Eine menschliche Tragödie im Euskirchener „Judenhaus“ Baumstraße 7 –
Über die Korrespondenz eines Juden aus Euskirchen

von Hans-Dieter Arntz
Quelle: Jahrbuch des Kreises Euskirchen 2013, S. 24 – 31

 

Besonders der Regionalhistorie ist es zu verdanken, dass bei jungen Menschen das Interesse an der Geschichte frühzeitig geweckt wird. Als Mittler zwischen überschaubarer Heimatkunde und Landesgeschichte führt sie zur unmittelbaren Begegnung und macht neugierig oder gar betroffen: „So etwas ist wirklich hier geschehen?“ Jugendliche brauchen sich nicht wie in der Schule mit geographischen Räumen oder aktuellen Landesteilen, die durch staatliche oder teilstaatliche Einheiten definiert sind, zu beschäftigen, sondern können unmittelbar und dadurch exemplarisch motiviert werden. Wie oft und wo nicht überall hört man die Sätze: „Wenn diese Mauern sprechen könnten“ oder „Wenn man bedenkt, dass gerade an dieser Stelle...“ . Nicht selten werden dann die ersten diesbezüglichen Fragen gestellt.

 Auch die Euskirchener Regionalhistorie enthält unzählige Beispiele. Natürlich könnte man über den seit 1302 bestehenden Marktplatz der kleinen Voreifelstadt Euskirchen Bücher schreiben, da er, wie auch in den meisten anderen Orten, Mittelpunkt der Stadt, des geschäftlichen Lebens und der Geschichte war. Besonders die vielen Augenzeugenberichte aus den beiden letzten Jahrhunderten sind spannend. Hier wurde zum Beispiel am 8. Oktober 1794 von den einmarschierenden französi­schen Revolutionstruppen der Freiheitsbaum aufgerichtet oder im Jahre 1856 noch ein Wolf, der sich verlaufen hatte, erlegt, und schließlich fluteten hier im 1. und 2. Weltkrieg siegreiche und geschlagene Truppenverbände vorbei. Die Nationalsozialisten nutz­ten den geschichtsträchtigen Markt für Massenkundgebun­gen. Was aber in den benachbarten Häusern geschah, an denen man täglich vorbeigeht, ist vergessen.

Tragödie 1Über das Gebäude Baumstraße 7, unmittelbar am Rathaus, wurde erst neulich Wichtiges bekannt: es war zur Zeit des beginnenden Holocaust ein „Judenhaus“, in dem Euskirchener Juden bis zu ihrer Deportation zu warten hatten. Die hier verfassten Briefe stellen eine menschliche Tragödie dar und konnten inzwischen als „Isidors Briefe“(1) teilweise publiziert werden.

Im Jahre 1981 überließ mir die damalige Vorsitzende der Synagogengemeinde Saar, Frau Martha Blum geb. Mayer (2) , etwa 120 maschinen- bzw. handgeschriebene Briefe und Postkarten, die ihr Vater in der Zeit von 1936-1942 in Euskirchen geschrieben hatte. Die letzten schriftlichen Nachrichten kamen 1943 aus Theresienstadt. Alle waren an sie, die damals in Frankreich lebende Tochter, gerichtet und mussten die unterbrochenen Familienbeziehungen ersetzen. Die politischen Umstände und der Holocaust verhinderten eine Zusammenführung der jüdischen Familie.
 
 Während die Korrespondenzen bis zum Beginn des 2. Weltkrieges direkt an persönliche Anschriften gerichtet waren, liefen sie später über „Kontaktadressen“ und das Rote Kreuz. Diese Briefe hinterließen bei mir einen nachhaltigen Eindruck, und ihre Durchsicht stellt dem Leser vor die Frage, ob sie nur regionalhistorisch oder auch psychologisch zu bewerten sind. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, bei der Vielfalt das Individuelle zu finden, denn das Schicksal des jüdischen Isidor Mayer aus Euskirchen ähnelt dem vieler Juden im damaligen Deutschland. Was ist jedoch bei dem Umfang einer solchen Korrespondenz wichtig? Ist es das private Familienleben? Das Historische? Ein Beitrag zur Stadtgeschichte? Obwohl ich nur einzelne Aspekte heraussuchen konnte, entstand meiner Meinung nach beinahe ein Psychogramm eines unbekannt gebliebenen jüdischen „Helden" – eines „stillen Helden“, wie Prof. Dr. Joseph Walk (3) , ergänzte. „ Die Aufzeichnungen sind in ihrer Schlichtheit eindringlich und geben Geschehenes deutlich und exemplarisch wieder“.
 
 Zum Verständnis der ausgewählten Briefe aus dem Besitz der Tochter ist folgendes anzumerken: Martha Mayer, verh. Blum wurde am 16. Oktober 1904 in Köln geboren und starb am 24. Februar 1990 in Saarbrücken. Hier hatte sie sich stark im jüdischen Gemeindeleben engagiert und während der Zeit vom 21. Januar 1981 bis zum 6. Juni 1988 die Funktion als Vorsitzende der Synagogengemeinde Saar inne.

Tragödie 2 Sie war die älteste Tochter von Isidor Mayer (1877-1943) und dessen Ehefrau Sofia geb. Wolff (1875-1944), die 1899 in Köln geheiratet hatten. Ihre jüngere Schwester Johanna (1906–1933) kam an den Folgen der Ausschreitungen während des „Boykottages“ in Euskirchen (4) um. Einige Jahre vorher hatte der Umzug von Köln in die Voreifeler Kreisstadt stattgefunden, weil man sich hier in jeder Hinsicht sicherer fühlte. Doch das war nicht der Fall. Nach ihrer Eheschließung mit dem Juristen Dr. Ernst Blum verzog Tochter Martha in dessen Heimat. Doch das „Saargebiet“, in dem als Folge des Versailler Friedensvertrages die französische Regierung das politische Leben bestimmte und wo vorerst keine nationalsozialistischen Drangsalierungen zu befürchten waren, gehörte nach 15 Jahren wieder zum Deutschen Reich. Somit waren Martha und ihr Ehemann gefährdet. Bis zu diesem Zeitpunkt pflegten enge Kontakte und häufige Besuche in Euskirchen bzw. in Saarbrücken das Familienleben.
 
 Vater Isidor (5) hatte am 4. Juli 1927 in Euskirchen, Baumstraße 29, eine Rohproduktenverwertung übernommen, die einst der aus Mayen stammenden jüdischen Familie Treidel gehörte. Diese hatte gemeinsam mit dem in Euskirchen sesshaften Kaufmann Moritz Marx während des 1. Weltkrieges gute Geschäfte gemacht und in der Weimarer Republik als Marx & Treidel eine seriöse Reputation erworben. Neben geschäftlichen Aktivitäten in Mayen und Euskirchen widmete sich die Familie Treidel der neuen Idee des Zionismus, so dass tatsächlich im Jahre 1909 ein Teil der Familie schon nach Palästina auswanderte .(6)

Tragödie 3

Isidor Mayer handelte bis kurz vor der „Machtergreifung“ nicht nur mit Rohprodukten und unedlen Metallen, sondern als ehemaliger Tuchhändler auch mit Kurzwaren und Stoffen. Nach der Abmeldung seines Betriebes (7) war er als Kaufmann tätig, was aber in der Realität einer Tätigkeit als Reisender und Vertreter für Textilien entsprach. In seinen Briefen erwähnt er immer wieder, dass er erfolglos „über die Dörfer ziehen muss, da Juden überall vom Hofe weggejagt werden“. Es folgten Tätigkeiten als Hilfsarbeiter, bis es zur Arbeitslosigkeit und Armut kam. Seine Adressen in Euskirchen änderten sich von 1932 bis 1942: Baumstraße 29, Ursulinenstraße 12, Viktoriastraße 14 und schließlich Baumstraße 7. Die letzte Anschrift wurde im Volksmund als „Judenhaus“ bezeichnet.

 Das eigentlich stattliche Gebäude war früher im Besitz der jüdischen Familie Schweizer. Hier wohnte jetzt nicht nur Isidor Mayer mit seiner blinden Ehefrau Sofia in sehr eingeschränkten Verhältnissen. Den einzigen Raum auf der 1. Etage teilte sich das betagte Ehepaar mit der vierköpfigen Familie Berg. Nur ein Vorhang wahrte die persönliche Intimität. Am klobigen Küchentisch verfasste Isidor Mayer seine wöchentlichen Briefe an seine Tochter - „Isidors Briefe“.

Tragödie 4Die vierköpfige Familie Berg wurde einige Wochen nach der „Abreise“ des Ehepaares Mayer deportiert. Sie erlebte mit, wie die Möbel und die zurückgelassenen Habseligkeiten ihrer Nachbarn abgeholt wurden. Anfang Juli 1942 erhielten sie dann einen Brief von Martha und Ernst Blum, die um Neuigkeiten baten. Das Original des Antwortschreibens vom 12. Juli liegt dem Verfasser ebenfalls im Original vor. Es handelt von der freundschaftlichen Gemeinschaft in der Wohnung des „Judenhauses“ und beschreibt besonders die Situation von Sofie Mayer, die angeblich immer zuversichtlich gewesen wäre. Da sie gerne Menschen und Freunde um sich gehabt hätte, wäre ihr der „Umzug“ am 15. Juni nicht schwer gefallen. „Jetzt ist sie ja mit ihren alten Freunden zusammen“. Der Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier die im Ausland lebende Tochter Martha getröstet werden soll. Andererseits lassen auch die nächsten Zeilen erkennen, dass sie als Hinweis auf die vielen Massendeportationen zu verstehen sind. Und ebenso dürfte auch der letzte Gruß zu verstehen sein: „Viele herzliche Grüße und auf Wiedersehen, Euer Jupp“.

Martha Blum, die Tochter des Ehepaares Mayer, hob jedes Schreiben sorgsam auf. Ihr Ehemann, Dr. Ernst Blum, war blind, aber als ausgebildeter Jurist vor und wieder nach dem Nationalsozialismus beruflich im Saarland tätig. Nach der Volksabstimmung im „Saargebiet“ am 13. Januar und der Eingliederung in das Deutsche Reich am 1. März 1935 verließ das jüdische Ehepaar unverzüglich deutschen Boden und flüchtete nach Frankreich. Aus der nun folgenden Zeit stammen etwa 120 Briefe und Postkarten, die von Isidor Mayer – und gelegentlich von seiner Ehefrau Sofie – verfasst und nach Frankreich geschickt wurden.

Seit Ende 1935 leben nun Martha und Ernst Blum im Elsass: 16, Avenue Maréchal Pétain, Thionville. Von hier aus bemühen sie sich - u.a. auch am 14. Dezember 1937 -, beim französischen Konsul in Köln um eine Auswanderungserlaubnis für Isidor und Sofia Mayer. Vergeblich! Kurz danach beantragt das Ehepaar einen Pass oder zumindest eine Besuchserlaubnis für Mutter Sophia. Der blinden Frau wird zwar eine Genehmigung für einen kurzfristigen Besuch in Frankreich erteilt, aber nicht für eine Begleitung. Damit ist vorerst dieses Wiedersehen vereitelt worden. Dennoch kam es zu einer kurzen Begegnung in Luxemburg. Mutter und Tochter können eine Woche lang Wesentliches besprechen und planen. Spezielle „Codes“ sollen künftig Auskunft über die Situation der Eltern, Verwandtschaft und der Synagogengemeinde Euskirchen geben. Hierzu teilte mir Martha Blum am 18. April 1981 folgendes mit:

 „ Weiterhin muss ich Ihnen mitteilen, dass ich einige Zeit nach meiner Emigration nach Frankreich, die Anfang 1936 stattfand, meine liebe Mutter doch in Luxemburg getroffen und dort mit ihr eine Woche verbracht habe. Ich konnte von Frankreich (Thionville in Lothringen) in einer Stunde in der Stadt Luxemburg sein und dies ohne Schwierigkeit. Meine liebe Mutter bekam natürlich schon damals keine Ausreise nach Frankreich genehmigt, aber doch nach Luxemburg. Leider weiß ich heute nicht mehr genau, ob es 1937 oder 1938 war. Ich selber konnte unter keinen Umständen mehr nach Deutschland! Bei dem Zusammensein in Luxemburg haben wir natürlich manches besprochen und auch „Codes“ vereinbart, zum Beispiel um auch über das Schicksal meiner übrigen Verwandten orientiert zu werden (…).“
 
Da die Schreiben seiner Tochter Martha natürlich nicht erhalten blieben, geben nur die Kopien an die jeweiligen Behörden Auskunft über das stete Bemühen, die Eltern aus Euskirchen und Deutschland herauszuholen. Am 28. November 1938 wendet sich Martha an den niederländischen Ministerpräsidenten Colijns (8) in Den Haag und bittet um die Aufnahme ihrer Eltern. Sie bezieht sich dabei auf die holländischen Flüchtlings- und Hilfswerke der Niederlande. Schon am 2. Dezember teilt das „Comité voor bijzondere Joodsche Belangen“ in Amsterdam mit: „Die Bestimmungen der holländischen Regierung lassen den Eintritt für Ihre Familie nicht zu.“ Ein Bittgesuch an das französische Außenministerium ist ebenfalls erfolglos. Auch ein Bittbrief an den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Pierre Etienne Laval (9) hatte keine Resonanz. Am 12. Januar 1939 erfährt Martha, dass die politischen Gremien die „deutsche Judenfrage“ noch nicht endgültig beantwortet können. Lapidar teilt man den im Elsass wartenden Angehörigen mit: „Il n`est pas possible de vous donner de renseignements sur le pays où vos parents pourraient etre dirigés. Il convient d`attendre le résultat des traveaux du Comité de Londres (…)”.

 Während die Not von Isidor und Sofia Mayer in Euskirchen immer größer wird, wächst auch die Sorge ihrer Tochter. Ein verzweifeltes Schreiben vom 24. Januar 1939 an die „Association Quaker“ in Philadelphia begründet ein Hilfegesuch: „Ich bitte Sie inständig, in die Liste Ihrer Betreuten auch meine Eltern aufzunehmen, die in Deutschland sind und in größter materieller Not leben.“ Obwohl die Organisation der Quäker durchaus Positives für flüchtende Juden geleistet hatte, reagierte man auf das Anschreiben Martha Blums überhaupt nicht. Sie hatte sich in ihrem Brief vom 24. Januar 1939 an die „Association Quaker, Philadelphia/USA“ folgendermaßen erklärt:

„(…) Aus den französischen Zeitungen habe ich erfahren, dass die Association Quaker ein weiteres wunderbares Werk ihren menschenfreundlichen und wirklich humanen Werken angliedern will: die Versorgung der notleidenden Nichtarier in Deutschland mit Lebensmitteln und dass zu diesem Zwecke eine Studienkommission mehrere Wochen in Deutschland geweilt hat.
Wenn es Ihnen möglich ist, diesen schönen Gedanken in die Tat umzusetzen, so bitte ich Sie inständig, in die Liste Ihrer Betreuten auch meine Eltern aufzunehmen, die in Deutschland sind und in größter materieller Not leben. Es handelt sich um Isidor Mayer und Frau Sofie geb. Wolff, Euskirchen/Rheinland, Viktoriastraße 14. Sie haben beide durch das Hitlerregime schwerste Schicksalsschläge erlitten: Sie verloren bereits 1933 eine Tochter, die an den Aufregungen des Boykotts einem Herzleiden erlag. Sie verloren durch den fortgesetzten Boykott ihr kleines Vermögen und ihre ganze Existenz. Vor 2 Jahren verlor meine liebe Mutter ihr Augenlicht und ist völlig erblindet. Ich selbst, das einzige ihnen noch verbliebene Kind, musste 1935 mit meinem Mann, der gleichfalls erblindet ist, aus dem Saargebiet emigrieren. Wir leben seit dieser Zeit bei den Eltern meines Mannes in Frankreich, wohin auch diese emigrierten. Mein Mann und ich konnten infolge der harten Ausländerbestimmungen in Frankreich bis heute keine neue Tätigkeit finden, sodass es uns nicht möglich ist, mehr für meine Eltern in Deutschland zu tun, als ihnen monatlich die Miete zu schicken, denn wir sind selbst vermögenslos (…).“

Am Rande erwähnt die immer noch im französischen Elsass lebende Antragstellerin:

Um nicht völlig Hungers zu sterben, hat mein Vater, der 63 Jahre alt ist, jede nur mögliche Arbeit ausgeführt: Straßen- und Rodungsarbeiten, Feldarbeit etc. Doch bekommt er auch diese Arbeiten nicht mehr zugewiesen, weil er Jude ist. Unterstützung wird in Deutschland, wie Sie wissen, an Juden nicht mehr gezahlt.“

Nach dem deutschen Angriff und der militärischen Niederlage der Franzosen am 22. Juni 1940 flüchtet das jüdische Ehepaar Blum in die „Unbesetzte Zone“ des Vichy-Regimes. Der deutschsprachige Elsass, der seit Ende des 1.Weltkrieges mal wieder französisch geworden ist, wird erneut in das Deutsche Reich eingegliedert. Sofort ist abzusehen, dass auch hier die Judenverfolgung sowie der nationalsozialistische Terror beginnen würden. Martha flieht mit ihrem blinden Ehemann durch das Besatzungsgebiet in den Süden. Bis 1944 müssen sie sich im Untergrund versteckt halten. Als vorläufige und postalische Anschrift gilt bis Ende 1942: 5, Avenue Audiffret, Nizza. Durch Zufall entgehen sie Razzien und einer vorgesehenen Verhaftung. Sie flüchten ins Gebirge, suchen und finden Verstecke und überleben trotz bedrohlicher Situationen. Sie retten ihr Leben und erleben das Ende des sogenannten 3. Reiches.
 
 Seit Ende 1943 erhalten sie keine Nachricht mehr von den Eltern, die im Juni 1942 inzwischen von Euskirchen nach Theresienstadt deportiert worden sind und dort im „Altersghetto“ umkommen. Die jeweiligen Deportationen wurden schon seit längerer Zeit mit dem Codewort „Klingers Kunden“ brieflich mitgeteilt. Nach dem Krieg lassen sich Martha und Ernst wieder in Saarbrücken nieder, wo der Jurist Dr. Ernst Blum Ministerialrat bei der saarländischen Landesregierung wird .(10)
 
Isidor Mayer, den Protagonisten des Buches „Isidors Briefe“ , muss man sich als typischen Rheinländer vorstellen, der „Kölschen“ Dialekt spricht, humorvoll und sozial recht integrativ wirkt. Er ist ein Mann, der „anpacken“ kann und stets einen „zuversichtlichen“ Eindruck macht. Dies bestätigten jüdische Zeitzeugen immer wieder. In seinem Brief vom 28. August 1938 weist Isidor auf die neuen Richtlinien vom 18. August (11) hin, nach denen jüdische Namen eindeutig sein müssen, ansonsten ist „Israel“ bzw. „Sarah“ zu ergänzen. Selbstbewusst meint er selbst noch am 19. Dezember: „Mein Name bleibt Isidor!“ Aber das war ein Irrtum. Etwas kleinlaut findet man künftig als Absender: „I. Mayer“. Kann man doch denken, was man will. „I“ kann doch „Isidor“ oder „Israel“ heißen.

Tragödie 5Die Tatsache jedoch, dass Isidor bis zu diesem Zeitpunkt selber der Ansicht ist, dass sein Name „typisch jüdisch“ ist, zeigt, in welch unklarer, ja, oft auch doppeldeutiger und verwirrender Situation er sich grundsätzlich noch kurz nach der „Reichskristallnacht“ befindet. „Isidor“ galt schon vor der sogenannten Machtergreifung als pseudojüdischer Unname und fand für die Person des Berliner Polizeichefs Bernhard Weiß eine diskriminierende Verwendung.

Aufopfernd ist die Betreuung seiner beinahe völlig erblindeten Ehefrau Sofia, deren wenige Briefe auf speziellem Briefpapier kaum leserlich sind. Seit dem Tode der jüngsten Tochter Johanna (Jenny) - nach dem „Boykottag“ – leidet sie besonders unter den nationalsozialistischen Drangsalierungen und Diskriminierungen in der Kreisstadt Euskirchen. Ärzte führen ihre fortschreitende Erblindung auch auf psychosomatische Ursachen zurück, so dass für sie die Gefahr besteht, Opfer der „Rassenhygiene“ zu werden.(12) Ein vertrauliches Schreiben von Isidor am 23. August 1937, „von der Mutter nur ja nicht Kenntnis erhalten“ soll, beschreibt gewisse Wahnvorstellungen der blinden Frau:

„Eine kleine Schilderung des Seelenzustandes: Mutter ist fest überzeugt, dass ich mit Frau (…) ein Verhältnis habe (…). Außerdem beabsichtige ich durch tausenderlei Schikane, sie verrückt zu machen, damit sie in eine Irrenanstalt käme und ich diese Person heiraten könne. Es ist zu einer festen fixen Idee gekommen.“

Tragödie 6Am Anfang des 20. Jahrhunderts bestand die Euskirchener Synagogengemeinde aus etwa 250 Mitgliedern. Als die wirtschaftliche Situation der Euskirchener Juden Mitte der 1930er Jahre immer prekärer wird, plant Isidor eine Art jüdische Selbsthilfe, die die ärmeren Familien unterstützen soll. Er kritisiert dann aber das Desinteresse der noch „Wohlhabenden“ in der Euskirchener Synagogengemeinde, sich finanziell zu beteiligen. Als beschämend empfindet er die Tatsache, dass die vielen jüdischen Emigranten eigennützig und desinteressiert sind: „Die verkaufen ihren Besitz lieber an die sogenannten Arier, als uns etwas zu überlassen!“

„Isidors Briefe“ vermitteln indirekt nicht nur ein Stimmungsbild der vor dem Untergang stehenden Euskirchener Synagogengemeinde, sondern auch die psychische Belastung der jeweiligen jüdischen Menschen. Wegen der beschriebenen Ereignisse in der Kreisstadt Euskirchen sowie der vielen genannten Namen und Anschriften ist vieles nachvollziehbar. Man erfährt, wie sich die jüngere Generation auf eine baldige Auswanderung vorbereitet und an speziellen landwirtschaftlichen Kursen zur sogenannten „Umschichtung“ teilnimmt und dass die Älteren meist in Lethargie und Hoffnungslosigkeit verharren. Ostentativ weigert sich zum Beispiel auch der einst beliebte Arzt Dr. Hugo Oster, sein Haus in der Baumstraße 8 zu veräußern. Die Unterlagen in den jeweiligen Archiven belegen heute, dass hauptsächlich die jüngeren Jahrgänge in das Ausland flüchteten und die Älteren bzw. Familien mit jüngeren Kindern zurückblieben.

Tragödie 7Erfreut und gleichzeitig deprimiert empfindet Isidor Mayer die neuesten Nachrichten, die in der jüdischen Gemeinde kursieren: Alex Schwarz aus der Bischofstraße ist in Mexiko und hat ein Päckchen Kaffee geschickt, Alfred Seligmann (13) aus der Baumstraße hat in Rhodesien eine Metzgerei aufgemacht, Verwandte der Familie Josef Berg sind auf dem Wege nach Schanghai. Dort werden deutsche Juden aufgenommen…

Isidor taumelt keineswegs von Hoffnung zu Hoffnung, sondern analysiert manchmal recht realistisch die Lage. Als davon die Rede ist, dass „Dominicana“ jüdische Flüchtlinge aufzunehmen beabsichtigt, weiß er zuerst überhaupt nicht, was gemeint ist. Tage später hat er sich wohl informiert. „Das ist nur etwas für Eingeborene. Die Hitze macht einen tot.“ Nie vergisst er seine stille Ehefrau Sofia, deren Gesundheitszustand inzwischen bedenklich ist. Zufrieden lobt er daher einige jüdische Frauen, die regelmäßig zum Vorlesen vorbeikommen und für Unterhaltung sorgen. Offenbar wird aber nur das immer größer werdende Leid geklagt.

Am 14. Juni 1942, „um 3 Uhr in der Nacht von Samstag zum Sonntag“, sitzt Isidor Mayer zum letzten Mal am Küchentisch in Euskirchen, Baumstraße 7 und schreibt seinen letzten Brief an seine Tochter Martha und den Schwiegersohn Ernst. Isidor hat vorschriftsmäßig den Wohnraum gereinigt und schon die Schlüssel an den Haken gehängt. Die wenigen Habseligkeiten sind gepackt. Seine inzwischen ganz erblindete Ehefrau wird wahrscheinlich noch etwas Ruhe auf dem Bett gefunden haben. Das Bettzeug ist wie die Kleidungsstücke im Rucksack oder in einer Tasche, denn das Notwendigste darf eingepackt werden. Isidor und Sofia Mayer werden in wenigen Stunden zu „Klingers Kunden“ geschickt.

Der letzte Brief ist zu persönlich, um an dieser Stelle oder in der „dokumentarischen Erzählung“ vollständig zitiert zu werden. Er ist ein Abschiedsbrief, der den Leser wegen seiner Sachlichkeit bewegt. Kürzer ist die Nachricht von der „Abreise“ auf einer Postkarte, die noch nachher, um 4 Uhr am frühen Morgen, verfasst wird und an die Familie Ferdinand Müller, Münstereifel, Heisterbacherstraße 3, gerichtet ist:(14)

Meine Lieben! 14.6.1942
Ihr wundert Euch, dass ich nachts um 4 Uhr noch schreibe. Wir haben uns gestern Abend noch entschlossen abzureisen und zwar nachher, Sonntag Mittag ½ 12. Daher können wir uns nicht persönlich verabschieden, da der Entschluß sehr spät kam und wir bestimmt fahren. Wenn eben möglich, schreibe ich in den nächsten Tagen, aber Ihr wisst ja, bei so vielen neuen starken Eindrücken vergisst man das Schreiben. Also, so lebt wohl, bleibt alle gesund und denken wir an ein Wiedersehen. Viele innige Grüße Isidor und Sofie

Die Person des Isidor hat den Autor dieses Textes seit vielen Jahren interessiert und immer wieder zur Recherche motiviert. Auch heute noch ist zu bedauern, dass bisher nicht alle 120 Briefe vollständig in einem Band zusammengefasst werden konnten. Auch in dem Buch „Isidors Briefe“ bleibt es bei kleineren Auszügen, die aber dennoch aussagekräftig sind. Noch am 29. Juni 2009 saß ich selber genau an der Stelle, an der Isidor seine Briefe zwischen September 1941 und Juni 1942 geschrieben hat: Baumstraße 7, 1. Etage, linkes Fenster. Noch einmal wollte ich denselben Blick auf das Euskirchener Rathaus haben, den Isidor in seinen letzten Monaten gehabt hatte.

Tragödie 1Tragödie 9Und zu gleicher Zeit war ich in persönlichem Kontakt mit Egon Fromm, der einst mit seiner jüdischen Familie dieselbe Etage und dasselbe Zimmer bis Oktober 1938 bewohnte, ehe man endlich auswandern konnte .(15) Dasselbe Haus, dieselbe 1. Etage, dasselbe Zimmer. So wie ich als Autor, so war der heute in den USA lebende Egon Fromm (* 1931) gedanklich bei Isidor Mayer. Beide hatten wir denselben Blick aus dem Fenster des ehemaligen „Judenhauses“, beide konnten wir etwas von der bedrückenden Stimmung der damaligen NS-Zeit nachempfinden. Er, Egon Fromm, der als kleiner Junge einst genau an dieser Stelle wohnte, und ich, der durch die Briefe über Situation und Stimmung des jüdischen Protagonisten Isidor Bescheid wusste. Und wenn man dann die Stelle in der nach hinten gelegen Küche sieht, an der wie 1942 auch heute noch ein Tisch am Fenster zum Hof steht und an dem Isidor seinen letzten Brief verfasst hat, dann spürt man, wie lebendig und menschlich die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte und der Regionalhistorie sein kann.

Tragödie 10Da der Leser über das, was kommen wird, historisch längst informiert ist, sind die jeweiligen Daten der Briefe und die vielen Anmerkungen und Fußnoten im Anhang des Buches „Isidors Briefe“ nicht nur ein zeitlicher Leitfaden, sondern eine detaillierte Ergänzung. Sie spielen insofern eine wesentliche Rolle, weil sie nicht nur erklären, sondern auch die Reaktion des jüdischen Briefschreibers auf wichtige Ereignisse darstellen. Andererseits machen sie viele andere Briefe überflüssig, obwohl diese für die Gesamtheit der Aussagen und Schilderung durchaus wichtig sind. Isidors präzise Darstellung des Alltagslebens in Euskirchen würde bei einem Abdruck aller Briefe sicher viel mehr aussagen und noch mehr betroffen machen. Sie konstatieren insgesamt nicht nur das Individuelle des Ehepaares Mayer, sondern auch den Mechanismus des Nationalsozialismus in der Kreisstadt Euskirchen und das beinahe unbekannt gebliebene Verhalten innerhalb der jüdischen Gemeinde. Auf jeden Fall sind die etwa 120 Briefe in ihrer Gesamtheit ein nicht zu unterschätzender historischer Nachlass.

Anmerkungen

(1) Vgl. Hans-Dieter Arntz, ISIDORS BRIEFE. Über die Korrespondenz eines Juden aus Euskirchen. Helios- Verlag, Aachen 2009.

(2) Martha Mayer, verh. Blum, *16.10.1904 in Köln, † 24.02.1990 in Saarbrücken. Tochter von Sofia Mayer geb. Wolff und Isidor Mayer. Von 181 bis 1988 Vorsitzende der Synagogengemeinde Saar.
 

(3) Prof. Joseph Walk (1914–2005), Direktor des Leo Baeck Instituts Jerusalem in der Zeit von 1978 bis 1983
sowie 1993/94. Autor des Standardwerkes: Sonderrechte für die Juden im NS-Staat. Heidelberg 1981. Vgl. auch H.-D. Arntz, „REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande. Gerichtsakten und Zeugenaussagen am Beispiel der Eifel und Voreifel, Aachen 2008, Kapitel „Sargenes ist vorhanden“, S. 18/19.

(4) Vgl. H.-D. Arntz, JUDAICA – Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983, 3. Aufl. 1986, S. 182.

(5) Mayer, Isidor (* 6. März1877 in Köln, wohnhaft in Euskirchen, letzte Anschrift: Baumstraße 7), Deportation am 15. Juni 1942 ab Köln, † 12. Juni 1943 in Theresienstadt.

(6) Vgl. hierzu „Euskirchener Zeitung“ vom 16.9.1919 sowie die Benachrichtigung des Verfassers durch Herrn
Dr. Paul Marx (Israel) vom 14.9.1980.

(7) Stadtarchiv Euskirchen, Akten „Wiedergutmachungen“, B 13/1957 (Martha Blum).

(8) Hendrikus (Hendrik) Colijn (* 22. Juni 1869 in Burgerveen, † 18. September 1944), niederländischer Ministerpräsident und Militär, Geschäftsmann und Politiker. 1920 übernahm er der Führung der Antirevolutionären Partei (Calvinisten) und 1922 auch die Chefredaktion der Parteizeitung De Standaard. Von 1925 bis 1926 und von 1933 bis 1939 war er fünfmal niederländischer Ministerpräsident.

(9) Pierre Etienne Laval (* 28. Juni 1883, † 15. Oktober 1945). In den Jahren 1932 und 1933 sowie 1935 und 1936 war er französischer Ministerpräsident.

(10) Dr. Ernst Blum, geb. in Wellesweiler (Saar), Beamter bei den Finanzbehörden in Saarbrücken. Im Oktober 1935 erhielt er die Anweisung, unverzüglich mit seiner Ehefrau Martha, die bei ihm als Sekretärin beschäftigt war, sein Büro zu verlassen. Das war der Grund für die beschleunigte Auswanderung nach Frankreich. Er starb im Jahre 1970 an einem Herzinfarkt, in der Funktion eines Ministerialrates bei der Landesregierung Saarland. In diesem Zusammenhang soll auf eine Stiftung hingewiesen werden, die die „Dr. Ernst Blum Clinic“ in Herzlia/Israel ermöglichte und somit an den Schwiegersohn von Isidor Mayer erinnert. In Anwesenheit von Martha Blum wurde sie am 21. April 1982 feierlich eingeweiht.

(11) Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17. August 1938.

(12) „Euthanasie“: Zur regionalhistorischen Forschung „Rassenhygiene“ vgl. Gabriele Rünger, Die Opfer der Rassenhygiene – Zwangssterilisation, Euthanasie und Rassenwahn, in: Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen – Die braune Vergangenheit einer Region, Jahresschrift des Geschichtsvereins des Kreises Euskirchen e.V., Weilerswist 2007, S.657-754,

(13) Alfred Seligmann (*1897, † 1975 in Südafrika), von 1926 bis 1938 als Viehhändler in Euskirchen. Mit Ehefrau Hedwig geb. Sternberg (*1909) und Söhnchen Günter (*1937) wanderte er am 25. Dezember 1938 – wie auch die Familien Ernst Stock (*1907) aus Lommersum, Simon Rolef (*1862) aus Kuchenheim oder Siegfried Heumann (*1903) aus Euskirchen – nach Südafrika aus, wo seine vorläufige Anschrift North Butchery Sauerstownship, Bulawayo/Southern Rhodesia lautete.

(14) Ferdinand Müller hatte eine jüdische Ehefrau und somit halbjüdische Kinder. Die Familie war auch gefährdet und geriet im Jahre 1944 in die Verfolgungsmaschinerie der Nationalsozialisten, konnte aber
überleben. Einzelheiten hierzu in: H.-D. Arntz, JUDAICA – Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983,
S. 403/404, S.412 ff. und S. 502.

(15) Vgl. die ausführliche Geschichte der Familie Fromm als Cover Story in The Jewish Standard vom 26.12.2008. Der englische Text von Egon and Joan Fromm hat die Überschrift „Uncovering our Roots“ und
ist mit Genehmigung der Redaktion und der Autoren auch auf meiner Homepage publiziert. Vgl.
http://www.hans-dieter-arntz.de/ein_juedischer_fluechtling.html

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