Seder 1945 im „Kinderheim“ des KZ Bergen-Belsen

Auszüge aus dem  Bericht von Jupp Weiss aus Flamersheim
(Nach: Hans-Dieter Arntz, JUDAICA - Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983, S. 434-446) 
Erstmaliger Nachdruck mit Erlaubnis des Euskirchener Regionalhistorikers in Euskirchener Wochenspiegel vom 11.04.2001
28.01.2007

glückliche Tage
Ein Bild aus glücklichen Tagen: 1933 fand das letzte gemeinsame Treffen der Familie Weiss in Flamersheim statt.
Jupp Weiss steht oben rechts.

 

„Du musst heute Abend in allen Baracken sprechen", sagte meine Frau bei der Morgenbegrüßung in ihrer Baracke zu mir. - „Was soll ich aber sagen?", antwortete ich. „80 % aller Personen sind krank - Fleckfieber, Erschöpfung! Wir haben Quarantäne, kaum Brot - seit 10 Tagen wird höchstens ein Fünftel unserer uns zustehenden Ration geliefert. Butter und Brotaufstrich kennen wir nicht mehr." (...)

Aber heute sprechen, wo man sagen müsste: 'Jeder, der komme, der esse mit mir!' - Nein, Mami, das ist zu schwer für mich. Ich bin auch nur ein Mensch, und wir haben keine Vorräte mehr, um selbst den Kranken und Erschöpften etwas extra geben zu können. Und neue Zufuhr kommt nicht mehr, und wenn ich rede, muss ich das alles sagen." „Gerade darum musst Du reden; der von Dir selbst  zitierte Satz aus der Haggada muss der Leitfaden Deiner Ansprache sein." So antwortete meine Frau in ihrer wie immer ruhigen und überzeugenden Art. Wir hatten selbst eine „Einladung“, den Seder im Kinderheim mitzufeiern. Ich besuchte abends alle Baracken unserer Gruppe (das KZ Bergen-Belsen bestand aus neun verschiedenen Gruppen, die durch Stacheldraht voneinander getrennt waren).

Nachdem ich zehnmal gesprochen hatte, kam ich ins Kinderheim, wo man mit dem Beginn des Seder auf mich gewartet hatte. Hier war ich über  alles  überrascht, und es erfüllt mich heute beim Niederschreiben dieser Zeilen mit Stolz, was hier jüdische Menschen trotz aller Erniedrigungen und Leiden jüdischen Kindern boten.

Ein herrlich gedeckter Tisch, Sitzplätze, nach zwei Seiten Bänke, nach zwei Seiten die unteren der dreistöckigen Betten. Einige Familien waren zu Gast, u. a. die Witwe eines vor wenigen Tagen verstorbenen holländischen Oberrabbiners und die Kinder des anderen holländischen Oberrabbiner-Ehepaares, die um dieselbe Zeit an Hungerödemen gestorben waren. Diese  etwa 30 Kinder saßen in den „besten" Lagerkleidern strahlend um den Tisch. Vater Birnbaum gab den Seder in traditioneller Weise mit allen Erklärungen und Beantwortungen aller Fragen der Kinder. Die Sederschüssel war vorschriftsmäßig, wenn auch Ersatz. Nach dem ersten Teil gab es Essen, einfach herrlich, verschiedene Gerichte. Die Kinder und die Erwachsenen strahlten. Es waren Kunstwerke von Mutter Birnbaum, die mit ihren Töchtern für das leibliche Wohl der Gäste sorgte. Der Wein war ebenfalls prima, wenn auch Ersatz. Wir haben 15 Monate als Hauptnahrung in Bergen-Belsen Kohl und andere Rüben gegessen; aber nur einmal habe ich den Wert der Rüben anerkannt, das war an diesem Abend. Denn der Inhalt der Sederschüssel, das Essen und der Wein (sprich: Saft) waren zu 90 % Produkte von Rüben, durch die Künstlerhände von Mutter Birnbaum für obige Zwecke geformt.

Der zweite Teil des Seder war ebenso feierlich wie der erste. Die Gesänge wurden von den Kindern bestritten. Ich habe sie nie schöner gehört als von diesen Kinderstimmen. Zum Schluss sangen wir gemeinsam: „Leschana Haba'ah Biruschalaim.

Ergriffen verließen wir das Kinderheim, um in die  „Wirklichkeit“  zurückzukehren. Ich begleitete meine Frau und unseren Sohn in ihre Baracken. Dann begab ich mich ins Büro, um mit meinem Mitarbeitern die gewohnte tägliche Namensliste der Verstorbenen im gesamten KZ zu machen. Es waren heute 596, davon etwa 500 Juden.

Weiss Haus
 

 

 

 

Zachor

 

Das Weiss-Geburtshaus in Flamersheim
Foto: Archiv Arntz

 

Hans-Dieter Arntz traf sich 1984 in Jerusalem mit Ahron Zachor, dem Sohn von Jupp Weiss.

 

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