Ein wichtiges Buch von Hetty E. Verolme: Wir Kinder von Bergen-Belsen

von Hans-Dieter Arntz
02.04.2008

Da in diesem Jahr das christliche Ostern sowie das jüdische Pessachfest zur selben Zeit gefeiert wurden, interessierten sich offenbar viele Leser für meine letzten NEWS vom 21. und 22. März, die sich mit der Sederfeier 1945 in Bergen-Belsen befassten. Zumindest hatte ich diesen Eindruck, den mir mehrere Briefe und viele E-mails - besonders aus England und den USA - vermittelten. Die Persönlichkeit des Josef Weiss, einst „Judenältester von Bergen-Belsen“, sowie die Sederfeier der 30 Kinder im „Waisenhaus“ des Sternlagers sprachen in der festlichen Zeit jüdische und christliche Online-Surfer an. Eine besondere Nachfrage galt dem Buch Wir Kinder von Bergen-Belsen, Weinheim/Basel 2005 (ISBN 3 407 85 785 3), das ich in meinen NEWS am 11. August und 14. Dezember schon 2007 thematisiert hatte. Daher sollen heute mit Bezug auf die Autorin Hetty R. Verolme einige Details nachgereicht werden.


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Image0024Die Kinder des „Kinderhauses“ von Bergen-Belsen. Aufgenommen von einem Angehörigen der Britischen Armee, die das Lager am 15. April 1945 befreite. Zu ihnen gehörte auch die Autorin Hetty E. Verolme. Die drei Jungen im Vordergrund waren kurz  davor aus der Sowjetunion nach Bergen-Belsen gekommen. Es handelt sich hier nicht um das „Kinder-und Waisenhaus“ des Sternlagers, dessen Sederfeier von 1945  auf meiner Homepage beschrieben wurde.

Was wäre eine ehrenamtliche Arbeit ohne die vielen Helfer, die auf postalischem und telefonischem Wege, aber hauptsächlich online, bereit sind, Auskünfte zu geben oder Archivmaterial zu überlassen. In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch bei Herrn Dr. Claus Koch von der Verlagsgruppe Beltz bedanken, der mir im Sommer 2007 den Kontakt zu der Autorin Hetty E. Verolme verschaffte. Der Verlagsleiter für Fachbuch und Sachbuch besorgte die deutsche Ausgabe ihres Buches „Wir Kinder von Bergen-Belsen“. Der Titel der erfolgreichen Originalausgabe lautet: „The Children`s House of Belsen“, Fremantle Arts Centre Press,Western Australia 2000.

Hetty Esther Werkendam  wurde 1930 in Belgien geboren.1931 zog ihre Familie in die Niederlande nach Amsterdam, von wo aus sie 1943 deportiert wurde, aber den Holocaust überlebte.

Das Buch „Wir Kinder von Bergen-Belsen“ schildert detailliert, wie sie und ihre beiden Brüder, Max und Jackie, sowie ihre Eltern bei einer nächtlichen Razzia Ende des Jahres 1943  in Amsterdam aufgegriffen, ins Durchgangslager Westerbork und von dort in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert werden.

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Quelle: Hetty E.Verolme, Wir Kinder von Bergen- Belsen, Beltz Verlag Weinheim und Basel 2005, Seite 337.

Zuerst bleibt die Fami­lie noch zusammen, doch dann im Dezember 1944  werden ihr Vater und einen Tag später ihre Mutter zusammen mit anderen Eltern unter den Augen der Kinder auf einen Transport geschickt. Zurück im Lager bleiben etwa vierzig Kinder, zwischen zehn Monaten und sechzehn Jahren alt, getrennt von ihren Eltern, über deren Schicksal sie nichts erfahren. Noch am selben Tag finden sich ihre Namen auf einer Transportliste mit unbekanntem Ziel. Ein Trans­port, der Bergen-Belsen jedoch niemals verlassen wird.

Von den anderen als »Ersatzmutter« akzeptiert, organisiert Hetty zusammen mit den anderen Kindern und einer polnischen Aufseherin den Überlebenskampf der Gruppe.

Hetty Verolme, die das Inferno von Bergen-Belsen als Fünfzehnjährige - nur wenige Schritte entfernt von der Baracke Anne Franks - erlebt hat, lässt in ihrem Buch eine der bemerkenswertesten, weitgehend unerzählten Geschichten des Holocaust wieder aufle­ben, den ungewöhnlichen Kampf einer Gruppe von Kindern gegen ihre Vernichtung.

Auch für die Euskirchener Regionalhistorie ist es wichtig, dass dieses  junge Mädchen Bergen-Belsen überleben konnte und  den aus Euskirchen stammenden Josef Weiss (1893-1976) persönlich kennen lernte. Besonders auf den Seiten 220 bis 223 ihres Buches erinnert sie sich an ihn.

Hetty Werkendam überlebte die unbeschreibbaren Schrecken des Lagers. Wenige Tage nach ihrer Befreiung begann sie auf Wunsch der britischen Armee mit der Nieder­schrift ihrer Geschichte. In die Niederlande zurückgekehrt, beschloss sie 1954, zusammen mit ihrer Tochter nach Australien auszuwandern, und baute sich dort eine neue Existenz auf. In dieser Zeit entstand nach und nach und unter Zuhilfenahme der frühen Aufzeich­nungen das Buch „Wir Kinder von Bergen-Belsen“. Es erschien 2000 in Australien und wurde dort mit dem National Literary Award ausgezeichnet.

In ihrem kraftvollen und direkten Stil erzählt uns die Autorin die Geschichte des „Kinderhauses von Bergen-Belsen“, und davon, wie sie und die anderen Kinder sich ihre Menschlichkeit und Würde bewahren, indem sie sich gegenseitig unterstützen und Mut machen, die Barbarei zu überstehen.

In Australien, ihrer neuen Heimat, verfasste sie in englischer Sprache das genannte Buch, in dem auch der Flamersheimer Josef Weiss eine Rolle spielt. Seit Monaten steht  die Autorin online mit mir in Verbindung und im Oktober 2007 kam es in Bergen-Belsen zu einem persönlichen Treffen, das der anonymen Online-Arbeit endlich auch eine persönliche Note gab.

Hetty E. Verolme ist allerdings eine der Wenigen, die sich heute noch an den „Judenältesten von Bergen-Belsen“ erinnern kann. Daher ist sie als Zeitzeugin für die Regionalhistorie der Eifel und Voreifel sehr wichtig.

 

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Begegnung anlässlich der Einweihung des neuen Dokumentationszentrums
der Gedenkstätte von Bergen-Belsen am 28. Oktober 2007.

 

Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, übersetzte das Buch von Hetty E. Verolme „„The Children`s House of Belsen“, ( Fremantle Arts Centre Press,Western Australia 2000). Sie hat zahlreiche Bücher und Übersetzungen zur Shoah veröffentlicht. Im Jahre 2004 erhielt sie für ihr Gesamtwerk den Deutschen Bücherpreis. Sie konstatierte ihren Eindruck: „Das Buch von Hetty Verolme hat mich zutiefst berührt. Es ist wunderbar, dass die Autorin ihre Geschichte und diew der Kinder von Bergen-Belsen an uns weitergibt.“

Folgender Auszug ist nicht nur eine Leseprobe, sondern auch eine Ergänzung meiner eigenen Artikel „Seder 1945 im 'Kinderheim' des KZ Bergen-Belsen“ und des vollständigen Textes in meinem Beitrag „Jupp Weiss aus Flamersheim, der Judenälteste von Bergen-Belsen“. Hetty Verolme bestätigt, dass Josef („Jupp“) Weiss, der „Judenälteste von Bergen-Belsen“, nicht nur im Sternlager, sondern auch in anderen Baracken der Teillager eine „Sederfeier“ abhielt. Allerdings ist hier anzumerken, dass der Anlass sicher nicht der Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes war, wie das Hetty Verolme vermutete.  Dies kam nur in Theresienstadt vor. In der Hölle von Bergen-Belsen wäre dies niemals möglich gewesen! Es wird sich um Angehörige der SS gehandelt haben, die sich – kurz vor der Übergabe an die britische Armee – einen Überblick verschaffen wollten.

Andererseits könnte es sein, dass sich die Autorin doch nicht irrt. Möglich wäre es, dass der „Judenälteste“ Josef Weiss tatsächlich der Ansicht war, dass das Rote Kreuz involviert war, da er selber -  im Auftrage der Lagerkommandantur - einen Brief nach Genf zu schreiben hatte, um dort um Hilfe zu bitten. Irrtümlich war er der Ansicht, dass sein Cousin, der ebenfalls aus Euskirchen-Flamersheim gebürtige Dr. Joseph Weiss, dort noch tätig wäre. Dieses Schreiben vom 20. März 1945 ist am Ende meines Beitrages publiziert. Unwahrscheinlich ist es wohl, dass Josef Weiss die 30 bis 40 Kinder trösten wollte, da die Nennung des  Roten Kreuzes  beruhigend auf sie wirken könnte.

Mit Genehmigung des Beltz-Verlages folgt nun ein Auszug aus dem Buch Wir Kinder von Bergen-Belsen, S.220 bis 222:

Mitte März wurde uns gesagt, dass eine Delegation »des Roten Kreuzes« das Lager inspizieren wolle. Es war erstaunlich, wie sich die Dinge änderten. Unsere Baracke wurde gründlich geputzt. Schwester Luba organisierte weitere Helfer. Unsere gesamte Kleidung wurde von Schwester Hermina kontrolliert, Zosua und Helen, die sich tagsüber um den Schlafraum und die kranken Kinder kümmerten, unterstützten sie dabei. Ich half beim Kontrollieren und Sortieren der Kleider, die jedes Kind bei die­ser Inspektion tragen sollte.

Wenn Sachen geflickt werden mussten, brachte ich sie zu Schwester Hella und Maria, schmut­zige Kleidungsstücke wurden gewaschen. Frau Stana, die Lager­älteste, hatte einen Boten mit strengen Anweisungen geschickt. Wir sollten sauber aussehen und einen glücklichen Eindruck machen. Wenn jemand aus der Delegation uns fragen sollte, ob wir gut behandelt würden, müssten wir Ja sagen. Und wenn sie wissen wollten, ob wir genug zu essen bekamen, müssten wir ebenfalls Ja sagen. Überhaupt wurde uns in den folgenden Ta­gen ständig gesagt, was wir zu tun und zu lassen hatten. Schwester Hermina sagte, dass wir an dem bestimmten Tag unsere Hauptmahlzeit mittags bekämen.

Als der Tag endlich kam, bot das Esszimmer einen festlichen Anblick. Auf den langen Tischen lagen Decken und jedes Kind hatte eine dicke, mit Butter geschmierte Scheibe Weißbrot vor sich liegen. Die Tür ging auf und drei Männer und eine Frau betraten den Raum. Sie wurden von Frau Stana begleitet, der Frau Doktor und ein paar anderen aus dem medizinischen Stab.

Zu  unserer großen  Überraschung  befand  sich  auch  Herr Weiss unter der Gruppe. Wie glücklich ich war, ihn wiederzusehen. Ich saß am Tischende, und wir fanden einen Stuhl, damit Herr Weiss sich zwischen uns setzen konnte. Der Besuch der Delegation fiel zufällig auf das jüdische Pessachfest, und Herr Weiss las aus dem Gebetbuch, das er mitgebracht hatte, einige Passagen vor, bevor wir mit dem Essen begannen. Es gab keine Mazzen, aber das spielte jetzt keine Rolle — wir hatten lebenserhaltendes Weißbrot.

Herr Weiss brachte auch eine große Schachtel Schokolade mit, vermutlich eine Spende des Roten Kreuzes für uns. Eine Frau in Schwesternkleidung ging zu ihm hin, nahm ihm die Schachtel aus der Hand und sagte, sie wolle die Schokolade unter den Kindern verteilen. Ich kannte die Frau. Es war die Krankenschwester, die bei dem mutigen Zahn­arzt assistiert hatte. Ich hatte sie damals nicht gemocht und mochte sie nun auch nicht.

Herr Weiss stellte mir viele Fragen. Waren die Schwestern gut zu uns? Wie verbrachten wir unsere Tage? Ich erzählte ihm, wie wir lebten, und fragte ihn natürlich, ob mein Vater nach Bergen-Belsen zurückgekommen sei. Er sagte, zwanzig Männer seien von Mauthausen zurückgekommen, aber er wisse nicht, wo sie seien.

»Es ist schwer, das herauszufinden«, sagte er. »Das Häftlings­lager ist vom Sternlager durch das Ungarnlager getrennt, das macht es nicht leichter.«

Aber er versprach mir, es zu versuchen.

Der Raum war überfüllt. Die Kinder plapperten aufgeregt. Die Gäste der Delegation unterhielten sich mit Schwester Luba und den anderen Schwestern, die strahlend lächelten. Einer der Männer dieser Abordnung sprach Deutsch. Frau Stana stand da­neben, um ja kein Wort von dem zu verpassen, was gesprochen wurde.

Dann kamen die Leute zum Tisch, um sich mit den Kindern zu unterhalten. Einer der Männer fragte mich nach meinem Na­men, den er in ein Notizbuch schrieb. Dann wollte er wissen, ob die Lagerleitung uns gut behandelte, ob wir genug zu essen be­kamen und ob uns auch niemand schlug.

Die beiden ersten Fragen beantwortete ich mit Ja, die dritte mit Nein. Der Mann lächelte und schrieb wieder etwas in sein Buch. Dann wurde er gerufen, weil die Gruppe unseren Schlaf­raum und den Rest der Baracke besichtigen wollte.

Einige der Räume auf der anderen Seite des Korridors wurden von ein paar rumänischen Frauen benutzt, die erst ein paar Wo­chen zuvor angekommen waren. Eine von ihnen hatte ein wun­derschönes Baby, das ich schon ein paar Mal gesehen hatte. Ich wusste, dass Schwester Luba der Frau und ihrem Kind Essen abgab, obwohl sie unseren Teil der Baracke nicht betreten durf­ten.

Herr Weiss blieb bei uns, während die anderen ihre Inspek­tion fortsetzten. Als die Krankenschwester des Zahnarztes zu­rückkam, stellte er mich ihr vor.

»Ich kenne sie schon von der Zahnarztpraxis im Sternlager«, sagte ich.

Die Frau starrte mich an, dann schien sie sich zu erinnern.

»Ich arbeite nicht mehr im Sternlager«, sagte sie. »Ich bin jetzt für das SS-Krankenhaus verantwortlich.« Und dann befahl sie: »Zeig mir deine Zähne.«

Ich grinste breit, um meine Schneidezähne sehen zu lassen.

»Der Zahn sieht nicht schlecht aus«, sagte sie. »Aber die Far­be deines Zahnfleisches gefällt mir nicht. Komm demnächst mal zu mir ins Krankenhaus, ich will sehen, ob ich etwas tun kann.«

Ich machte den Mund fest zu und beschloss auf der Stelle, diese Frau nicht aufzusuchen. Sie war falsch. Ich wusste, dass ich unter anderen Umständen nie zu ihr gegangen wäre, auch wenn ich alle Zähne verlieren würde. Die Kinder, die uns beobachtet hatten, kamen nun auch an, und die Frau war gezwungen, sich ihre Zähne ebenfalls anzuschauen. Max bekam das gleiche Urteil zu hören wie ich. Sein Zahnfleisch war ebenfalls zu rot. Bei der Ernährung kein Wunder, wir litten Mangel.

Die Tür zum Esszimmer ging auf und Schwester Luba kam mit Schwester Hermina von der Inspektion zurück. Sie sagten Herrn Weiss, dass die Gruppe die Baracke bereits verlassen hat­te. Widerstrebend erhob er sich. Dann nahm er meine Hände und schaute auf mich herunter.

»Du bist ein tapferes Mädchen, Hetty«, sagte er. »Ich werde sehen, was ich über deinen Vater herausbekomme, und es dich wissen lassen.«

Ich wollte nicht, dass er ging. Ich klammerte mich an seine Hände. Aber er löste sich sanft aus meinem Griff, er musste ge­hen. Die Zahnarztschwester war schon gegangen, deshalb strei­chelte er uns zum Abschied noch einmal über den Kopf und ging schnell hinaus, um die anderen noch einzuholen.

Als er gegangen war, fühlten wir uns unendlich verlassen, aber das große Stück Schokolade, das jeder von uns noch besaß, tröstete uns. Ausnahmsweise erlaubte uns Schwester Luba, es zu behalten und zu essen, wann wir es wollten. Aber sie warnte uns auch, es langsam zu tun, denn wir könnten krank werden, wenn wir alles auf einmal verschlingen würden. Bald gingen wir zu­rück in den Schlafraum, wo wir die Ereignisse des Mittags be­sprachen. Die älteren Kinder wurden ganz optimistisch, was un­sere Zukunft betraf. Seit vielen Monaten waren wir zum ersten Mal mit Menschen von außerhalb des Lagers in Kontakt gekom­men. Aber was für ein Theater die SS mit unser aller Hilfe auf­gezogen hatte!

An diesem Tag bekamen wir kein Abendessen, doch das spiel­te jetzt keine Rolle, denn wir hatten das meiste von unserer Schokolade aufgegessen. Ich besaß noch die Hälfte, und da ich nichts mehr essen konnte, versteckte ich den Rest in meinem Regal für den nächsten Tag.

Erinnerung an die Einweihung des Dokumentationszentrums der Gedenkstelle


Bergen-Belsen am 28. Oktober 2007
(Fotos: Carsten Arntz)

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