„Stille Helfer“: Eine christlich-jüdische Freundschaft zwischen
Wilhelm Müller und Alfred Seligmann

von Hans-Dieter Arntz
21.03.2009

Der Briefwechsel zwischen einem Landwirt aus Wißkirchen und einem jüdischen Flüchtling aus Euskirchen beweist erneut, dass es im Dritten Reich „stille Helfer“ gab und dass eine langjährige Freundschaft auch den rassistischen Nationalsozialismus überstehen konnte. Ein Stapel diesbezüglicher Briefe und Dokumente aus der Nachkriegszeit (1946-1973) gibt Aufschluss über menschliche Beziehungen und damalige Probleme der Nachkriegszeit.

Briefe als „Mosaiksteinchen“ der Regionalhistorie

Grundsätzlich ist anzumerken, dass sich die Aufarbeitung unserer jüngsten Geschichte mit den Ursachen, Ereignissen und Protagonisten einer Zeit befasst, die durch den Nationalsozialismus ihren Stempel aufgedrückt bekam. Dabei gelingt es der Regionalhistorie immer wieder, besonders personifizierte Sachverhalte zu finden, die oft für die klassische Geschichtswissenschaft unwesentlich sind. Der Briefwechsel des katholischen Landwirtes Wilhelm Müller (28.12.1899 – 29.11.1973) aus Euskirchen-Wißkirchen mit seinem jüdischen Freund Alfred Seligmann in Südafrika ist ein Beispiel hierfür.

 

Briefe von Alfred Seligmann aus dem Jahre 1946

Briefe von Alfred Seligmann aus dem Jahre 1946

 

Grundsätzlich ist anzumerken, dass derjenige, der wieder nach langer Zeit Briefe oder Tagebücher zur Hand nimmt, feststellen wird, dass Emotionen das Interesse an längst Vergessenem wecken können. Auch kann man sich sogar leicht in die jeweilige Situation fremder Verfasser versetzen. So geht es mir persönlich, wenn mir kleine Privatarchive zur Verfügung gestellt werden, die sich als ein Konglomerat von Intimität und Historie herausstellen.

Was sich in einer ländlichen Region abspielt, wird schnell den Nachbarn bekannt. Ältere Zeugen können sich an vieles erinnern und manches noch bestätigen. Auch rückwirkend ist lokales Geschehen überschaubar, und daher führen Erinnerungen oft zu Dokumenten, Fotos und Berichten, die ansonsten vergessen wären. Besonders interessant können zum Beispiel auch Briefe sein. All dies kann zu einer Ergänzung der ansonsten anonymen Historie werden. Und das Interesse an der Möglichkeit, ein Mosaiksteinchen zur „Heimatkunde“ liefern zu können, das ist es, was regionalhistorische Forschungen so lebendig und aktuell macht.

Die Briefe des jüdischen Metzgers und Viehhändlers Alfred Seligmann (1897- 1975) vermitteln zwar nur geringfügig Erkenntnisse über die Judenverfolgung auf dem Lande, charakterisieren aber indirekt die aufrechte Haltung eines katholischen Landwirtes, der in den 50er Jahren Bürgermeister der kleinen Gemeinde Wißkirchen war. Gleichzeitig spürt man die Dankbarkeit eines rassisch Verfolgten. Heute ist das Dorf ein Vorort der Kreisstadt Euskirchen. Dass Wilhelm Müller offenbar schon in jungen Jahren sozial engagiert war, beweist die Tatsache, dass er bereits 1928 für dieses Amt demokratisch gewählt worden war und es nur aus familiären Gründen zurückgeben musste.

In meiner dokumentarischen Erzählung Isidors Briefe, die das wichtige Kapitel 26 meines Buches Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischem Grenzgebiet ausmacht, versuchte ich, anhand einer Auswahl von etwa 120 Briefen, das Schicksal der jüdischen Familie Mayer aus Euskirchen darzustellen. Die Korrespondenzen aus der Zeit 1936 bis 1942 und die Postkarten aus Theresienstadt bis 1943 beinhalten nicht nur den Terror des Nationalsozialismus bis hin zum Holocaust, sondern thematisieren auch detailliert und eindringlich das Geschehen in der Kreisstadt, die Auflösung der jüdischen Gemeinde und den psychischen Verfall der Betroffenen.

Während ein interessierter Leser bei einer derartigen Problematik mitleidet, kann er sich aber auch über Korrespondenzen mitfreuen, die Auskunft über Hilfe, Freundschaft oder gar über eine gelungene Flucht geben. Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen Briefe von Alfred Seligmann (1897 – 1975), einem jüdischen Viehhändler und Metzger aus Euskirchen, dem mit seiner Familie die Flucht nach Südafrika gelang. Auch hier kann man zur Kenntnis nehmen, dass es Menschen gab, die im Bereich ihrer Möglichkeiten jüdischen Mitbürgern halfen, ohne dies nach dem Kriege lauthals mitzuteilen.

 

Wilhelm Müller Alfred Seligmann

Wilhelm Müller, Wißkirchen 1942

Alfred Seligmann, Viehhändler in Euskirchen


Mit weiteren Unterlagen wurden mir diese Briefe letzte Woche von Frau Agnes Remer geb. Müller aus Aachen zur Verfügung gestellt. Sie stammen aus der Zeit zwischen 1946 und 1973 und bestätigen rückwirkend, dass ihr Vater offenbar die Freundschaft mit dem jüdischen Viehhändler Alfred Seligmann pflegte und sich von den Nationalsozialisten in Euskirchen nicht einschüchtern ließ. Nicht nur diese christlich-jüdische Freundschaft, sondern grundsätzlich das bescheidene Engagement von Wilhelm Müller hat mich beeindruckt, denn seinen Charakter offenbarte er auch gegenüber polnischen Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern, wie ein zusätzliches Schreiben aus dem Jahre 1953 beweist.

 

Ehemaliger Fremdarbeiter schreibt an Wilhelm Müller (1953)

Ehemaliger Fremdarbeiter schreibt an Wilhelm Müller (1953)

Alfred Seligmann

Alfred Seligmann wurde am 3. August 1897 geboren und starb 1975 in Südafrika. Den Akten ist zu entnehmen, dass er von 1926 bis 1938 als Viehhändler in Euskirchen tätig war. Am 13. September 1938 blieb auch ihm nichts anderes übrig, als sich bei der Stadtverwaltung, Amt für Gewerbebetriebe, offiziell abzumelden, da es ihm „aus den gegebenen Verhältnissen nicht mehr möglich“ war, „ einen Verdienst in diesem Gewerbe zu erreichen“.

 

Alfred Seligmann: Abmeldung seines Gewerbes am 13. September 1938

Alfred Seligmann: Abmeldung seines Gewerbes am 13. September 1938

 

Mit Ehefrau Hedwig geb. Sternberg (geb. 1909) und Söhnchen Günter (geb.1937) wanderte er am 25. Dezember 1938 – wie auch die Familien Ernst Stock (geb. 1907)) aus Lommersum, Simon Rolef (geb. 1862) aus Kuchenheim oder Siegfried Heumann (geb.1903) aus Euskirchen – nach Südafrika aus, wo seine vorläufige Anschrift North Butchery Sauerstownship, Bulawayo/Southern Rhodesia lautete.

Offenbar wurden im Jahre 1936 mehrere seiner unbebauten Grundstücke von der Stadt Euskirchen „einigermaßen regulär“ abgekauft. Jedoch ließ er u.a. sein Haus in der Baumstraße 31 zurück, in dem er immer gewohnt hatte. Nur wegen der bevorstehenden Auswanderung nach Holland und von dort nach Südafrika hielt er sich kurz mit seiner Frau und seinem Söhnchen im Hause von „Tina“ (Dinah/d.V.) Seligmann, Kommernerstraße 64, auf. Dort wohnte fünf Häuser weiter mit Herbert S. ein überzeugter Vertreter der neuen NS-Ideologie, der als Hunderschaftsführer an der nahen Ordensburg Vogelsang seinen Dienst tat.

Laut Grevens Adressbuch 1939 wohnten damals sein Vater Jakob Seligmann (geb. 1861) und seine kranke Schwester Sibilla (geb. 1892) noch in der Baumstraße 12. Dieses Haus war ihr persönliches Eigentum. Alfred Seligmanns Mutter Julia geb. Meier war bereits am 18. Januar 1933 verstorben. Da Alfred in unmittelbarer Nähe seines Vater und seiner Schwester wohnte, nämlich in der Baumstraße 31, half er seinen Familienangehörigen so oft wie möglich.

Stolperstein-AktionIm Rahmen der Euskirchener Stolperstein-Aktion vom 4. Februar 2009 wählte man offenbar das Haus Kommernerstraße 64 als zentrale Anschrift, wo an die Namen der vier ermordeten Seligmann-Verwandten – Sibilla, Jakob und „Tina“ (Dinah/d.V.) (geb. 1867) sowie die schon 1933 verstorbene Julia Seligmann – erinnert wird. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass das Haus somit in jüdischem Besitz war und auch kurzzeitig anderen jüdischen Familien als Unterschlupf und als Versteck gedient hatte. Es bot offenbar genügend Platz. Ein Schreiben der Euskirchener Stadtverwaltung an das Finanzamt vom 27. August 1942 (EU StA IV, Nr. 17) vermerkte hierzu nach der Deportation, dass die aus 4 Zimmern bestehende Wohnung im Erdgeschoss für eine Witwe vorgesehen sei, die im Amtsgericht beschäftigt war, und dass im Obergeschoss mit 5 Zimmern eine Großfamilie mit 5 Kindern untergebracht werden sollte.

Alfred Seligmann plante etwa seit Sommer 1938 seine Auswanderung. Das Ziel schien ihm vorläufig unwichtig gewesen zu sein. Er wollte nur mit Frau und Kind aus Deutschland fliehen. Sorgen machten ihm besonders seine Angehörigen in der Baumstraße 12. Jakob Seligmann mit der behinderten Tochter Sibilla waren nämlich besonders den demütigenden Schikanen der Euskirchener Nationalsozialisten ausgesetzt. Der weit über 70jährige „Nicht-Arier“ hatte allein den Haushalt zu bewältigen, da die bei ihm wohnende Sibilla selber jeglicher Hilfe bedurfte. In der Lokalausgabe des „Westdeutscher Beobachters“ wurde sie am 6. April 1935 unter der gehässigen Überschrift „Sibilla, die Sitzengebliebene“ diskriminiert:

Es wohnt hier in Euskirchen ein Maucheljude mit Namen Seligmann. Dieser Talmud-Jünger hat nun auch eine schöne Tochter: Sibilla, die Sitzengebliebene. Weil nun diese keinen Mann hat und auch keinen bekommen wird, denn sie ist eine Schönheit für sich, belästigt sie in ihrer Nachbarschaft…

Nur so ist es erklärbar, dass Sibilla Seligmann am 16. März 1941 zur berüchtigten Adresse Sayn/Bendorf, Hindenburgstraße 49 „verzogen“ war, wie es die städtische Akte „Abmeldungen der Glaubensjuden“ ansonsten kommentarlos konstatiert. Dass diesbezüglich ein besonderer Sachverhalt vorlag, wurde in einem Aufsatz von Dr. Gabriele Rünger in der Dokumentation „Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen – Die braune Vergangenheit einer Region“ erwähnt (hrsg. v. Geschichtsverein des Kreises Euskirchen e.V., 2006). Sibilla Seligmann war nämlich ein Opfer der „Rassenhygiene“ und wurde als jüdische Anstaltsbewohnerin nach Bendorf-Sayn deportiert. Wörtlich heißt es auf Seite 721:

Sibilla Seligmann aus Euskirchen traf dieses Schicksal wohl schon einige Monate früher. Sie ist ab 1939 in der Heil- und Pflegeanstalt Bonn. Als ihr Vater 1941 in Euskirchen stirbt, war sie zu Hause. Ab dem 16.3.1941 ist sie in Bendorf-Sayn nachzuweisen. Zur Tötung transportierte man sie in den Osten. Laut Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz ist sie in Izbica verschollen.

Auch der Tod ihres Vaters, Jakob Seligmann, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Lakonisch heißt es in den Akten der Stadt Euskirchen, dass er am 13. Februar 1941 in der Klosterstraße 19 verstarb. Man sollte wissen, dass der beinahe 80jährige kurz vorher einen nie geklärten Unfall hatte und von einem Auto lebensgefährlich verletzt wurde. Die unauffällige Adresse Klosterstraße Nr. 19 war die Anschrift des Krankenhauses, des katholischen Marienhospitals!

Wilhelm Müller

Wilhelm und Gertrud Müller mit den Töchtern Agnes (geb.1940) und Hedwig (geb.1942)

Wilhelm und Gertrud Müller mit den Töchtern Agnes (geb.1940) und Hedwig (geb.1942)

Wilhelm Müller wurde am 28. Dezember 1899 in Wißkirchen als Sohn des Hofbesitzer Franz Müller und dessen Ehefrau Wilhelmine geb. Guth geboren. Im Jahre 1904 verstarb sein Vater mit 47 Jahren, so dass seine Mutter mit drei kleinen Kindern den großen Hof mit Landwirtschaft alleinverantwortlich bewirtschaften musste. Dennoch wurde Wilhelm der Besuch des Gymnasiums im nahen Euskirchen ermöglicht. Während des 1. Weltkrieges wurde er jedoch als 17jähriger zur Ableistung seines Grundwehrdienstes eingezogen. Auf Antrag seiner verwitweten Mutter wurde er aber vom Wehrdienst befreit und arbeitete fortan auf dem elterlichen Hof.

Wie bereits erwähnt, wählte ihn die Wißkirchener Bevölkerung bereits als 29jährigen zum Bürgermeister. Aber aus dringenden familiären Gründen konnte er das Amt nicht antreten. 1938 heirate er Gertrud Flosdorf. 1939 wurde er zum Wehrdienst eingezogen, aber zur Bewirtschaftung des Hofes bald freigestellt. Hier hatte er mit polnischen Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern zu tun, die er so sozial behandelte, dass er von der örtlichen NSDAP verwarnt wurde.

Die Arbeit als Landwirt brachte es mit sich, dass Wilhelm Müller auch weiterhin Kontakt zu den jüdischen Viehhändlern hatte, von denen es ca. 30 allein in der Kreisstadt Euskirchen und der nahen Umgebung gab. Der „Westdeutsche Beobachter“ verunglimpfte diese Bauern, wie dies das folgende Beispiel vom 11. März 1935 beweist, in dem auch Jakob oder Alfred Seligmann eine Rolle spielen:


... der betreffende Großgrundbesitzer, Josef P... aus Billig, scheint sich an unserem nationalsozialistischen Grundsatz, keine Geschäfte mit Juden zu machen, wenig zu stören, im Gegenteil! - Anscheinend aus Opposition gegen die nationalsozialistische Anschauung läßt er den alten Talmud-Juden Seligmann aus Euskirchen noch dauernd bei sich ein- und ausgehen. Er sitzt mit ihm friedlich zusammen und scheint sich in der Gesellschaft dieses typischen Vertreters des auserwählten Volkes sehr wohl zu fühlen. Wir sagen uns los von einem derartigen sonderbaren Volksgenossen und stellen ihm anheim, seinen Eintritt in die Synagogengemeinde Euskirchen wahrzunehmen.

Dennoch hielt Wilhelm Müller an seiner Kameradschaft oder gar Freundschaft mit Alfred Seligmann fest. Dies spielte besonders in der Zeit zwischen 1936 und 1938 eine Rolle, als die drei jüdischen Seligmann-Haushalte keinen offiziellen Verdienst mehr hatten.

Maria MüllerEin kleiner Exkurs soll den familialen Hintergrund und die soziale Grundhaltung der Wißkirchener Familie Müller darstellen. Der Onkel, Heinrich Müller, war Steyler Pater und Professor. Die Tanten Odilie und Gertrud wirkten als Mère bei den Ursulinen und engagierten sich stark in diesem Orden. Eine weitere Tante von Wilhelm Müller war Maria Müller, die bis 1898 als Vorsteherin der ersten höheren Mädchenschule der Kreisstadt Euskirchen fungierte. Aus der „Höheren Töchterschule“ entwickelte sich das heutige Gymnasium Marienschule.

Für Euskirchener Mitbürger ist das weitere Schicksal der Pädagogin Maria Müller berichtenswert: Sie widmete sich in Köln dem Journalismus und erwarb 1919 den Verlag Theissing samt der Zeitschrift „Rheinischer Merkur". Maria Müller wirkte als Geschäftsführerin des St.-Josefs-Vereins GmbH Köln, gab die die Broschüre „Aufwärts" heraus und starb hoch betagt kurz vor Ende des 2.Weltkrieges.

Der Exkurs sollte aber an dieser Stelle noch vervollständigt werden. In meinen NEWS vom 14. März 2008 (Bitte genau an diese Stelle gehen !!!!!) gab es eine regionalhistorische Ergänzung bezüglich Maria Müller aus Wißkirchen:

Am 19. Februar wandte sich ein Mitglied der vom Regensburger Bischof Dr. Gerhard Ludwig Müller eingesetzten Historischen Kommission zur Bearbeitung der Causa Theresia Neumann (CThN) an mich und bat um Mitarbeit beim zurzeit laufenden Selig- und Heiligsprechungsprozess von Therese Neumann. Die bayerische Bauenmagd wurde weltweit durch ihre Stigmata bekannt.

Über die Website zur Geschichte des Gymnasiums Marienschule Euskirchen auf dieser regionalhistorischen Homepage stieß Toni Siegert als Mitarbeiter an der der Causa Theresia auf Informationen über Maria Müller, die Gründerin des einstigen Euskirchener Mädchengymnasiums. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sie nach ihrer pädagogischen Arbeit auch in kirchlichen Kreisen der Domstadt Köln als Verlegerin bekannt. In diesem Zusammenhang hatte sie Kontakt zu Therese Neumann (1898-1962), ein Umstand, der offenbar als zeitgeschichtliche Rahmeninformation nicht unwichtig ist. Maria Müller, gebürtig aus Wißkirchen, taucht 1930/31 wiederholt in den diesbezüglichen Akten auf, die zurzeit von der CThN begutachtet werden. Nur wenig war über ihre Tätigkeit aus der Zeit von 1898-1930 bekannt. In dieser Hinsicht kann die Euskirchener Stadthistorie etwas helfen.

Aus den Briefen von Alfred Seligmann an Wilhelm Müller

Meine Recherchen ergaben, dass Wilhelm Müller keineswegs ein kämpferischer Mensch war. Unauffällig schien er Konflikten aus dem Wege zu gehen, ließ sich aber offenbar nicht vereinnahmen. Die Art seiner Menschlichkeit und seine moralische Integrität charakterisieren ihn vielleicht am besten. Sein Engagement als Nachkriegsbürgermeister von Wißkirchen wird in einem Artikel der Kölner Stadt-Anzeigers vom 8. Januar 1959 nachgewiesen.

Die Briefe von Alfred Seligmann aus Bulawayo/Southern Rhodesia erwähnen an mehreren Stellen Wilhelm Müllers Gradlinigkeit und Hilfsbereitschaft. Weiterhin berichten sie über das Schicksal der jüdischen Flüchtlingsfamilie und deren Sorgen, einigermaßen erfolgreich ihre finanzielle Wiedergutmachung zu betreiben. Dies besorgte jedoch Wilhelm Müller, dessen Hilfsbereitschaft in den Briefen der ersten Jahrkriegsjahre deutlich erkennbar wird.

 

Brief vom 8. April 1946

Lieber Wilhelm!

Jetzt nach ungefähr 7 ½ Jahren ist es wieder erlaubt, mit Deutschland zu korrespondieren, und so soll der erste Brief an Dich und Deine Lieben gerichtet sein. Was ist in all den furchtbaren Jahren geschehen, Zerstörung und Morden, und was ist die Ernte? Armut und Elend. Ja, lieber Wilhelm, wir haben ja immer gesagt, diese Nazibande bringt der Welt nur Unglück und Verderben. Nun ist mein sehnlichster Wunsch, wieder mit alten guten Freunden und mit der alten Heimat in Briefwechsel zu kommen. Von meiner Schwester und Tante in der Commernerstraße 64 habe ich seit 1942 nichts mehr gehört; ich befürchte, dass sie wie alle anderen Euskirchener Juden nach Polen verschleppt und dort ermordet wurden. 1942 erfuhr ich durch Bekannte in America, dass mein alter Vater von einem Auto überfahren wurde und einige Tage später an den erlittenen Verletzungen gestorben ist. Wie mich das mitnahm, kannst Du Dir nicht vorstellen. 6000 Meilen entfernt konnte ich nicht an seinem Sterbebette weilen und ihm nicht das letzte Geleit geben.

Wie geht es Dir und allen Deinen Lieben? ( …) Mir, meiner lieben Frau und unserem Sohn Günther geht es gut und wir sind zufrieden. Ich betreibe eine Metzgerei hier und meine Frau hilft an der Kasse mit. Nun möchte ich Dich, lieber Wilhelm, um einen großen Gefallen bitten und ich hoffe, wenn es Dir möglich ist, folgendes für mich herauszufinden. Ich sage Dir schon im Voraus (…). Ich weiß ja nicht, wie die Menschen jetzt dort gesinnt sind, und so glaube ich, wenn dieselben nicht gut für uns Juden fühlen, in Deinem Interesse vorsichtig für mich herauszufinden.

Wer bewohnt das Haus meiner Tante Dinah (sic!/d.V.) Seligmann, Commernerstraße 64? Musste meine Tante das Haus vor ihrem Verlassen von Euskirchen zwangsweise verkaufen oder ist das Haus unverkauft geblieben? Was ist aus den wertvollen Möbeln und dem Hausinventar geworden? Besteht der jüdische Friedhof in Euskirchen oder ist derselbe zerstört? Wohnt (…) noch in meinem alten Haus Baumstraße 31? Das Haus war mein Eigentum, und als wir 1939 in Amsterdam/Holland waren, musste ich meinem Vater eine Vollmacht nach Euskirchen senden. Und wurde das Haus zu einem Spottpreis verkauft? Was ist mit dem Grundstück der ehemaligen Synagoge gemacht worden?

Von einem Bekannten in Johannesburg (Africa) erfuhr ich, da ß Alfred J(…) – Du hast doch oft Arbeitsochsen von ihm gekauft – wieder in Euskirchen sei. Wenn ja, sage ihm, er möchte mir umgehend per Luftpost schreiben (…). Durch Familie Stock aus Lommersum, die jetzt hier wohnen, erfuhr (…) ich, dass Ernst Rothschild bei Dir als Schweizer gearbeitet hat. Sein Schwager, Ernst Stock, bittet mich, Dich zu fragen, ob er lebt, wann er von Dir wegmusste und wohin er gekommen ist. Wir wissen, dass Du, lieber Wilhelm und Familie, alles versucht hast, ihm zu helfen und ihn zu schützen, aber es war ja auch für Dich eine gefährliche Sache gegenüber den Nazis (…).

Brief vom 28. Oktober 1946

Lieber Wilhelm!

 (…) Vergeblich warte ich auf eine Antwort auf meinen letzten Brief (…). Ich schickte Dir eine notarielle Bescheinigung, die besagte, dass Du, lieber Wilhelm, jeder Zeit ein Nazigegner warst und immer ein Judenfreund gewesen bist. Außerdem bat ich Dich, in den dortigen Zeitungen über den Verbleib meiner Tante Dinah Seligmann, Commernerstraße 64, aufzugeben (…). Bitte gehe zum besten Rechtsanwalt, der soll alles für mich erledigen (…). Vom Finanzamt Euskirchen erhielt ich ein Schreiben, dass das Haus meiner Tante Dinah zu 75% zerstört ist (…) Von meinem Grundstück Baumstraße 31 erwähnen die kein Wort (….). Der (…) schrieb mir auch, dass der… ihm gesagt hätte, dass er das Verkaufsrecht an …Grundstück hätte. Er hätte auch das Grundstück beim Amtsgericht auf seinen Namen eintragen lassen. Bitte sag Du, lieber Wilhelm, dass alles dies von ihm erfundener Schwindel ist und ich ihm (…)

 Brief vom 26. Januar 1947

Lieber Wilhelm!

Diese Woche erhielt ich Deinen Brief nebst Photographie von Dir und Deinen Lieben. Wie sehr ich mich gefreut habe, kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Du siehst auf dem Bilde prima und unverändert aus. Nun kann ich mich schon mal bildlich mit Dir unterhalten (…).

Ich habe mich fest entschlossen, sobald es eine Möglichkeit gibt, nach dort zu kommen, aber das wird vorerst auch nicht so leicht sein. Ein Bekannter von hier, der früher in Stolberg bei Aachen wohnte und dort eine Fabrik besaß, die ihm von den Nazis für einen Spottpreis weggenommen wurde, hat von hier seine Ausreisepapiere fertig und kann auch jederzeit nach hier zurück (…).
( …) Er schrieb mir, dass er Dich, lieber Wilhelm, auf dem Finanzamt getroffen hat. Es sei Euch dort gesagt worden, dass sich einige in Euskirchen bemühen, das Haus meiner Tante in der Commernerstraße 64 wieder aufzubauen, aber diese Gesellschaft passe Dir nicht. Ich überlasse es Dir, lieber Wilhelm, voll und ganz, denn ich weiß, dass Du es schon richtig machst.

(…) Ich hatte mich auch bei Alfred J(…) vor langer Zeit erkundigt über den Verbleib von Willi und Karl Sommer aus Kuchenheim. Wir waren sehr gut mit ihnen befreundet; was ist aus denen geworden? Sie hatten Quotennummern für Amerika. Sind sie noch vor Kriegsausbruch weggekommen? (…) Nun mein lieber Wilhelm, ich will für heute schließen. Grüße bitte Deine Lieben. Bleibt gesund und besten Dank für alles, was Du für mich getan hast und weiter tun wirst (…).

Brief vom 11. März 1947

Lieber Wilhelm!

(…) Wir möchten mal nach Deutschland kommen, um uns alles anzusehen und dort alles zu regeln. Aber hier bekommen Leute Briefe aus Deutschland, dass doch noch fast alles in Nazihänden sei und auch die … noch sehr groß seien. (…) Soeben lese ich in der Zeitung, dass es nun erlaubt ist, Pakete nach Deutschland zu senden. Was erlaubt ist zu senden, werde ich sehen. Übermorgen geht ein Paket an Dich (…).

Brief vom 24. März 1947

Lieber Wilhelm!

(…) Vor 6 Tagen habe ich Dir ein Paket mit 1000 Zigaretten, 2 Pfund Bonbons, eine Dose Wiener Würstchen, zwei Päckchen Jelly, einen Mantel, ein Röckchen, Pullover und Mütze geschickt und hoffe, dass alles ankommen wird. Der Mantel ist von unserem Sohn Günther. Ich hoffe, dass Deine Frau die Sachen für Eure Kinder verwerten kann. Es ist nur erlaubt, getragene Sachen zu senden und nur Sachen, die hier fabriziert werden (…) Vor zwei Tagen hat mir Josef F(…) geschrieben und 3 Fotos geschickt. Eines von der Frontansicht, ein anderes von der Hofansicht des Hauses Commernerstraße 64. Das dritte Bild zeigt nur den Schutt unseres eigenen Hauses in der Baumstraße 31. So schlimm verwüstet hätte ich mir alles nicht vorgestellt.

Brief vom 30. April 1947

Lieber Wilhelm!

(…) dass Tante Dinah Seligmann kurz bevor Sie Euskirchen verlassen musste, ihm noch 1500 Mark gegeben habe, die er ….bei der Städtischen Sparkasse eingezahlt habe. Bitte suche doch mal den …auf. Ich habe ihm selber geschrieben und warte auf seine Antwort (…). Frau … fragte an, ob ich ihr nicht mein zerstörtes Grundstück auf der Baumstraße 31 verkaufen wolle. Ich habe ihr hierauf geantwortet, dass ich vorerst nicht daran denke, von meinem dortigen Vermögen überhaupt etwas zu verkaufen (…).

Ich habe soeben Herrn Rechtsanwalt … gebeten, so bald wie möglich die Todeserklärungen meiner Tante Dinah und Schwester Sibilla zu senden, da ich selbige dringend benötige und täglich darauf warte. Außerdem teile ihm mit, dass er doch das Haus Baumstraße 12, das meinem Vater unter Druck und Zwang für nur 6000 Mark abgezwungen wurde, bei der zuständigen Stelle beim Finanzamt für mich anmelden soll(…).

 Freunde von uns erhalten öfters Briefe aus Deutschland, woraus hervorgeht, dass die Nazis noch nicht niedergekämpft seien und der Antisemitismus gegen die paar übriggebliebenen Juden nicht besser geworden sei. (…) Ist es Wahrheit, dass auch in Kleinstädten ebenso große Hungersnot herrscht wie in der Großstadt? Gibt es ziemlich viel Vieh in Deutschland und wer sind die Viehhändler im Bezirk Euskirchen (…).

 Dein Freund Alfred Seligmann

Brief vom 8. August 1947

Lieber Wilhelm, liebe Frau Müller und liebe Kinder!

Dank (…) besonders den lieben Kindern für die schönen Zeilen und Bildchen. Was habt Ihr für prachtvolle Mädels, einfach süß! Der liebe Gott möge Euch alle nur gesund erhalten (…) und daß es nie mehr so ein Leid über Euch kommen soll wie Hitler es gebracht hat. Wie habe ich mich gefreut, dass Ihr das Paket nach langer Zeit doch noch erhalten habt. Nun werde ich Euch Lieben jeden Monat ein solches Paket senden, denn ich habe doch von meiner Seite keinen Menschen mehr auf der Welt und ich bin glücklich, Euch eine kleine Freude bereiten zu können.

(…) Es tut mir sehr leid, dass Ihr nach solch strengem Winter nun solch einen heißen und trockenen Winter durchzumachen hattet, alle die schwere Arbeit und Mühe, die Felder zu bestellen und doch solch traurige Missernte. Aber Kopf hoch, Du weißt doch lieber Wilhelm, nach den sieben mageren Jahren kommen wieder sieben fette. Vielen Schweinehunden gönne ich das ja, aber leider betrifft es Euch ja dann auch.

(…) Ich habe ein neues Haus gekauft mit Baustelle. Hier baue ich eine neue Metzgerei (in Birelenough Road, Bulawayo/d.V.), die in zwei Monaten fertig ist (…).

Brief vom 11. August 1947

Lieber Wilhelm!

(…) Dein Brief war über 2 Monate unterwegs. (…) Fräulein …vom Annaturmplatz schrieb mir, dass Herr… ihr gesagt hätte, dass er mir (wegen der damals zur Verfügung gestellten 1500 Mark/d.V.) schreiben würde, aber bis jetzt habe ich noch keinen Brief erhalten. Hast Du, lieber Wilhelm, ihn mal aufgesucht und etwas von ihm erfahren können? (…) Von dem Rechtsanwalt …höre ich überhaupt nichts mehr. Hat er bezüglich einer Todeserklärung meiner Tante bis jetzt nichts tun können?

(…) Von …hatte ich auch einen Brief erhalten. Er teilte mir mit, dass sein Neubau - auf dem Grundstück von (…) bald fertig sei. Dass das Grundstück aber dem … gehört, das hat er natürlich nicht erwähnt. In 2 bis 3 Monaten will er Einzug halten. Ich verstehe sein Schreiben nicht recht; aber es sieht mir so aus, dass er sich als Eigentümer des Grundstückes betrachtet. Ich bitte Dich, lieber Wilhelm, mal festzustellen, ob das Finanzamt oder die Jüdische Vermögensverwaltung (…). Ich bin in Unruhe, dass in meiner Sache etwas versäumt werden könnte(…).

Brief vom19. August 1965 (!!)

Brief vom 19. August 1965

Brief vom 19. August 1965: „Aber wie Ihr seht, werden wir Euch nie vergessen, zumal was Ihr Gutes für viele Leute in der bedrängten Zeit getan habt.“

Lieber Wilhelm!

(…) Wie war oder ist die Ernte dieses Jahr bei Euch? Ihr hattet doch sehr viel Regen. Ich hoffe, dass Ihr gute Erträge hattet und die Zuckerrübenernte auch gut sein wird. Hier haben wir wieder ein sehr schlechtes Jahr und kaum Regen gehabt. Das ganze Land sieht fast aus wie eine Wüste. Wasser- und Grasmangel für das Vieh. Die meisten Farmer waren gezwungen, infolge dessen ihre Viehherden um ungefähr 50% zu verkaufen. (…) Kaum Maiserträge, die Hauptnahrung für die Schwarzen. So hat die Regierung viel zu tun, um die Schwarzen am Leben zu erhalten. Was sagst Du, lieber Wilhelm, zu dem Negeraufstand in Los Angeles und Chicago sowie dem Krieg in Vietnam? Überall Geplänkel in vielen Ländern der Welt. Hoffen wir nur, dass die Menschen vor einem neuen Weltkrieg bewahrt bleiben, denn mit den heutigen Mordwaffen würde nicht viel auf der Erde übrig bleiben.

(…) In unserem Sohn Günther habe ich eine große Hilfe. Er ist unberufen ein tüchtiger Mann, nimmt mir fast alle größeren Arbeiten ab und im Ein- und Verkauf ist er schon perfekt. Allerdings bin ich fast täglich unterwegs, denn zu Hause sitzen und nichts tun kann ich eben nicht(…).

(…) Nun liebe Müllers, entschuldigt, dass (ich) erst heute schreibe, aber wie Ihr seht, werden wir Euch nie vergessen, zumal was Ihr Gutes für viele Leute in der bedrängten Zeit getan habt. Wir hoffen, uns doch noch mal wiederzusehen (…).

Grete und Alfred Seligmann

Diesem Brief vom 19. August 1965 gingen weitere Korrespondenzen voraus. Wilhelm Müller hatte inzwischen die gesamte Wiedergutmachung bzw. die finanziellen Transaktionen bezüglich der Rückerstattung jüdischen Besitzes für Alfred Seligmann geregelt. In den Jahren 1956 und 1963 gab es auch ein persönliches Wiedersehen in Wißkirchen, so dass sich der Brief vom 19. August 1965 inhaltlich von den früheren deutlich unterscheidet. Die Freundschaft hielt weiterhin an. Es bestand auch ein lockerer Kontakt zwischen den Kindern von Wilhelm Müller und Alfred Seligmann. Agnes Remer erinnert sich an das Treffen der Familien in den 60er Jahren. Hedwig Müller verh. Vornhagen hat bis heute nicht das großzügige Geschenk des jüdischen Viehhändlers und Metzgers vergessen: sie erhielt als kleines Mädchen ein Reitpferd, das ihr im Auftrag von Alfred Seligmann auf den Bauernhof gebracht wurde.

Wilhelm Müller, Landwirt und ehemaliger Bürgermeister von Wißkirchen, starb am 29. November 1973 – zwei Jahre vor seinem jüdischen Freund Alfred. Dieser hatte in einem Brief vom 29.Dezember 1973 den Hinterbliebenen kondoliert:

Brief vom 29. Dezember 1973

Liebe Frau Müller!

Von … in Euskirchen erhielten wir Brief sowie Todesanzeige, dass der liebe Wilhelm leider nicht mehr an Ihrer Seite weilt. Zu dem großen Verlust, der Sie und alle Ihre Lieben getroffen hat, nehmen Sie unsere aufrichtige Teilnahme entgegen(…). Jeder, der den lieben Wilhelm kannte, muß bestätigen, dass er ein hochgeachteter Mann war, zu allen aufrichtig, hilfreich und voller Güte. Ich habe meinen besten Freund verloren, werde ihn nie vergessen und sein Andenken stets in Ehren halten (…).

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