Die Genealogie jüdischer Familien enthält viele Details, die mit der deutschen, aber gelegentlich auch europäischen Historie zu tun haben. Da aber Juden im ländlichen Raum der Voreifel, Eifel und Ardennen im wahren Sinne des Wortes „namenlos“ waren und erst im Jahre 1808 offizielle Namen anzunehmen hatten, wirkten sie in dieser Region als kaum existent und hinterließen nur wenige historische Spuren.
Aber im 19. Jahrhundert und besonders nach dem Emanzipationsgesetz von 1848 änderte sich das. Nachdem von nun an Familienstrukturen konkret in Archiven nachweisbar sind, lassen sich eine Vielfalt an Verästelungen und Schicksalen erkennen, die oft sehr eindrucksvoll, spannend und gelegentlich historisch bedeutsam sind.
Exemplarisch möchte ich dies am Beispiel der Aachener Familie Hartog beweisen, deren Angehörige wirklich starke Persönlichkeiten waren. Von genealogischem Interesse sind zum Beispiel die beiden Ehefrauen des gleich erwähnten Albert Hartog (*1857), Johanna und Eva Holländer, die Schwestern von Abraham Holländer waren. Und der wiederum war der Opa von Anne Frank. Somit waren die 11 Hartog-Kinder Vettern und Cousinen von Anne Frank. Alle waren starke Persönlichkeiten.
Seit einigen Jahren stehe ich mit dem Amerikaner Curt Hartog - Angehöriger einer aus dem Raum Aachen stammenden jüdischen Familie - in Kontakt. Neulich publizierte dieser im Selbstverlag ein Buch zu seiner Familiengeschichte: „A Family Odyssee“.
Familie Hartog aus Aachen
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Curt, Bert, Johanna und Ewalda Hartog |
Hier findet man so viele Details, dass ich einige nur stichwortartig zusammenfassen kann. Sie konzentrieren sich nicht nur auf genealogische Fakten und Querverbindungen, sondern auch auf: 1. Weltkrieg, Emigration in die USA, Opernsängerin an der Met....... in New York, Gefängnisakten eines „black sheep“, Spanischer Bürgerkrieg, Mitgliedschaft in der KPD, antifaschistischer Kampf, Liquidation bei den Grabenkämpfen Stalin-Trotzki, Tätigkeit in der DDR - teilweise in hohen Funktionen unter Ulbricht - und Sowjetunion, Schicksale in der Shoa...
Die eigentliche Geschichte der Familie Hartog begann im April 1888 in Eschweiler, als der aus Aachen stammende Viehhändler und Metzger Albert Hartog die Eschweilerin Johanna Holländer heiratete. Die Mutter von 4 Kindern verstarb mit nur 32 Jahren im Juni 1894. Der Witwer Albert Hartog heiratete nach Jahresfrist Johannas‘ 24-jährige Schwester Eva Holländer, mit der er 7 Kinder bekam, die fast alle in der Jugend die großen sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten jener Zeit erkannten und dagegen anzugehen versuchten:
Fast alle von ihnen wurden in den 1920-ern Mitglieder der kommunistischen Partei Deutschlands, des Spartakus-Bundes oder ähnlicher, linksgerichteter Organisationen. Aber auch karitativ waren sie sehr engagiert. Ein Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit war hauptsächlich eine bessere materielle und medizinische Versorgung von Babys und Kindern. Religion spielte bei den Hartogs nie eine Rolle und lebte auch nicht in der jüdischen Tradition. Alle Familienmitglieder bezeichneten sich explizit als Atheisten.
Drei der elf Hartog Kinder - Curt, Bert und Metha Hartog - emigrierten vor 1938 in die USA. Aufgrund der diskriminierenden Gesetzgebungen der Nazis war ihnen jede Möglichkeit genommen, ihren Lebensunterhalt in Deutschland zu verdienen. Metha wurde Opernsängerin an der Metropolitan Opera New York. Eine andere Schwester, die 1892 in Aachen geborene Martha Hartog, verzog schon kurz vor dem 1. Weltkrieg nach Budapest. Sie gründete dort eine Familie und verstarb 1995 in Ungarn im Alter von 103 Jahren.
Die anderen 7 Geschwister blieben, litten und wurden schließlich Opfer der Shoa, politischer „Säuberungen“ sowie Schikanen oder fielen im Krieg– wie zum Beispiel Eugen Hartog (* 1893), das 4. und letzte Kind von Johanna Hartog: Er fiel im August 1916 im 1. Weltkrieg. Sein Grabstein befindet sich auf dem Waldfriedhof in Aachen.
Meta, Gustav und Selma Hartog |
Großen Einfluss auf die Vita ihre Geschwister hatte sicherlich Golda Hartog, die Erstgeborene: Die 1889 in Aachen geborene Finanzbuchhalterin war von beeindruckender Klugheit, Schönheit und Eleganz. Bereits im Alter von 26 Jahren leitete Golda die Finanzabteilung eines Kaufhauses in Leipzig. Schon bald jedoch verlagerten sich ihre Aktivitäten vollständig in den politischen Bereich: 1917 schloss sie sich dem Spartakusbund an. Bald darauf arbeitete sie in der Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands. Nach einer Zeit als Korrespondentin und einer Anstellung in der Handelsvertretung der UDSSR in Berlin verzog Golda schließlich 1931 mit ihrem Mann Horst Fröhlich nach Moskau. Dort arbeitete sie am Marx-Engels-Lenin-Institut und in anderen wichtigen Funktionen. 1936 wurde sie als jüdische Kommunistin jedoch nach einer „Säuberungsaktion“ Stalins aus der Partei (KPDSU) ausgeschlossen und verfolgt.
Zeitzeugen berichten, eine Freundin habe Golda im Dezember 1941 in verwirrtem und verwahrlostem Zustand in den Straßen von Moskau aufgelesen. Kurz darauf soll sie in einen Zug nach Taschkent gesetzt worden sein, um dort in einem Emigrantenheim unterzukommen. Andere Quellen berichten, ein Verwandter habe Golda Weihnachten 1942 tot auf einer Moskauer Straße gefunden. Golda Fröhlich geb. Hartog wurde später zum 31.12.1942 für tot erklärt. Ihr Mann Horst Fröhlich wurde im Januar 1943 in Auschwitz ermordet.
Der Zweitgeborene Emil Hartog blieb in Deutschland. Nach 3 Jahren kaufmännischer Lehre in Aachen arbeitete er zunächst als kaufmännischer Angestellter. Von 1914 - 1918 diente er bei der II. Matrosen-Division. Nach Ende des 1. Weltkrieges verdiente Emil Hartog seinen Lebensunterhalt zunächst als Schrotthändler. Aber nach einem sehr einträglichen Start seines Unternehmens begann Anfang der 1920-er Jahre der rapide Niedergang, der in einem finanziellen Desaster endete. In den 1930-ern verzog der ledig gebliebene Emil schließlich nach Berlin, wo er er zunächst erneut als kaufmännischer Angestellter arbeitete, später als Möbelhändler. Mehrmals wurde Emil Hartog in Berlin verhaftet –angeblich wegen schweren Betrugs. Insgesamt über 2 Jahre verbrachte er in verschiedenen Haftanstalten in und um Berlin, wie in Berlin-Plötzensee. Dort versucht er, sich das Leben zu nehmen, indem er seine Zelle in Brand setzte. Im April 1940 wurde Emil Hartog schließlich aus der Haftanstalt Brandenburg-Havel entlassen. Anlässlich einer kurz zuvor erfolgten Befragung seitens der Gefängnisleitung gab Hartog an, ins Ausland emigrieren zu wollen; dazu kam es jedoch nicht mehr. Am 29.1.1943 wurde er von Berlin nach Auschwitz deportiert. Danach hat nie wieder jemand etwas von ihm gehört; wahrscheinlich wurde Emil Hartog gleich nach seiner Ankunft in Auschwitz umgebracht.
Sehr bemerkenswert, aber mit ebenso schrecklichem Ausgang, war der Lebensweg von Emils jüngerem Bruder Gustav, zweites Kind aus der zweiten Ehe von Albert Hartog mit Eva Holländer. Er wurde 1897 am Vorabend von Heiligabend in Aachen geboren. Vom 6. bis zu seinem 17. Lebensjahr besuchte er die Oberrealschule in Aachen. Auch er absolvierte eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten und arbeitete zunächst im Kaufhaus Leonhard Tietz in Aachen. Ab 1917 kämpfte er an der West- und Ostfront. Nach Kriegsende besuchte Gustav die Handelsschule in Köln mit Abschluss als Diplomkaufmann. Es folgten Anstellungen im Literaturbetrieb zahlreicher Städte wie Hamburg und Erfurt. Dort lernte Gustav auch seine Frau Gertrud Eichfeld kennen. 1927 heiratete das Paar; die Ehe blieb kinderlos und wurde 1933 geschieden. Auch Gustav Hartog war –wie alle seine Geschwister- Mitglied der KPD und Widerstandskämpfer in der Zeit des Nazi-Regimes.
Aufgrund seiner politischen Aktivitäten wurde er 1933 „in Schutzhaft genommen“ und saß 2 Jahre im Konzentrationslager Esterwegen bei Stettin ein. Nach seiner Entlassung flüchtete er ohne gültige Papiere über Amsterdam in die Schweiz, wurde dort aber wegen Schmuggelns illegaler Literatur in Zürich verhaftet. Mit Beschluss vom 21. August 1936 wurde er schließlich des Landes verwiesen. Nach seiner Ausweisung blieben Gustav Hartog nur noch wenige Möglichkeiten zur Flucht. Er entschloss sich, nach Spanien zu emigrieren. Dort kämpfte er mit den Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg gegen das faschistische Franco-Regime. Teile seines Kriegstagebuches, das er damals verfasst hatte, sind noch erhalten. Als sich die Niederlage der Widerstandskämpfer abzeichnete, floh er nach Frankreich. 1940 wurde er schließlich in Südfrankreich verhaftet. Es folgte eine Odyssee durch mehrere Lager. Ein Zeitzeuge - Kurt Goldstein- erinnert sich an das Ende dieses großartigen Mannes: „Die Endstation hieß Auschwitz. Im Juli 1942 erlebte ich die `Selektion´ auf der Rampe von Birkenau. Der SS-Arzt schickte –wie so viele meiner Kameraden- den Interbrigadisten Gustav Hartog mit einer Daumenbewegung sofort ins Gas“.
Die ältere Schwester Gustavs, Selma (Sella) Gabelin schrieb 1946 in Ost-Berlin über ihren Lebensweg (Auszüge):
„Ich wurde im Oktober 1896 in Aachen als Tochter eines Kommissionärs (Albert Hartog) geboren. Zwei Jahre besuchte ich die Volksschule, 7 Jahre die Mittelschule und ein Jahr eine kaufmännische Handelsschule. Nacheinander arbeitete ich als Buchhalterin und Korrespondentin bei verschiedenen Handels- und Baufirmen, meist in selbständiger Position. Im Januar 1927 trat ich in die kommunistische Partei ein. Als die Räte-Faschisten zur Macht gekommen waren, wurden wir, mein Mann, mein Sohn, Eltern und Geschwister wegen unserer antifaschistischen Tätigkeiten verfolgt.
Im Frühjahr 1934 war es uns nicht mehr möglich, länger illegal zu leben. Ich ging mit meinem Mann über die Grenze und lebte mit ihm etwa 2 Jahre in der Tschechoslowakei. Im Dezember 1935 fuhr ich nach Moskau, arbeitete dort und in anderen Städten der Sowjetunion und war stets in der antifaschistischen Propaganda tätig. 1938 wurde ich verhaftet, ein Jahr später jedoch wieder entlassen. Ich bin jetzt (1946) nach Deutschland zurückgekehrt, um meine Kenntnisse und Erfahrungen in den Dienst des Wiederaufbaus meiner Heimat zu stellen.“
Selma Gabelin verstarb im August 1978 in Ost-Berlin.
Die Zwillinge Ewalda und Johanna Hartog waren die letztgeborenen Kinder von Albert und Eva Hartog. Ewalda beschrieb ihr Leben, was an dieser Stelle nur sinngemäß und in Auszügen wiedergegeben werden soll:
Im August 1904 wurde ich in Aachen geboren. Ab 1911 besuchte ich das Oberlyzeum in Aachen, später die Städtische Mädchenmittelschule und eine Privatschule in Aachen. 1919-1920 lernte ich in einem Harzburger Internat und erhielt dort das staatliche Reifezeugnis für Höhere Mädchen-Mittelschulen. Meine Mutter Eva war oft krank, so dass ich in den Folgejahren meiner Mutter den Haushalt führte. Erst in den späten 20-ern ließ ich mich zunächst in Stenographie und Maschinenschreiben ausbilden. Von 1929-1931 wurde ich schließlich als Kleinkinder- und Säuglingsschwester in Dr. Neumanns‘ Kinderhaus in Berlin ausgebildet und legte dort auch mein Staatsexamen ab. Leider fand ich damals keine Möglichkeit, mich in Berlin in meinem Beruf weiterzubilden.
Zu dieser Zeit bekam ich durch Beziehungen die Möglichkeit, in die Sowjetunion zu fahren, um dort weiter zu lernen und zu arbeiten. Ich nahm das Angebot an und verzog im November 1931 nach Moskau. 1932/1933 arbeitete ich als Kleinkinder- und Säuglingsschwester in der 1. Moskauer Universitätsklinik. In den Folgejahren als Oberschwester in einem Säuglingsheim in Moskau, Erzieherin und Kinderpflegerin sowie als Assistentin an der Kinderklinik der 2. Moskauer Universitätsklinik. Anfang der 40-er arbeitete ich an der 2. Saratoner Kinderklinik des Medizinischen Instituts. Nach der Schließung der Klinik ging ich vom 6.1.1943 bis 31.6. 1945 in die zentrale Poliklinik für Kleinkinder und Säuglinge als medizinische Kleinkinder- und Säuglingsschwester. Zwischendurch war ich auch beschäftigt an einem internationalen Kindergarten, da ich 2 Sprachen beherrsche. Im März 1955 kehrte ich in die Heimat zurück. In den ersten 2 Jahren wohnte und arbeitete in Dresden-Radebeul im Kombinat „Freies Griechenland“ als Kleinkinder- und Säuglingsschwester. Im Anschluss daran arbeite ich im Krankenhaus Friedrichshain in Berlin auf der Säuglingsstation 42 für kranke Säuglinge. Seit Februar 1957 bin ich Kandidatin der SED. In der Gewerkschaft bin ich seit 1931.“
Ewalda arbeitete bis zu ihrem Ruhestand auf Babystationen. Am 13.3.1984 starb die ledig gebliebene Ewalda in Ost-Berlin und wurde beigesetzt in Berlin-Friedrichsfelde.
Der Vater der 11 Hartog-Geschwister musste den Niedergang seiner Familie und die Zeit der Shoa nicht mehr miterleben: Albert Hartog, der tüchtige Metzger und Viehhändler aus Haaren/Aachen, verstarb am 27.1.1938 in Aachen, im „Israelitischen Altenheim Kalverbenden“. Die Mutter Eva war zunächst mit Hilfe ihrer dort lebenden Kinder Bert, Curt und Metha 1939 in die USA geflohen. 1949 kehrte sie jedoch zurück nach Ost-Berlin zu ihren dort lebenden Töchtern. Insbesondere Ewalda kümmerte sich sehr um ihre Mutter. Eva Hartog verstarb schließlich am 12. August 1956 in Dresden im „Feierabendheim Clara Zelkin“.
Die Hartogs waren Idealisten, sie kämpften für eine gerechtere und bessere Welt. Sie kämpften im Widerstand gegen das Nazi-Regime. Aber sie alle zahlten dafür einen hohen Preis: als jüdische Mitbürger wurden viele der 13-köpfigen Familie in den Lagern der Nationalsozialisten ermordet; andere fielen später dem Terror-Regime Stalins zum Opfer oder wurden ihrer Freiheit und ihres Eigentums beraubt. Ihre Ideale wurden von menschenverachtenden, totalitären Regimen missbraucht. Die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten ist längst bedrückender Teil deutscher Geschichte, längst haben mutige Menschen in West- und Osteuropa ihre Tyrannen verjagt.
Geblieben ist die Bewunderung für den Mut derjenigen, die in schwersten Zeiten Widerstand geleistet hatten und zu ihren Überzeugungen standen. Geblieben ist bis heute auch der enge Zusammenhalt in der Familie Hartog und ihr gesellschaftliches Engagement. Rückblickend und zukunftsweisend schreibt Curt Hartog, Sohn des emigrierten Curt Hartog sen.:
„Unsere Familie Hartog hat überlebt. Ja, wir haben überlebt. Aber wir überlebten nicht als isolierte Individuen sondern durch unsere engen Beziehungen, die uns als Schwestern, und Brüder, Kinder und Eltern verbanden. Mein Wunsch ist, dass meine Kinder und Enkel und die Kinder und Enkel meiner Verwandten in Europa und in den Vereinigten Staaten das niemals vergessen.“
Mehr zur Familie Hartog findet sich im Familienbuch Euregio. Vielleicht haben sich in der Leserschaft noch weitere Informationen, Erinnerungen und Fotos zu dieser Familie Hartog erhalten. Die Familie Curt Hartog j. in den USA würde sich sehr darüber freuen! Man möge sich bitte wenden an: Familienbuch Euregio, Stefan Kahlen, ccalen@web.de