andere: 5 Uhr wecken, 6 Uhr `Kaffee´ (600 Gramm Brot und ein Teller Kohl­suppe), 7 Uhr bis 17 Uhr Arbeit (ohne Unter­brechung und ohne Mittagspause). Abends gab es einen Teller Kohlsuppe und einen kleinen Löffel „Groupa" (gekochte Graupen), anschlie­ßend Schlafengehen.

 

Lagerleitung sorgte für „Kultura“
Nacht weniger als acht Monate musste die Frau ohne Strohsack und ohne Decken am Boden schlafen. Dennoch schaffte die damals 43jährige, im ersten Monat Ihre `Norm´ und bekam am Monatsende 11 Rubel ausgezahlt. Für 10 Rubel konnte sie in der Kantine 1000 Gramm Brot kaufen, den einen Rubel, der übrig blieb, wollte sie sich aufheben. Im zweiten Monat erlitt sie einen Unfall und kam in ein Krankenhaus im Lager.   Sie hatte Glück und bekam eine deutschfreundliche Ärztin, die ihr 14 Tage hindurch täglich einen halben Liter Milch verschrieb. Später musste sie dann in einer Schneiderstube arbeiten. Für diese Arbeit aber gab es kein Geld. Dafür sorgte die Lei­tung des Lagers, in dem sich auch russische Zivilgefangene - Männer und Frauen - befanden, für `Kultura´. Es gab Häftlingskonzerte und gelegentlich einen Tanzabend.

 

Arbeit bei 60 Grad Kälte
In den zwei Jahren, in denen sich die Frau in russischer Gefangenschaft befand, war sie in sieben  sibirischen  Gefangenenlagern.   Sie  ar­beitete nicht nur in der Ziegelfabrik und in der Schneiderstube,  sondern auch auf dem  Feld oder im Wald, oder wo man sie sonst hinstieß.  Bei der Waldarbeit musste sie mit einer zweiten Gefangenen 40 m Holz sägen und hacken; an einem Tag, oft bei 60 Grad Kälte (…) Öfter als einmal blieb die Haut an der Axt kleben.

 

Hungerjahr  in Zaracai
Drei Tage, nachdem die zwei Jahre Gefangenenlager in Sibirien, zu denen sie  verurteilt worden  war – warum,  weiß sie heute noch nicht - vorüber waren,  wurden ihr Papiere ausgehändigt und ein Freifahrschein.  Das war am 24. Mai 1950. Sie fuhr nach Litauen. Weiter konnte sie nicht. Für sechs Tage hatte sie Verpflegung mit, 20 Tage fuhr sie! 30 Rubel, die sie als Entlassungsgeld bekommen hatte, wurden auf der Fahrt für  Zusatzfahrkarten, die manchmal notwendig waren,   verbraucht. In Litauen kam sie an, halb verhungert und ohne einen  halben Rubel in der  Tasche.   Zaracai hieß der Ort.   Es dauerte Tage, bevor sie - ohne   Geld - ein   Quartier  fand,  bei   einer alten Frau, die zwar ein Häuschen, aber ebenso wie sie keinen halben Rubel hatte. Mit Bettelei musste sie sich und ihre  Wirtin ernähren.


 In Zaracai aber war es auch, wo sie das ersten Male nach Deutschland  geschrieben   hatte, und   in Zaracai auch bekam sie Antwort  von einer Suchstelle des Roten Kreuzes. Sie erfuhr dort, dass ihr Mann in der Eifel, in Hellenthal war. Während ihres Aufenthaltes in Litauen konnte sie auch noch in Erfahrung bringen, dass ihre Tochter zu sechs Jahren Zwangsarbeit im Ural verurteilt worden ist.

 

Am Tor einer neuen Welt

Am 6.Mai 195l kam sie mit einem Transport von 4000 Deutschen in der Ostzone an und war da zwei Monate in einem Lager. Sie muss­ten deshalb so lange da bleiben, weil sie bei den demokratischen ostzonalen Wahlen mitwählen sollten. Nachher konnten sie gehen, wohin sie wollten. Als sie, nach einem kurzen Aufenthalt in Friedland, auf dem Bahnsteig in Bonn ihrem Mann in die Arme fiel, öffnete sich ihr eine neue Welt (…).

Und die Bürger von Hellenthal werden eher alles tun, um der leidgeprüften Frau, deren Mann nach dem Krieg schon bei ihnen Aufnahme, Arbeit und Brot fand, den Anfang und das Beginnen in der neuen Welt so leicht wie möglich zu machen.

 

4.) Zur gegenwärtigen Situation (1985)

Vor dem Hintergrund der Zahlen und Schicksale, die nur einen winzigen Teil des gesamten Ausmaßes erfassen, muss es heute geradezu als Wunder, in jedem Fall aber als historische Leistung erscheinen, dass das Aufnahme- und Eingliederungswerk der Bundesrepublik Deutschland gelungen ist! Alle beteiligten Kräfte haben dazu beigetragen, nicht zuletzt die Neubürger selbst.

Ihrem Fleiß, ihrem Können und ihrer Innovationskraft ist es zu einem beträchtlichen Maß mitzuverdanken, dass man heute von dem so genannten Wirtschaftswunder sprechen kann. Unbestritten ist auch der immense Beitrag der Vertriebenen zur inneren Stabilität der Bundesrepublik Deutschland; ein Beitrag, der in dieser Entschiedenheit nicht von vornherein zu erwarten war: Weder erwiesen sich die Vertriebenen als Herd sozialer Unruhe, noch als Potential mit politischem Extremismus. Ihre bitteren Erfahrungen (mit fanatischem Nationalismus und totalitärer Gewalt) haben sie offenbar immun gemacht gegenüber den bedrohlichen Ideologien unserer Zeit.

Erstaunlich ist zudem, dass sich die vielen Millionen Vertriebenen nicht haben entmutigen lassen. In fremder Umgebung und ohne materielle Basis gelang es ihnen, wieder Anschluss zu finden. Sie zahlten hierfür einen hohen Preis. Ich will hier jedoch auch erinnern an die Leiden der alten Menschen, die diesen Anschluss nicht fanden und über ihrer Hoffnung auf eine baldige Heimkehr wegstarben, an die überstürzte Verstädterung vieler Landbewohner, das Aufgehen des traditionsreichen ostdeutschen Bauerntums in der Industrie und die Überanstrengung vieler Familien. Und an das Schwerste: den Verlust ihrer Heimat!

Diese schwere Zeit der Flüchtlinge und Vertriebenen darf ebenso wie die Schrecken des Zweiten Weltkrieges nicht vergessen werden.

Daher fordere ich die jüngere Generation, die diese Zeit nicht mehr aus eigenem Erleben kennt, auf, sich verstärkt um geschichtliche Information zu bemühen. Umgekehrt sollten sich Medien und besonders die Schule verpflichtet sehen, ein Bild der unendlichen Mühsal undNot des damaligen Alltags zu vermitteln. Flucht und Vertreibung müssen unbedingt in das Curriculum der Schule gehören. Dieses Thema müsste obligatorisch in den Unterricht eines jeden Schultyps einfließen!

Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Dr. Horst Waffenschmidt, zählte in einer Ansprache vor dem Mitarbeiterkongress des Bundes der Vertriebenen am 23.0ktober 1983 einige zukunftorientierte Merkmale einer ostdeutschen Kulturarbeit auf. Diese Arbeit wäre notwendig, da die historische Entwicklung des deutschen Ostens, sein kulturelles Erbe und seine geistige Wirklichkeit ein Teil der gesamtdeutschen Geschichte und des geistig-kulturellen Vermögens des ganzen Volkes sei. Er regte  diesbezügliche Museen und Lehrstühle, aber auch Archive an.

Wir im Kreis Euskirchen können zufrieden feststellen, dass hierfür durch die vorbildliche Partnerschaft mit Namslau und weitere Aktivitäten  eine Basis geschaffen worden ist. Ein umfangreiches Archiv befindet sich in unserem Kreisarchiv bzw. der Kreisbildstelle in Kall.

Ergänzend zu diesen kulturellen Aktivitäten darf und soll der politische Aspekt nicht vergessen werden. Die Hälfte Europas - und die Trennungslinie geht mitten durch unser Land - befindet sich im Zustand der Unfreiheit. Teilen des deutschen Volkes und seinen östlichen Nachbarn werden Rechte vorenthalten, ohne deren Gewährung eine freiheitliche Zukunft Europas illusionär erscheint. Die Politiker sind der Ansicht, dass wir von einer europäischen und einer deutschen  Frage-, sprechen müssen, solange das Recht der Völker auf freie Selbstbestimmung nicht verwirklicht ist - und damit auch das Recht aller Deutscher auf ihre Heimat.

Viele Menschen sind der Ansicht, dass aus Vertreibung, Gebietsabtrennungen größeren Ausmaßes und gewaltsamer Teilung  - in gegensätzlich regierte Staaten und Gesellschaftsordnungen -    ein tiefer Einbruch in der Psyche und in der historischen Struktur unseres Volkes resultiert. Dies bildet  die eigentliche „ BRISANZ der offenen deutschen Frage“.

Ich möchte mich mit diesen politischen Aspekten jetzt nicht auseinandersetzen, weil dies über den Rahmen meiner mir gestellten Aufgabe hinausginge.

Doch darf nicht verschwiegen werden, dass es unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die zukünftigen Standpunkte zu den Ostgebieten gibt. Mancher Bundesbürger argumentiert, dass es zwar keinen endgültigen Friedensvertrag mit offizieller Abtretung  deutscher Gebiete gibt, dass aber andere Verträge dies anderweitig rechts- und endgültig geregelt hätten. Die Vertriebenenverbände jedoch halten immer wieder an der Gemeinsamen Entschließung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages vom 17.Mai 1972 fest, in welcher unmissverständlich festgehalten wird  - ich zitiere:

„Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg!"

Dazu zählt freilich auch eine Interpretation der Ostverträge, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht!

Eine vollkommen neue Variante  des Vertriebenen- Gedankens erlebte ich vor wenigen Monaten bei einem Empfang in Haifa. Juden argumentierten, dass es offenbar noch keinem der Verantwortlichen der Bundesrepublik jemals auf- oder eingefallen sei, dass Deutsche jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens, die ins Ausland flüchteten, auch im politischen Sinne Vertriebene sind. Jedes Jahr gäbe es hierzulande Treffen von Deutschen aus Böhmen, aus Polen, aus Rumänien, aus Schlesien (…), an denen sogar führende Politiker teilnähmen. Von einem Treffen jener Deutschen, die von Deutschen aus Deutschland vertrieben, verjagt und hinausgeekelt wurden, weil es sich um Juden handelte, hätte man noch nicht gehört.

Ein anderes Argument gilt der Kritik an der jungen deutschen Generation. So ist es sicher keine politische Verzichtserklärung, wenn jüngere Bundesbürger, die laut Ausweis Vertriebene sind, sich inzwischen im Westen so eingelebt haben, dass sie keinen direkten Sinn mehr darin sehen, das bewundernswerte Engagement „echter“ Vertriebener fortzusetzen.

 

Meine Damen und Herren!
Ich möchte abschließend betonen, dass der Versöhnungsgedanke auch und besonders in den Vertriebenen und Flüchtlingen lebt. Diese haben am eigenen Leib das Grauen der Rechtlosigkeit und der Unmenschlichkeit erfahren. Aber Versöhnung darf nicht nur ein deklamatorisches Bekenntnis tagespolitischer Beschwichtigung sein. Auch ich selber, der 1941 in Königsberg geboren wurde, würde gerne einmal bewusst meine Heimatstadt Königsberg kennen lernen.

Ich möchte mit einem Gedanken enden, den vor etwa 2 Monaten der bayerische Staatsminister Franz Neubauer anlässlich der 40jährigen Wiederkehr des Beginns der Vertreibung äußerte. Dabei bezog er sich sicherlich auch auf  den  Leitgedanken eine aktiven  Vertriebenenverbandes:

" Die Vertreibung war ein Nachkriegsverbrechen! Doch nicht Rache und Vergeltung leiten uns, wie es schon die Charta der deutschen Heimatvertriebenen betonte, sondern der Wille, eine europäische Ordnung zu errichten, in welcher auch die Völker und Volksgruppen in einem Zustand der Normalität zurückfinden, die davon gegenwärtig noch weit entfernt sind. Erst dann wird Europa den ganzen Reichtum seiner Fähigkeiten in der Mitgestaltung dieser Welt entfalten!"

Ich danke Ihnen!

 

 5.) ANHANG

Kölnische Rundschau, Lokalteil Euskirchen, vom 24. Juni 1985: „Euskirchen gedachte der vielen Vertriebenen“ (24. Juni 1985)

fluechtling04

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