Im Jahre 1932 gründeten die deutschen Juden in Palästina eine Selbsthilfeorganisation mit Namen „Hitachdut Olej Germania“. Die daraus entstandene Vereinigung „Irgun Olei Merkas Europa“ existiert noch heute und hat auch eine eigene Internetseite. Ihr Mitteilungsblatt MB Yakinton erscheint heute in deutscher und hebräischer Sprache. Die Beiträge sind anspruchsvoll und äußern sich zum aktuellen Zeitgeschehen im In- und Ausland. Buchbesprechungen, Veranstaltungshinweise und Kulturkritiken richten sich weiterhin an die deutschen Einwanderer aus Mitteleuropa, die sogenannten Jeckes, die ich bereits in einer Buchbesprechung auf meiner regionalhistorischen Homepage vorgestellt habe.
Vor einiger Zeit habe ich mich einmal mit der deutschen Sprache im Vokabular des Israelis befasst, aber rückblickend finde ich doch, dass die Artikel der „MV“ aus den 1930er Jahren, die sich mit der Vita der eingewanderten deutschen Juden befassen, vertraut und fast familiär wirken. Andererseits würdigen sie bereits die Lebensleistung emigrierter deutscher Juden, die ansonsten in Palästina vergessen worden wäre. Im deutschsprachigen „Mitteilungsblatt“ werden mehrere jüdische Persönlichkeiten bedacht, die aus unserer Region stammen. Zu ihnen zählt u. a. Julius Kaufmann (1887–1955) aus Eschweiler, dem Harry Epstein am 3. Juni 1947 zum 60. Lebensjahr gratuliert und sein bisheriges Leben unter besonderen Aspekten würdigt.
Im Jahre 2004 publizierte der Eschweiler Geschichtsverein, dem ich auch die persönlichen Fotos verdanke, ein Buch mit dem Titel „Vom Rheinland ins Heilige Land - Erinnerungen von Julius Kaufmann-Kadmon aus Eschweiler 1887-1955“. Es berichtet vom Leben des in Eschweiler geborenen Julius Kaufmann aus der jüdischen Familie Kaufmann, die ihre Wurzeln in Langerwehe und Weisweiler hat, 1880 nach Eschweiler zog und das Herrenbekleidungsgeschäft Gebrüder Kaufmann führte. Julius Kaufmann engagierte sich in der zionistischen Bewegung und gab die jüdische Monatsschrift Die Freistatt heraus, die als „alljüdische Revue für jüdische Kultur und Politik“ firmierte. Die Goethe Universität in Frankfurt am Main beschreibt die 15 erschienenen Monatshefte im Compact Memory:
Als Organ der „Jüdischen Renaissance“ versuchte die „Freistatt" - in Abgrenzung zum Zionismus - das in zahlreiche Fraktionen zersplitterte Westjudentum zu vereinen. Im Sinn ihres „alljüdischen“ Programms sah die Zeitschrift vor allem den Einschluss der Lebenswelt des Ostjudentums als unerlässlich an. „Die Freistatt" betrachtete sich als Forum für die Diskussion aller literarischen, historischen, philosophischen, religiösen, politischen und soziologischen Fragestellungen im Bereich des Judentums. Besondere Aufmerksamkeit wurde den Kulturleistungen des Ostjudentums sowie der Kritik des offiziellen Zionismus gewidmet.
Wer sich exemplarisch mit der Programmatik der Zeitschrift „Die Freistatt" [Jg. 1, Heft 1, April 1913] befassen möchte, sollte sich mit der Selbstdarstellung des Herausgebers Julius Kaufmann und der Redaktion auseinandersetzen.
Als Freiwilliger nahm der aus Eschweiler stammende Julius Kaufmann am Ersten Weltkrieg teil. Ein Foto zeigt ihn im März 1915, kurz nach der Hochzeit mit Else geb. Weisbecker, ein anderes im Jahre 1926 in Aachen mit seinem ältesten Sohn Fritz-Naftali.
1934 wanderte die Familie Kaufmann in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, das heutige Israel, aus, wo Julius den Namen Kadmon annahm. Das vom Eschweiler Geschichtsverein publizierte Buch „Vom Rheinland ins Heilige Land“ ist sowohl ein bedeutendes Zeugnis der deutsch-jüdischen Zeitgeschichte als auch eine wichtige Quelle zur Lokalgeschichte Eschweilers.
Freundschaftlich und dennoch recht respektvoll wirkt der Geburtstagsgruß von Harry Epstein, der am 3. Juni 1947 im „Mitteilungsblatt Irgun Olei Merkas Europa“ erschien:
Julius Kaufmann SECHZIG JAHRE ALT
In dem westlichsten Winkel des Rheinlands, da, wo es an Holland und Belgien grenzt, in dem katholischen Städtchen Eschweiler, ist Julius Kaufmann geboren und dort waren seine Vorfahren seit Generationen ansässig. Die Schicht der Treue zum Judentum, die diese eingesessenen Juden auf dem Lande und in den kleinen Städten schützend umgab, war nicht so firnisdünn wie in den großen Städten, wohin die wirtschaftliche Anziehungskraft bald zu Wohlstand und Einfluss gelangende Juden aus andern Teilen Deutschlands, besonders aus dem benachbarten, stark assimilierten Westfalen getrieben hatte.
Die das jüdische Gesetz gewissenhaft respektierenden Landjuden hatten die Memor-Bücher ihrer alten Gemeinden, die von den Kreuzzügen, jüdischem Leid und Heldenmut berichteten, noch nicht ganz vergessen. Die in diesen Häusern aufwachsende Jugend war der zionistischen Bewegung, die im Rheinland von Köln ihren Ausgang nahm, zugänglich. Die ersten von Deutschland nach Erez Jisrael Ausgewanderten waren Juden aus rheinischen Landstädtchen. Auch Julius Kaufmann wie sein wenig jüngerer Bruder Fritz Mordechai wurde von der zionistischen Idee ergriffen. Sie wurden am Rhein ihre eifrigsten Verkünder und sammelten eine Schar gleichaltriger Freunde um sich.
Aber nach einigen Jahren trat Fritz Mordechai Kaufmann aus der Zionistischen Organisation aus und wandte sich mit Leidenschaft dem östlichen Judentum zu, in dem allein ihm das jüdische Volk verkörpert schien. Mit Ernst und Strenge ging er daran, es zu ergründen und zu erforschen, lernte Jiddisch und versenkte sich in jüdische Dichtung und jüdische Musik. Unter dem Einfluss Mathias Achers glaubte er, dass sich das Judentum in der Golah organisch entwickle. So schuf er den Begriff des „Alljudentums" und bekämpfte mit Schärfe die „orientalische Luxusgründung" und — trotz seiner Kenntnis der hebräischen Sprache — den „Hebräer-Paroxysmus". Im April 1913 wurde in Eschweiler zur Förderung seiner Ideen die „Alljüdische Revue Die Freistatt" gegründet, als deren Herausgeber Julius Kaufmann fungierte.
Diese Monatsschrift enthielt neben heftiger Kritik am Zionismus, dem Volksfremdheit und Maskilismus vorgeworfen wurde, wichtiges Material über die Wirtschaft und Kultur der Juden. Sie ging 1914 ein, als Julius und Fritz Mordechai in den Krieg ziehen mussten. Im Gegensatz zu seinem Bruder blieb Julius dem Zionismus unverändert und tätig treu. Die wuchtigen Gegenschläge, die das „Alljudentum" von zionistischer Seite, insbesondere in der „Welt", erfuhr, trafen ihn nicht. Sie waren auch häufig unberechtigt. Wenn auf dem XI. Kongress (1913) höhnisch darauf hingewiesen wurde, dass die „Freistatt“ gerade in Westdeutschland erschiene, wo man am weitesten von dem unbekannten Osten entfernt sei, - so darf gesagt werden, dass in diesem kleinen exterritorialen Gebiet der Jüdischkeit, das die Kaufmanns in fremder Umgebung geschaffen hatten, tiefere Kenntnis des Ostjudentums zu finden war als bei ihren Kritikern.
Die Bestrebungen dieser jungen Menschen haben, abgesehen von den wertvollen Schriften Fritz Mordechais über jüdisch-kulturelle Themen, vor allem das jüdische Volkslied, praktischen Einfluss ausgeübt auf die jüdische Volksarbeit in Deutschland, so auf zwei von Zionisten gegründete Einrichtungen, das Jüdische Volksheim in Berlin und die jüdischen Arbeitsämter in Deutschland. Gegen Ende seines kurzen, reichen Lebens wandte sich Fritz Mordechai dem Zionismus von neuem zu und die sich zärtlich liebenden Brüder waren wieder eines Sinnes.
Julius und Else Kaufmann-Kadmon
(Jerusalem 1952)Julius Kaufmann-Kadmon mit seinem Enkel Guni Kadmoni (Jerusalem 1955)
Das Wesen Julius Kaufmanns, der am 7. Juni sechzig Jahre alt wird, offenbart sich in seiner Erzählerkunst. Seine Geschichten und Witze, eigene und fremde, wer weiss woher ihm zugeflogene, sind immer warmherzig, heiter, befreiend, nie ätzend, verletzend, frivol, nie Grosses verkleinernd, nie ohne ernsten Hintergrund. Der Witz dieses urwüchsigen Juden und alten Zionisten ist rheinischer Herkunft. Herbert Eulenberg hat einmal dem Witz eines andern Juden aus den Rheinlanden, Heinrich Heine aus Düsseldorf, den jüdischen Charakter abgesprochen und ihn als rheinischen Humor reklamieren wollen. Das war ein Irrtum.
Die Selbstpersiflage und Ironie, der Sarkasmus, die Respektlosigkeit Heines sind das Produkt seiner jüdischen Zerrissenheit. Die Anekdoten Kaufmanns sind knapp und wortkarg, sind keine „ausgeputzte Majsselach", die den Faden verlieren und allerlei Umwege machen, "van et Hoeltke op et Stoeckske" springen oder ritardando die Spannung zu erhöhen suchen. Er geht gerade aufs los und schlägt zu. Wenn er monoton, etwas stockend erzählt, bleibt sein Gesicht so unbeweglich wie das der Holzfigur des Tünnes im Kölner Hänneschen Theater. Aber der Hörer schüttelt sich vor Lachen. Das ist die unnachahmliche Gabe eines Mannes, der sich sieht und hört und die Menschen liebt. Wer ihm nicht dafür danken ?