Im November 2008 gab es vielfältige Beispiele deutscher Erinnerungskultur. 70 Jahre nach der „Reichskristallnacht“ gedachte man überall der jüdischen Opfer, deren Besitz und Leben während der ersten groß angelegten Verfolgung durch fanatische Nationalsozialisten gefährdet oder gar vernichtet wurde. Schmerzlich wurden wir erneut daran erinnert, was alles während der „Reichskristallnacht“ bzw. beim „Novemberpogrom“ oder in der „Reichspogromnacht“ geschah. Mit Recht war jede Stadt oder Gemeinde daran interessiert, den Abscheu gegen die Verbrechen in vielfältiger Form auszudrücken. Das geschah mit beeindruckenden Veranstaltungen. Die zentrale Veranstaltung in Euskirchen war wohl am 3. November 2008 in der Comedia auf der Münstereifelerstraße.
Anderswo erinnerte man an den 9./10. November 1938 mit Kranzniederlegungen, Einweihungen von Gedenksteinen und Mahnmalen, Fackelzügen, der Verlegung von „Stolpersteinen“, speziellen Veranstaltungen und der Edition von diesbezüglichen Dokumentationen und Büchern. In diesem Zusammenhang interessierte man sich auch für die damaligen Ereignisse in unserer Region, die in dem Buch „REICHSKRISTALLNACHT“. Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande. – Gerichtsakten und Zeugenaussagen am Beispiel der Eifel und Voreifel umfangreich dokumentiert wurden. Hierzu gab es eine Anzahl von Rezensionen. Einige wurden bereits auf diese Homepage publiziert:
TRIBÜNE, Fachzeitschrift zum Verständnis des Judentums:
Rezension des Buches „REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande durch die Fachzeitschrift TRIBÜNE: „Kenntnisreich und spannend“
haGalil. com - Die weltweit größte jüdische Website in deutscher Sprache:
„REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande – Gerichtsakten und Zeugenaussagen am Beispiel der Eifel und Voreifel
Neu ist eine Besprechung des Fritz Bauer Instituts Frankfurt in Assoziation mit der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Auch gewisse kritische Anmerkungen sind natürlich im folgenden Abdruck gelassen worden.
Fritz Bauer Institut
Geschichte und
Wirkung des Holocaust
Rezensionen NOVEMBERPOGROME 1938
Rezensionen: Einsicht 01, Frühjahr 2009
Hans-Dieter Arntz
»Reichskristallnacht«. Der
Novemberpogrom 1938 auf dem
Lande. Gerichtsakten und
Zeugenaussagen am Beispiel der
Eifel und Voreifel
Aachen: Helios Verlag, 2008, 196 S.,
€ 29,90
Eine regionalgeschichtlich orientierte Darstellung der Novemberpogrome stammt von Hans-Dieter Arntz, der bei der vorliegenden Dokumentation auf jahrzehntelange Forschungen in der Eifel und Voreifel zurückgreifen konnte. Seine sehr detaillierten Beschreibungen, die wesentlich auf Gerichtsakten und von ihm gesammelten Zeugenaussagen basieren, werden mit ausführlichen Beschreibungen der Geschichte von Münstereifel, Zülpich und Sinzenich, Euskirchen und Flamersheim, Weilerswist und Lommersum, Mechernich und Kommern, Kall, Gemünd, Hellenthal und Blumenthal verbunden.
Eingegangen wird auch auf die Lebenswege der jüdischen Bevölkerung nach den Pogromen - Deportationen in das Konzentrationslager Sachsenhausen und in den 1940er Jahren in die Vernichtungslager. In mehreren Fällen ist es Arntz gelungen, die Spuren von emigrierten bzw. geflüchteten Personen zu finden und deren Erinnerungen aufzuschreiben. Insgesamt gesehen hat Arntz auch eine regionale Geschichte des Judentums in der Eifel und Voreifel seit dem Mittelalter verfasst, welche Kontinuitäten des Antisemitismus aufweist. Die im Mittelpunkt der reichhaltig bebilderten und mit vielen Dokumenten angereicherten Darstellung stehenden Novemberpogrome 19384 beendeten das jüdische Leben in der Region.
Für die präzisen Beschreibungen der Pogrome konnten auch Unterlagen über 1938/39 durchgeführte Prozesse zum Beispiel wegen Diebstahl und Plünderungen herangezogen werden. Die strafrechtliche Verfolgung ab 1945 ging von anonymen Anzeigen bei einer Staatsanwaltschaft aus, von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (Münstereifel) oder von den ins Ausland geflüchteten Juden. Sehr auffällig sind die in den Aussagen und Gerichtsurteilen häufig auftauchenden »auswärtigen Randalierer« und »unbekannten Brandstifter« und die vielen an den »Judenaktionen« teilnehmenden Kinder und Jugendlichen.
Oft waren die Ausschreitungen brutaler als in vielen rheinischen Großstädten. In Mechernich zum Beispiel wurden mehr als zehn Häuser »systematisch zerstört und eingerissen« (S. 5). Der dafür verantwortliche NSDAP-Ortsgruppenleiter wurde nach 1945 freigesprochen, weil er angeblich aus baupolitischen Gründen gehandelt habe. Zu Recht kritisiert Arntz mehrfach die »manchmal nicht mehr nachvollziehbare Rechtsprechung« (S. 5). Auch im Fall der Zülpicher Synagoge soll die Brandlegung durch »auswärtige Horden« (S. 35) erfolgt sein, wobei »einheimische Fanatiker« (S. 34) dies vorbereiteten. Die nicht an den Ausschreitungen beteiligte Bevölkerung sah in der Regel zu. Eine Ausnahme ist der Sinzenicher Bauer Heukens, der mit einer Mistgabel in der Hand den Abtransport einer Mutter und deren Tochter verhinderte: »Wenn ihr die haben wollt, dann müsst ihr mich erst totschlagen.« (S. 33) Ärgerlich sind zahlreiche Wiederholungen, die vermutlich mit dem Kompilationscharakter des Bandes zu erklären sind. Zudem wird der Lesefluss durch Anonymisierungen der Täter gestört. Im Gegensatz dazu werden die vollen Namen der Verfolgten in der Regel genannt. In diesem Zusammenhang sei an die Kritik von Monika Richarz erinnert: »Die Beleuchtung der Opfer ermöglicht das Verdunkeln der Täter«. Irritationen haben auch die selbstreferentiellen Verweise ausgelöst, die ein Lektorat hätte verhindern müssen. Insgesamt gesehen ist das Buch äußerst informativ.
Kurt Schilde, Siegen