In meinen NEWS vom 3. April 2015 wies ich auch in diesem Jahr wieder auf das jüdische Pessachfest hin, das durch den Sederabend eingeleitet wird. Pessach fällt in diesem Jahr auf den 4. -11. April und endet somit am heutigen Tage. Der 1. Sederabend, an dem die Juden traditionsgemäß die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten feiern, wurde am 3. April 2015 im Familienkreis gefeiert. Meine Homepage wies oft auf den inzwischen berühmt gewordenen Text von Josef Weisss hin, der aus Flamersheim– also unserer Region -, stammt: „Sederabend 1945 in Bergen-Belsen.“ Er wurde auch in meinem neuen Buch „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“ veröffentlicht und durch die 15-minütige Radiosendung „Zeitzeichen“ in Deutschland bekannt.
Erstmals hatte mich die Kraft jüdische Religiosität beeindruckt, als ich mich vor mehr als 3 Jahrzehnten mit dem religiösen Leben der Kölner Juden im Ghetto von Riga befasste. Am diesem Beispiel wurde ich der Tatsache bewusst, dass auch jüdische Religiosität aus dem individuellen Streben nach Sinnfindung und Welterklärung entspringt und in ganz speziellen Notsituationen Kraft, Trost und Hoffnung gibt.
„Da die meisten Menschen in einem bestimmten kulturellen Umfeld aufwachsen, ist die Religiosität zumeist auch auf eine bestimmte Religion bezogen“, betont der Wissenschaftler Ulrich Hemel im Lexikon der Religionspädagogik. Viele Menschen versuchen, mit dem Erleben der eigenen Religiosität in der Gruppe ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zu bestimmen und zu festigen. Viele Menschen sehen in Notsituationen eine besondere Sinnhaftigkeit sowie Erprobung und Bewährung ihres Glaubens. Am Beispiel der dantesken Situation im Konzentrationslager Bergen-Belsen wies später ich auf viele Beispiele jüdischer Glaubensfestigkeit hin, die für Kraft, Hoffnung und Vorbildfunktion exemplarisch sind.
Einiges möchte ich aus meinem Buch „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“ anführen. Hier werden zum Beispiel im 14. Kapitel „Hoffnung, Religion und Menschlichkeit“ Erinnerungen einiger Belsen-Überlebender erwähnt:
S. 288:
.... „Einzelne orthodoxe Familien bringen es fertig, bis zum allerletzten Moment an ihrer Sabbatfeier festzuhalten. Am Freitagabend legt die Mutter ein weißes Laken auf den Holztisch, und die ganze Familie singt und betet miteinander. Diese Szene erfüllt E. mit tiefer Ehrfurcht: hier ist klar, dass die Tradition weder leere Form noch bloße Gewohnheit ist. Die altvertrauten Worte und die strenge Disziplin verleihen dem unbeirrbaren Glauben Inhalt und Kraft. Keinem frommen Juden kommt die Frage nach Gott (`Wo ist Gott, da unsere Not so hoch ist?´) über die Lippen. Bei ihnen ist das Bewusstsein, dass Auserwähltheit und Leiden Hand in Hand gehen, stark ausgeprägt, das ist E. aus vielen Gesprächen deutlich geworden. Aber als vom Glauben Abgefallene, ja schlimmer noch, als getaufte Juden, sind sie und ihre Mutter recht isoliert.... .“ (310)
S. 298/99:
„ .... Im Gegensatz zu sonst war die Verhandlung außerordentlich kurz. Chana Emanuel verzichtete auf ihr Recht, sich zu verteidigen und akzeptierte anstandslos die Bestrafung, die aus einer mehrtägigen Einziehung ihrer Brotration bestand. Als sie später gefragt wurde, warum sie nicht um Gnade gebeten oder ausdrücklich auf die besonderen Umstände hingewiesen habe, wies Chana selbstbewusst und überzeugend in ihrer jüdischen Frömmigkeit darauf hin, dass der `Gerichtsprotokollant´ doch jüdisch wäre! Hätte sie sich verteidigt und ausführlich die Mutter-Kind-Situation dargestellt und protokolliert, hätte der Mann jedes Wort niederschreiben müssen. Diese Arbeit am Sabbat wäre vom Glauben her nicht erlaubt. Sie wollte keineswegs noch zusätzlich den Sabbat schänden – auf Kosten eines anderen Juden.....“ (326)
S.302-305:
...... Wenige Tage vor Jom Kippur 1944 nahm Shmuel Emanuel nur wenig von der kargen Brotration zu sich, legte aber bewusst etwas beiseite, um doch noch etwas für Seudah Hamafseket – die letzte Mahlzeit vor dem Fest – vorrätig zu haben. An diesem Abend versammelten sich Hunderte von Sternlager-Insassen, um das Gebet zu hören. Tatsächlich beabsichtigten viele, bis zur Abenddämmerung des nächsten Tages zu fasten. Sein Vater
hatte seinen „Kittel“ und Tallit angelegt und stand deutlich sichtbar dieser „Gemeinde“ vor. Die Anteilnahme dieser Menschen muss innig und sehr bewegend gewesen sein, denn sein Sohn Shmuel erinnert sich lebhaft an seinen damaligen Eindruck:„Seine wohlklingende Stimme und seine herzergreifenden Gebete nahmen alle Andächtigen gefangen – alle, die hoffnungslosen, elenden und verzweifelten Insassen von Bergen-Belsen, die sich versammelt hatten, um Kol Nidrei zu hören. Als Vater die Worte hervorbrachte `Von diesem Jom Kippur bis zum nächsten Jom Kippur, der zu unserem Wohl dient´, erfolgten innigliche Rufe aus der großen Versammlung. Erneut zitierte er diese Worte. Seine Stimme wuchs immer mehr an. Und dann ein drittes Mal:
Seine Stimme schrie die Worte heraus in einem begeisterndem, feierlichen Gesang, der die Herzen der Insassen zerriss und ein unerschrockenes Weinen und Wehklagen auslöste. Dieselbe Frage verfolgte alle, die sich versammelt hatten: Würden wir beim nächsten Jom Kippur noch am Leben sein? Eines war uns allen jedoch klar – dies würde unser letztes Jom Kippur in Bergen-Belsen sein. Entweder würden wir sehr bald aus dieser wirklichen Hölle befreit oder... Als Kol Nidrei beendet war, sprach Rabbiner Abraham Levisohn [Levisson/d.V.], Gott hab ihn selig, ein Gebet, das uns allen Zuversicht, Mut und Hoffnung gab. Dann flehte Vater inständig:`O Gott, gib uns das Leben und erlöse unsere Seelen in dieser Not um Deines Namens willen. Rette uns durch Deine Gerechtigkeit. Betrachte unser Leben, wir sind hilflos und armselig. Dein ist unsere Seele. Du hast uns geschaffen. Habe Mitleid mit unserer Qual. Unsere Seele gehört Dir; unser Körper gehört Dir! Oh Gott, rette uns in Deinem Namen......´“ (330)
Die religiöse Begeisterung und spürbare Gläubigkeit von Mordechai Marcus Emanuel muss alle Teilnehmer sehr bewegt haben, denn im Anschluss an die Versammlungen gratulierten ihm viele Teilnehmer – sogar Juden, die in Bergen-Belsen „etwas vom Glauben verloren“ hatten. Selbst sein eigener Sohn Shmuel war ergriffen und druckte ihm dankbar die Hand. Aber dieser sagte ihm nur: „Dir gilt der eigentliche Dank. Hätte es nicht Seudah Hamafseket gegeben, das du allein für uns vorbereitet hast, dann wäre ich sicher nicht in der Lage gewesen, so inniglich zu beten!“
Die grundsätzliche Aussage des Buches „Dignity to Survive“ und die religiösen Anmerkungen zum Leben in Bergen-Belsen fasst die amerikanische Judaistik-Professorin Judith Bleich unter der Überschrift „Faith in the Shadow of Death“ zusammen:
„Dass Menschen ihren Glauben während der schrecklichen Jahre vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg verloren haben, ist nachvollziehbar (...). Da Millionen von Juden und Mitglieder anderer ethnischer Gruppen als Opfer des unmenschlichen und brutalen Naziregimes ausgelöscht wurden, ist es im Angesicht der unfassbaren Katastrophe sicher
verständlich, dass viele Menschen von religiösen Zweifeln und theologischer Fassungslosigkeit gequält wurden. Was aber in gewisser Hinsicht sehr erstaunlich ist, ist der unerschütterliche Glaube und die felsenfester Treue zur Torah und Mitzwa, die treue und standhafte Juden gezeigt haben. Unbeirrt hielten sie an ihren Traditionen fest. In ihren Herzen brannte
eine derart große Liebe zu Gott und der Torah, dass aus den Kammern der Todeslager ihre Stimmen anschwollen mit den Worten von Ani Maamin, der die Überzeugung eines jeden ausdrückte: die Erlösung steht uns bevor, und obwohl sie spät kommt, erwarte ich sie jeden Tag´.“ (331)Aber Zufälle – Shmuel hatte sie schon früher als „kleine Wunder“ bezeichnet – wirkten stets wie ein himmlischer Fingerzeig und führten gleichzeitig zur Schadenfreude gegenüber dem Wachpersonal. Josef Weiss empfand besonders ein Ereignis genauso wie Shmuel Emanuel, der mir in einem Brief folgendes „Wunder“ schilderte:
„Chanukka 1943 verlebten wir noch in Westerbork. Der Kommandant hatte uns verboten, die Chanukka-Lichter zu entzünden. Ich weiß nicht, warum er diesen sinnlosen Befehl gab. Aber es geschah damals ein neues Chanukka-Wunder, zumindest schien es mir so. Am ersten Abend gingen plötzlich alle elektrischen Lampen und Scheinwerfer aus. Offenbar ein Kurzschluss! Infolgedessen konnten wir doch in den Baracken die Kerzen entzünden!“
Selbst wenn dieses Ereignis nur etwas Hoffnung für ein Überleben vermittelte, so stärkte es die Lebenseinstellung des heute 83jahrigen Shmuel Emanuel: „Wir haben uns immer erhoben und erhalten!“ Den Glauben an die Richtigkeit dieser Aussage und die daraus entstehende pädagogische Aufgabe für die Zukunft betont er am Ende seiner Ausführungen (332). Hier bezieht er sich auf Awot II, 20-21:
„Der Tag ist kurz, die Arbeit groß, aber der Arbeiter ist faul. Es gilt der Satz: Es liegt nicht an Dir, das Werk zu vollenden, aber Du bist nicht davon befreit, müßig zu sein!“..............
Fortsetzung folgt