Foto der Euskirchener „Reichskristallnacht“ als Cartoon –
Ist der sogenannte „Fotorealismus“ moderner Comics tatsächlich ein „historischer Königsweg“?

von Hans-Dieter Arntz
20.09.2008

Unter der Überschrift „Historische Regionalliteratur in Comics – Eine eigenartige Form der Beachtung“  wunderte ich mich in meinen News vom 21. Juni 2008, wieso einige meiner Bücher neuerdings als Vorlage für eine offenbar immer beliebter werdende Form von Cartoon und sogenannten „Fotorealismus“ dienen. Eigentlich freut sich ja jeder Autor, wenn seine Publikationen beachtet oder irgendwie zur Kenntnis genommen werden. Das gilt im Besonderen für Beiträge zur historischen Regionalliteratur. Diese sollte ja  in einer überschaubaren Region an Vergangenes erinnern, das ansonsten in der Hektik des schnelllebigen Makrokosmos verloren geht. Aber auch mein neues, gerade im Buchhandel erschienenes Buch „REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 erhielt dieselbe Aufmerksamkeit. Augenfällig ist erneut die zeichnerische Wiedergabe eines weiteren historischen Fotos:

 

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reichskristallnacht titel
Abdruck in Frankfurter Allgemeine Zeitung,Seite 33,
vom 25. Juli 2008
Titelbild des neu erschienenen Buches von Hans-Dieter Arntz: „REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande

 

Seit 1978 publiziere ich dieses Bild, das sich mit anderen auf einem noch nicht entwickelten Film befand, der anonym 1945 in den Briefkasten der provisorischen Euskirchener Stadtverwaltung geworfen worden war. Das Foto wurde am 10. November gegen 14 Uhr gemacht und zeigt die ersten Ereignisse anlässlich der „Reichskristallnacht“ in der Kreisstadt. Die Bevölkerung von Euskirchen wird ungehindert Zeuge der Zerstörung und Inbrandsetzung der Synagoge auf der Annaturmstraße. Eine bis ins Detail identische Zeichnung  erschien am 25. Juli 2008 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und wurde von den Redakteuren Dietmar Dath und Andreas Platthaus unter der Überschrift „Fotorealismus als historischer Königsweg“ publiziert.

Ehe ich mich zu dieser Form der historischen Darstellung äußere und die Frage tangiere, ob grundsätzlich auch Nationalsozialismus und  Holocaust  als Cartoon und Comic ins Bewusstsein gebracht werden sollen, möchte ich einige Beispiele anführen, in denen meine eigenen Bücher  diesbezüglich Verwendung fanden. Die Leser meiner Homepage www.hans-dieter-arntz.de wissen, dass ich  hier den Schwerpunkt auf unsere jüngste Vergangenheit lege:

 

Geschichte des Judentums in der Eifel und Voreifel
Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg in der Eifel und Voreifel
Regionalhistorische Beiträge zur Geschichte der Eifel und Voreifel

 

Durch Zufall stellte ich vor einigen Jahren fest, dass mehrere historische Fotos aus meinen ersten Büchern offenbar als Vorlage für einen Comic-Band dienten. Im Dezember 1992 gab der Carlsen Verlag in Hamburg den Cartoon-Band „Die zerbrochene Zeit“ von Warnauts-Raives heraus, in dem einige Fotos aus meinen in der Zeit zwischen 1984 und 1986 publizierten Büchern zeichnerisch übernommen wurden. Schon im Jahre vorher war diese Publikation unter dem Titel „L'Innocente“ bei Casterman in Tournai/Belgien in französischer Sprache erschienen. Nur einige Beispiele möchte ich gegenüberstellen, ohne zusätzlich Textstellen anzuführen.

 

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(l.) Titelbild des Buches Ordensburg Vogelsang 1934-1945 – Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich
(r.)  Comic: Seite 6

 

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(l.) Seite 477 des Buches Kriegsende 1944/1945 – Zwischen Ardennen und Rhein
(r.) Comic Seite 16

 

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(l.) Titelbild des Buches Kriegsende 1944/1945 – Zwischen Ardennen und Rhein
(r.) Comic Seite 16

 

Die vorläufige Antwort auf die Frage, ob die Darstellung unserer jüngsten Vergangenheit in Form von Comic and Cartoon überhaupt möglich ist, erhielt ich im Jahre 1993, als ich die 2. unveränderte Auflage des „Hitler-Comic“ in der Hand hielt, die vom Carlsen Verlag in Hamburg publiziert wurde. Die Zeichnungen stammten von Dieter Kalenbach, der Text sowie die Sprechblasen von Friedemann Bedürftig. Die Zeitung Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt sprach sich damals positiv aus und resümierte:

Nichts, was unter veränderten Bedingungen sich nicht doch vergleichbar wiederholen könnte - diese Lehre spricht aus dem »Hitler«-Comic. Sie ist so aktuell wie manche Nebentöne, mit denen jetzt wieder das Wort Deutschland ausgesprochen wird. Womöglich kommt dieser »Hitler« gerade zur rechten Zeit.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte nun am 25. Juli 2008 das neue Heft des 1956 geborenen Kanadiers Dave Sim vor, der mit einer ähnlichen Publikation „Judenhass“ die Frage aufwirft, ob man die Shoa als Comic darstellen kann: Ja, offensichtlich man kann! Zumindest macht er es vor.

Nicht „in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938“, wie es die FAZ schreibt, sondern am 10. November nachmittags brannte die Euskirchener Synagoge. Vor den akribisch nach der historischen Aufnahme gestalteten Hintergrund setzt Dave Sim ein Zitat Martin Luthers aus dessen Schrift „Über die Juden und ihre Lügen“. In „Glamourpuss“, einer anderen Serie, kopiert der Zeichner eigenhändig fünf Einzelbilder aus der Serie „Rip Kirby“, die ursprünglich von Alex Raymond und dessen Schüler John Prentice stammen. In den Sprechblasen erläutert Sim deren Prinzipien des „fotorealistischen“ Comics. Die in der FAZ veröffentlichen Beispiele stammen von Aardvark-Vanaheim.

 

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Der Redakteur Dietmar Dath stellt das Heft „Judenhass“ von Dave Sim recht kritisch dar und  weist bereits einleitend auf die Didaktik und Struktur der Publikation hin. Grundsätzlich stellt er „Formstrenge“  einer potenziellen „Kitschgefahr“ gegenüber und erläutert einleitend:

Bereits ganz am Anfang des Heftes gibt es eine Doppelseite, die berühmte Namen der Comic-Welt, von Jack Kirby bis Will Eisner, einem Bild von Gefangenen in der Schlafbaracke gegenüberstellt. Der Text informiert die Leser dabei nüchtern dar­über, dass „das einzige Verbrechen, für welches die Männer, die Sie hier sehen, und Millionen anderer Männer und Frau­en und Kinder" in den Lagern eingesperrt, gequält und getötet wurden, darin besteht, (…) jüdische El­tern hatten. Pogrombilder, Leichenbilder, daneben Köpfe der Kultur, der Staats­kunst und Religion des Abendlandes - Lu­thers Gesicht und seine hässlichsten Sät­ze, T. S. Eliots Feststellung vom 10. Mai 1940, die Juden gehörten zu den „Mäch­ten des Bösen", die forensisch-blasierte Eiseskälte, mit der Chamberlain ein Bonmot zur Sozialgeschichtsschreibung bei­steuert: „No doubt jews aren't a lovable people - I don't care about them myself. Bul that is not sufficient to explain the pogrom.

Warum aber die Gesamtüberschrift des FAZ-Artikels „Fotorealismus als historischer Königsweg“ den Kern der gesamten Problematik erfassen soll, bleibt mir unklar. Bei Dave Sim werden Zeugen und Überlebende zitiert, deren Aussagen gerade noch in die obligatorischen Sprechblasen hineinpassen. So einfach lässt sich Rassismus und Holocaust dezimieren! Die den Fotos nachgezeichneten Bilder scheinen viele Aussagen zu verifizieren, zumal manche Fotos zur Standardillustration deutscher Geschichtsbücher gehören und meiner Ansicht nach daher großen Wiedererkennungswert haben. Sollte der Inhalt geschichtswissenschaftlich im richtigen Kontext stehen, dann könnte der  sogenannte „Fotorealismus“ durchaus informierenden Charakter haben, denn aus meiner 40jährigen pädagogischen Tätigkeit weiß ich selber, dass für Schüler Comics attraktiver als Lehrbücher sind. Insofern dürfte meiner Meinung nach grundsätzlich nicht viel gegen  unorthodoxe Erinnerungs-  und Belehrungsversuche einzuwenden sein. Durchaus richtig jedoch moniert der FAZ-Redakteur Dietmar Dath:

Der Eindruck ungeheurer, mitunter irritierend kulinarisch arrangierter Einzelheitenfülle wird dabei gerade nicht auf dem Weg der Anhäufung, sondern durch gezieltes Weglassen erzielt: Sim bearbeitet seine Abbildungs­quellen so, dass nur gerade noch die De­tailmenge übrig bleibt, die sich hochauflö­send anfühlt - eine Handvoll Linien wäre zu grob, hyperfeine Körnung aber ließe das Gezeigte nicht mehr als abzählbare Menge von Bildmerkmalen erfassen. Sim spleißt seine Folien zu Filamenten auf und behandelt diese dann als Elemente von sehr bewusst erstellten Verknüpfun­gen und Montagen.

Das wirkt, als wäre sein Verhältnis zum Filtern, Reinigen, zur Bearbeitung eine ebenso hilflose wie aufrichtige und höchst ehrenwerte Antwort auf das ethische Erzählproblem „Wie berichte ich vom Massenmord?". Denn sage oder zeige ich: „Da ist ein Mensch getötet wor­den", dann mache ich aus dem Unbe­schreiblichen einen Unfall oder ein Krimi­naldelikt; sage oder zeige ich aber: …Da sind unzählige Menschen getötet worden", dann zerreiße ich, weil so etwas nicht mehr unmittelbar vorstellbar ist. die Membran der moralischen Intuition, durch die das Bewusstsein meines Publikums Fakten wie die von der Juden­vernichtung aufnehmen will, um sie zu bewerten.

Der FAZ-Redakteur Andreas Platthaus entwickelt anschließend in einem weiteren Beitrag eine eigene Position. Er stellt einleitend fest, dass Dave Sim in einer neuen Heftreihe „Glamourpuss“ ein „brisantes ästhetisches Programm entwickelt, das die Rechtfertigung für die künstlerischen Entscheidungen in `JUDENHASS´ bietet.“ Er bezeichnet den Kanadier als „großen Bildtheoretiker“ und weist auf dessen berühmte, monatlich erscheinende Comic-Serie „Cerebus“ hin. Dabei scheint mir die Assoziation vom „wehrhaften Erdferkel“, das 27 Jahre lang in vielen Fortsetzungen publiziert wurde, zur realistischen Nachzeichnung des Holocaust nicht gelungen. Aber der Journalist stellt sich selber die Frage: „Darf man die Shoa realistisch zeichnen – zwar streng nach den historischen Fotos, aber eben doch durch Bildausschnittvariation und künstlerische Handschrift ästhetisiert?“

Während die Serie „Glamourpuss“ eine „überkandidelte psychotherapeutische Kolumne und Parodie auf Koch- und Lebensführungskonzepte“ ist, wofür zahlreiche Einzelbilder aus „Rip Kirby“ sorgfältig abgezeichnet wurden, behandelt das Heft „Judenhass“ ein historisches Phänomen des Völkermordes, das meiner Meinung nach nicht für eine Comic-Darstellung geeignet ist!

Andreas Platthaus fasst seine Ansicht folgendermaßen zusammen:

Was für eine Brisanz aber kunsttheoretisch in Sims Lobgesang auf den fotorealistischen Comic steckt, macht erst „Judenhass" deutlich. Austreibung jeder Individualität, die über schiere grafische Perfek­tion hinausgeht - das stünde am Ende einer Entwicklung, die sich am Ideal des späten Raymond orientierte. Natürlich ist das hilfreich, wenn es um denkbar heikle Vorhaben wie einen Comic zum Antisemitismus geht. Aber ohne die erläuternden Texte Sims, die in „Glamourpuss" wie „Judenhass" von dem tiefen persönlichen In­teresse des sich entindividualisierenden Zeichners künden, wäre diese Vorgehens­weise schwer zu ertragen - und zwar in beiden Fällen.

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