Die „Reichskristallnacht“ in der Kreisstadt Euskirchen

von Hans-Dieter Arntz
Aus: Jahrbuch 2009 des Kreises Euskirchen, S. 34-46
05.01.2009

Für alle religiösen Gemeinschaften ist die Kirche, das Bethaus oder Gotteshaus Zentrum eigenständiger Aktivität und religiöser Besinnung. Insofern gibt das griechische Wort „Synagoge“ sinngemäß den hebräischen Ausdruck für „Haus der Versammlung“ wieder. Nach der Zerstörung der Euskirchener Synagoge am Nachmittag des 10. November 1938 gab es keinen Grund mehr zur Versammlung und Gemeinsamkeit. Viele Juden aus der Voreifel zogen weg, flüchteten ins Ausland oder verharrten in Apathie. Mit dem Brand des jüdischen Gotteshauses in der Annaturmstraße begann die Auflösung der ältesten jüdischen Gemeinde in der Eifel und Voreifel.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und die nächsten 24 Stunden danach, in denen die Nationalsozialisten und deren Schlägertrupps im gesamten Deutschen Reich ein Pogrom initiierten, wurde sprachlich und inhaltlich als „Reichskristallnacht“ verharmlost. Damit sollte wahrscheinlich wohl auch den Eindruck erweckt werden, als wenn man „den reichen Juden nur einen Denkzettel verpasst“ hätte. Durch jedoch hastig geführte Telefonate erfuhren auch die Juden in der Eifel und Voreifel sehr schnell, was sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November schon in einigen größeren Städten des Rheinlandes abgespielt hatte: Synagogen wurden angesteckt, Geschäfte und jüdische Wohnungen zerstört und geplündert.

 

Euskirchener Kaufhauses Horn

Brand des Euskirchener Kaufhauses Horn auf der Kommernerstraße am 10.11.1938

 

Für alle religiösen Gemeinschaften ist die Kirche, das Bethaus oder Gotteshaus Zentrum eigenständiger Aktivität und religiöser Besinnung. Insofern gibt das griechische Wort „Synagoge“ sinngemäß den hebräischen Ausdruck für „Haus der Versammlung“ wieder. Nach der Zerstörung der Euskirchener Synagoge am Nachmittag des 10. November 1938 gab es keinen Grund mehr zur Versammlung und Gemeinsamkeit. Viele Juden aus der Voreifel zogen weg, flüchteten ins Ausland oder verharrten in Apathie. Mit dem Brand des jüdischen Gotteshauses in der Annaturmstraße begann die Auflösung der ältesten jüdischen Gemeinde in der Eifel und Voreifel.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und die nächsten 24 Stunden danach, in denen die Nationalsozialisten und deren Schlägertrupps im gesamten Deutschen Reich ein Pogrom initiierten, wurde sprachlich und inhaltlich als „Reichskristallnacht“ verharmlost. Damit sollte wahrscheinlich wohl auch den Eindruck erweckt werden, als wenn man „den reichen Juden nur einen Denkzettel verpasst“ hätte. Durch jedoch hastig geführte Telefonate erfuhren auch die Juden in der Eifel und Voreifel sehr schnell, was sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November schon in einigen größeren Städten des Rheinlandes abgespielt hatte: Synagogen wurden angesteckt, Geschäfte und jüdische Wohnungen zerstört und geplündert.

Als am 10. November 1938, morgens um 8.15 Uhr, im Euskirchener Landratsamt ein Funkspruch einging, dass sämtliches Archivmaterial und alle wertvollen Schriftstücke der Synagogen sicherzustellen wären, hatte sich in der Kreisstadt noch gar nichts abgespielt. Auch der übliche Hinweis, dass eventuelle Übergriffe der Bevölkerung auf Juden nicht zu steuern, aber Diebstähle, Plünderungen und weitere Brandstiftungen zu verhindern seien, traf ins Leere, denn in Euskirchen und dem ihm zugehörigen Kreisgebiet hatte es noch keine Ausschreitungen gegeben.

Obwohl die Juden seit der Meldung vom Pariser Attentat, dem Tod des Diplomaten vom Rath und den Ausschreitungen in einigen großen Städten des Deutschen Reiches eine unbestimmte Furcht vor dem Kommenden hatten, glaubte man sich „in der Provinz“ und „auf dem Lande“ in Sicherheit. Immerhin war auch bisher in der benachbarten Universitätsstadt Bonn nichts passiert. Als aber die Euskirchener Gymnasialklasse, der der spätere Rechtsanwalt J. G. Stegh angehörte, im Rahmen einer Studienfahrt in der Beethoven-Stadt morgens eintraf, erlebte sie bereits die Zerstörungswut der Nazis und den Brand der Synagoge selber mit.(1) Die meisten Euskirchener Jungen dachten nie daran, dass sie etwas Ähnliches bei ihrer Rückkehr nach Euskirchen noch einmal sehen würden

Aber noch immer war in der Voreifel nichts passiert. Um 11.15 Uhr erreichte ein weiterer Funkspruch die Kreisverwaltung auf der Kölnerstraße. Die Stapo Köln befahl, folgende Anweisung unverzüglich an die Bürgermeistereien weiterzuleiten:(2)

1.               Falls heute Nacht Zerstörungen bei Juden stattgefunden haben, ist gegen die Täter nichts zu veranlassen.

2.               Sollten Fensterscheiben zertrümmert sein, sind diese sofort durch Bretterverschlag zu ersetzen.

3.               Alle Waffen, die sich in Händen von Juden befinden, sind sofort einzuziehen!“

 

Es ist inzwischen bewiesen, dass die „Rollkommandos“ – nachdem die Aktion in Bonn beendet war –, nun am Nachmittag des 10. November 1938 „aufs Land“ kamen. Die Aktenlage gibt bisher keine Hinweise darauf hin, dass die Zerstörungen der „Trupps“ von der Domstadt Köln aus gesteuert wurden. Diesbezüglich gab es offenbar überhaupt keine Kontakte nach Köln oder Düren. Die Zeugenaussagen anlässlich der „Synagogenbrand-Prozesse“ für Münstereifel, Zülpich, Kommern und Mechernich beweisen eindeutig, dass die Drangsalierung der jüdischen Bevölkerung sowie die meisten Zerstörungen – von Ausnahmen wie FLAMERSHEIM abgesehen – hauptsächlich von einheimischen Nationalsozialisten ausgingen. Daher konnten diese Täter schnell identifiziert werden. Tatsache scheint es aber auch zu sein, dass die eigentliche Brandlegung, wegen der Anonymität von fanatischen Auswärtigen, den „Rollkommandos“ überlassen blieb.

Die Rekonstruktion des Pogroms in Euskirchen-Stadt setzt sich auch aus vielen Interviews mit Nachbarn der Synagoge, Augenzeugen und heute meist im Ausland lebenden Juden zusammen (1976-2008). Sehr detaillierte Polizeiakten und Gerichtsunterlagen – aber nicht nur aus der Nachkriegszeit (!)– können zudem einen weiteren Einblick vermitteln. Abschließend sollen neuere und zusammenfassende Erkenntnisse den Novemberpogrom in der Kreisstadt Euskirchen versachlichen.

Der Donnerstag, 10. November 1938, war ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich sonniger und verhältnismäßig warmer Tag. Etwa gegen 13 Uhr hörten die Bewohner der Annaturmstraße, in der sich auch die größte Synagoge der Voreifel befand, splitterndes Glas und Zerschlagen von Mobiliar. Der Krach war deswegen besonders gut zu hören, weil wegen der Mittagszeit wenig Verkehr auf der Straße herrschte. Wie sich später herausstellte, hatte der SA-Standartenführer So(…) fernmündlich dem SA-Sturmführer Sp(…) bereits am Vormittag den Befehl gegeben, alle erreichbaren SA-Männer mittags in der Schlosserei Rövenich am Kahlen-Turm antreten zu lassen. Hier wurden diese angewiesen, „mit dem Sturm auf die Synagoge zu beginnen.“ Etwa 30-35 Euskirchener SA-Männer kamen dem Befehl nach. „Darauf ging es durch stille Seitenstraßen im Gänsemarsch zur Synagoge zur Annaturmstraße. Inzwischen waren bereits andere SA-Männer im Kraftwagen dorthin gefahren und hatten die Türe aufgebrochen.“ Die im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf lagernden Bonner Gerichtsunterlagen(3) konstatieren auch: „Die Horde drang in das Gotteshaus ein und ‚räumte auf‘.“ Dabei tat sich der Euskirchener SA-Mann K(…) besonders hervor. Er legte das Gewand von Rabbiner Bayer an und „sprang während der Zerstörungsarbeit seiner Kameraden in der Synagoge umher.“

Der Lärm und die aufgeheizte Pogromstimmung steigerten sich ungemein. Vom Dachboden eines schräg gegenüberliegenden Hauses machte ein dem Autor dieser Zeilen bekannter Fotograf eine Fotoserie, die vom historischen Standpunkt aus sehr selten und aussagestark ist. Sie demonstriert die einzelnen Phasen der „Reichskristallnacht“ in der Kreisstadt Euskirchen. Erst nach dem Kriege machte der Fotograf anonym den belichteten Film der Stadtverwaltung zugänglich. Die Bilder zeigen eindeutig, wie die Euskirchener Bevölkerung den Synagogenbrand miterleben konnte. Sie konnte ungehindert Zeuge werden und durch Fenster und Eingangsportal in das Gebäude hineinsehen. Erst nach der Brandlegung sowie der entstehenden Rauchentwicklung zogen sich die Menschen in den hinteren Teil der Annaturmstraße zurück, konnten auch von dort aus die weitere Entwicklung beobachten. Alles geschah am frühen Nachmittag, dem 10. November 1938, bei hellem Licht und klarer Sicht.

Das letzte Foto der Serie erhält einen weiteren historischen Wert: obwohl ein Löschen der Synagogenbrände verboten war, zeigt es einen Euskirchener Feuerwehrmann, der den Wasserstrahl durch das Eingangsportal in das jüdische Gotteshaus richtet. Im Hintergrund sieht man die Euskirchener Bevölkerung, die im Abstand die angeblichen „Löscharbeiten“ beobachtet. Darunter befinden sich auch viele Schulkinder, die zwei Stunden später singend im Martinszug durch die Innenstadt ziehen und trotz der eingetretenen Dunkelheit von der oberen Annaturmstraße her die rauchenden Synagogenruine und eine mehrköpfige Brandwache der Euskirchener Feuerwehr sehen werden.

Die Ereignisse überschlugen sich nach der ersten Zerstörungsarbeit der Euskirchener SA-Männer. Etwa in der Zeit zwischen 13.30 und 14 Uhr sah man drei Lastwagen die Neustraße herunterfahren und am Marktplatz halten. Von hier waren es nur noch 100 Meter bis zu dem jüdischen Gotteshaus. Es war augenscheinlich, dass sie die weiteren 30-40 Männer – meist in Zivilkleidung – hierhin gebracht hatten. Wegen der ungeklärten Zeitspanne ist bisher unklar, ob sie sich noch an den Zerstörungen beteiligten oder ob sie die inzwischen fanatisierten Euskirchener auffordern wollten, auf die Lastwagen zu steigen und sie bei der Fahrt in andere Ortschaften zu begleiten. Es ist nämlich eine Tatsache, dass die Euskirchener SA auch an den Zerstörungen der Synagoge in Kommern beteiligt war. Die Lastwagen fuhren dann sogar noch nach Mechernich, Münstereifel und Flamersheim. Hier beschränkte man sich darauf, in meist angetrunkenem Zustand nationalsozialistische Parolen zu schreien und die Bevölkerung aufzuhetzen. Für die Euskirchener SA-Männer gab es deswegen keine Arbeit mehr, weil in Mechernich die örtliche SA gemeinsam mit den Trupps aus Gemünd/Schleiden bereits aktiv gewesen war und dasselbe die Bonner Rollkommandos schon in Flamersheim beendet hatten.

Das Titelbild des gerade erschienenen Dokumentationsbandes „REICHSKRISTALLNACHT“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande zeigt diskutierende Passanten, Schaulustige und Anwohner vor der Synagoge. Zerrissene Gebetbücher und herausgerissene Seiten liegen auf der engen Annaturmstraße. Aus einem heute noch bestehenden Modehaus kommen Kunden, Angestellte und Hausbewohner offenbar eilig heraus. Drei Hakenkreuzfahnen bestimmen die gespenstige Pogromszene. Nicht zu sehen sind die unmittelbaren Nachbarn, die durch Radiosendungen darüber informiert worden sind, was noch geschehen könnte. Angehörige der Familie Sch. bestätigten, dass sie sogar zwei Gartenschläuche bereit gelegt hatten; zu nah war die Nachbarschaft ihres Geschäftes mit dem jüdischen Gotteshaus. Nur die gegenüberliegende Bäckerei demonstrierte mit drei großen Hakenkreuzfahnen eine nationalsozialistische Gesinnung.

Zu den ersten Schaulustigen gehörte der damals 13jährige D(…), der in der Baumstraße wohnte und eigentlich noch von 14 bis 16 Uhr Unterricht hatte. Mit einigen anderen Kindern konnte er durch die weit geöffneten Fenster der Synagoge die Zerstörungswut der ihm unbekannten Männer deutlich beobachten. Tatsächlich beweisen erhalten gebliebene Fotos, dass sich sofort nach den ersten Zerstörungen etwa 30 bis 40 Menschen in der engen Annaturmstraße versammelten, zusahen oder auch diskutierten. Einige Jungen ziehen sich an den etwa 1,30 m hohen Fensterbrüstungen hoch, während zwei SA-Leute das Treiben in der Synagoge durch ein offenes Fenster beobachten und die neben ihnen herumturnenden Kinder gewähren lassen. Blätter aus Gesangbüchern liegen verstreut auf der Straße. Reguläre Polizei und Feuerwehr ist nicht zu sehen.

Der 13jährige Westschüler D., wohl einer der ersten am Tatort, sah nun, wie sich die vielen Männer wieder zurückzogen und in den Wagen davonbrausten. Einige Zeit danach betraten andere Männer mit zwei Benzinkanistern die Synagoge. Es hat später ein großes Rätselraten gegeben, wer diese Leute waren. Klärung hierzu könnte u. a. die eidesstattliche Erklärung von P. H. aus der Entnazifizierungszeit 1946 geben:

(…) Ich wohnte in unmittelbarer Nähe der Synagoge und konnte daher die Vorgänge genau beobachten. An dem betreffenden Nachmittage stand ich vor meinem Hause, welches sich auf derselben Straßenseite befindet, und sah den Vorgängen zu, die sich an derselben abspielten. Plötzlich hielt ein offener Personenwagen vor der Synagoge, dem zwei SS-Leute entstiegen, ein großer und ein kleiner Mann. Diese gingen mit zwei Benzinkanistern in die Synagoge, kamen nach kurzer Zeit wieder hinaus und fuhren davon. Nach einigen Minuten schlugen an derselben die Flammen heraus, und das Feuer fraß sich weiter(…).(4)

Eine weitere eidesstattliche Erklärung aus dem gleichen Verfahren scheint diese Aussage zu bestätigen:

Am Nachmittag des 10. Novembers 1938 stand ich mit anderen Neugierigen in der Annaturmstraße, schräg gegenüber der Synagoge, in der Nähe der Bäckerei K(…) und sah dem Treiben der halbwüchsigen Jugend zu, welche Gegenstände, die beim Gottesdienst gebraucht wurden, herunterwarfen und missbrauchten. Plötzlich fuhr ein Auto an die Synagoge heran, dem zwei Herren in Uniform entstiegen (mir unbekannt) und in die Synagoge hineingingen. Nach kurzer Zeit kamen sie wieder heraus und fuhren davon. Nach einigen Minuten schlugen an der Synagoge die Flammen heraus, und das Feuer griff weiter um sich (…).(5)

Es ist zwar schwer vorstellbar, dass bei der jetzt großen Anzahl der Schaulustigen noch ein vorfahrendes Auto Platz finden konnte, aber es könnte sein, dass der Wagen fast zeitgleich mit der Euskirchener SA eingetroffen war. Das bereits erwähnte Foto zeigt nämlich nicht nur die erste Auswirkung der Verwüstungen – einschließlich einer Thorarolle, die ausgerollt über der Balustrade am Eingangsportal hängt –, sondern auch schon die ersten Rauchschwaden.

Wer die Männer waren, die nach der Zerstörung durch das Rollkommando in der Euskirchener Synagoge Feuer legten, scheint nach diesbezüglichen Recherchen in letzter Konsequenz immer noch fraglich. Im Tivoli-Gelände an der Kölnerstraße – da, wo sich heute die Stadtverwaltung befindet (d. V.) –, waren seit 1938 „Westwall-Arbeiter“ untergebracht, die von hier aus zu den Arbeiten am Westwall gebracht wurden. Für die Lebensmittelbeschaffung waren einige Euskirchener verpflichtet worden. Einer von diesen hat dem Verfasser glaubwürdig erklärt, dass die Brandstifter auch in diesen Kreisen zu suchen sein müssten. Die Leitung des Euskirchener Lagers unterstand einigen SS-Leuten, die wohl auch – in kleiner Anzahl – als Mitglieder des Wachbataillon der Ordensburg Vogelsang fungierten. Ihr Führer war dem Euskirchener, der übrigens nie selbst der NSDAP oder anderen politischen Formationen angehörte, persönlich bekannt, weil er ihn oft in Uniform gesehen hatte, als er die Lebensmittel anlieferte.

Diesen Anführer persönlich sah der Euskirchener angeblich am 10. November 1938 mit einem anderen Mann und einem Fahrer – alle ohne Uniform – am frühen Nachmittag. Der deutsche Kübelwagen kam die Neustraße heruntergefahren und steuerte sofort die Synagoge an. Der Zeuge, der selber übrigens nur in Steinwurfnähe wohnte, erblickte sofort einige Kanister in dem offenen Geländewagen. Vor seinen Laden hatte sich jetzt der Euskirchener Nationalsozialist K(…) postiert und meinte: „Jetzt jeht et loss! -Jetzt jeht et de Jüdde an de Krage!“

Die drei Männer, die ein weiterer Zeuge(6) als angeblich niedersächsische SA-Männer identifiziert haben will, wollten durch den Haupteingang in das jüdische Gotteshaus hineingehen, was aber nicht möglich war, weil er noch abgeschlossen war. Daher wählte man den rechten Nebeneingang und trug mindestens zwei Benzinkanister hinein. Einige Minuten später wurde das Hauptportal von innen gewaltsam aufgerissen, so dass die zuschauenden Euskirchener deutlich sehen konnten, wie innen Benzin auf den Boden und einige Möbel geschüttet wurde. Insofern könnte die Aussage des Standartenführers So(…) stimmen, nach der andere Männer mit einem Kraftwagen vorgefahren wären und für die Öffnung der Synagogentüre gesorgt hätten.

Der Westschüler D. konnte mit zwei anderen Jungen sogar in die Synagoge hineingehen, ohne dass er daran gehindert wurde. Er versicherte dem Autor dieser Dokumentation glaubhaft, dass anfangs jeder Interessent die Möglichkeit gehabt hätte, das Gebäude zu betreten, da die Männer fortgefahren waren und sich keiner um sie gekümmert hätte. D(…) kannte sich in dem jüdischen Gotteshaus gut aus, war er doch eng mit der Familie Orchan befreundet gewesen und hatte in ihrer Gesellschaft oft die Synagoge besucht.

D(…) sah, dass im Vorschiff Brennbares aufgeschichtet, mit Benzin übergossen und angesteckt worden war. Inzwischen versuchten ein Mann und ein weiß gekleideter Bäckerjunge vergeblich, auf die große Kuppel der Synagoge zu klettern. Noch heute stellt man darüber Mutmaßungen an, ob diese zwei Personen den Davidsstern absägen oder ein Loch in die Kuppel schlagen wollten, um die Feuersbrunst zu steigern. Erst jetzt mussten die genannten Westschüler das Gebäude verlassen. Dabei sahen sie am Kirchwall die wartende Feuerwehr, die aber noch nicht eingriff.
 
Der dunkle Qualm wurde von dem jüdischen Pferdehändler Edmund Billig sofort bemerkt, als er sich aus seinem in der Nachbarschaft gelegenen Haus in den Hof begeben wollte, um Mist aufzuladen. Daraufhin soll er wohl vorgehabt haben, in die Synagoge zu laufen, um wichtiges Inventar und die Thorarollen zu retten; aber die gaffenden Euskirchener und unter ihnen besonders überzeugte Nationalsozialisten hinderten ihn daran. Euskirchener SA-Männer beschlagnahmten mehrere Fotoapparate der Zuschauer. Dennoch wurde eine Anzahl von brauchbaren Fotos gemacht, die den Ablauf des Euskirchener Pogroms festhalten und deutlich die nationalsozialistische Provokation festhalten: eine Thorarolle, die bis zum Brand von der Balustrade der ersten Etage der Synagoge herunterhängt. All das hat sich zwischen 13 und 14 Uhr abgespielt.

Als um 14 Uhr der Unterricht in der Westschule und den in der Nordschule ausgelagerten Klassen begann, erschienen einige Schüler mit liturgischen Büchern. Lehrer Bläser veranlasste die Jugendlichen, diese unverzüglich zurückzubringen. M. warf sie in die Flammen des jüdischen Gotteshauses. Der inzwischen verstorbene M(…) soll sogar eine Thorarolle gestohlen haben. In der großen Pause – etwa gegen 15 Uhr – stolzierte ein Oberstufen-Schüler mit dem Talar des Rabbiners über den Schulhof und wurde vom gleichen Pädagogen mit dem Argument zurückgeschickt, dass er so etwas auch nicht mit dem Ornat eines katholischen Priesters tun würde. Vom Schulhof aus hatte man inzwischen einen recht guten Blick auf die qualmende Kuppel der Synagoge, die 1887 unter Anteilnahme der gesamten Euskirchener Bevölkerung eingeweiht worden war. Nun brannte das Gebäude vor den Augen der Bevölkerung total aus und stürzte danach teilweise ein.

Feuerwehrmann Christoph Schmitz gehörte zu den etwa 30 Männern, die die Nachbarhäuser der Synagoge zu schützen hatten. Da die Hitze jedoch inzwischen zu groß geworden war und das Feuer längst Dach und Kuppel erreicht hatte, sodass auch das Mauerwerk teilweise einstürzte, beschränkten sich die Feuerwehrmänner hauptsächlich auf die Absperrung der mittleren Annaturmstraße sowie Sicherung der Nachbarhäuser. Keiner der Feuerwehrleute war offiziell angewiesen worden, die Synagoge ausbrennen zu lassen. So zeigt auch noch heute ein Foto, wie ein Wasserstrahl durch das Hauptportal ins Innere des Gebäudes geht. Mit dem Kollegen J. M(…) musste Christoph Schmitz die hinteren Mauern kühlen, als plötzlich mit Getöse die Zinnen des Turmes herunterprasselten. Nur im letzten Moment konnte man zur Seite springen.

Der SA-Führer Sp(…) gab in der Bonner Gerichtsverhandlung im Jahre 1947 an, dass er als Führer eines Feuerlöschzuges angeblich zuerst noch die Brandlegung verhindern wollte, sich dann aber „resigniert zurückgezogen und nur noch sprachlos zugesehen“ habe. Paradox wirkte es, dass er sich am frühen Abend, nachdem er mit seinem Rollkommando in Kommern, Mechernich, Münstereifel und Flamersheim gewesen war, wieder in die Euskirchener Feuerwehr eingliederte und zumindest bis nach dem Martinszug die Feuerwache gehalten haben will. Vergesslichkeit gab 1947 auch der Scharführer Th(…) vor, ein Mann, dem der Medizinalrat bescheinigte, dass er wegen angeborenen Schwachsinns nicht zurechnungsfähig sei.

Etwa gegen 14.30 hatte die Feuerwehr erneut Großalarm. Ein Kraftwagen der jüdischen Familie Horn stand auf dem Annaturmplatz in Flammen. Offenbar waren die auswärtigen Brandstifter von hämischen Einheimischen auf das parkende Auto aufmerksam gemacht worden. Nach der Zerstörung der Euskirchener Synagoge und des Kraftwagens zog das gesamte Rollkommando mit Hunderten von Anwohnern zu dem Möbelhaus Horn, wo ebenfalls – „von Unbekannten“ – Feuer gelegt wurde. Die vielen Schaulustigen mussten von Aufsichtskräften zurückgedrängt werden. Vorsichtshalber waren Gitter vor dem brennenden Geschäft installiert worden. Ob man diejenigen zurückhalten wollte, die in den Büroräumen nach Unterlagen ihrer Ratenkäufe suchten, oder nur ordnungsgemäß die Brandgefahr eingrenzen wollte, könnte gefragt werden.

Vier erhalten gebliebene Fotos dokumentieren die Szenen vor und hinter dem Möbelhaus Horn, beinahe an der Ecke Kommernerstraße/Frauenbergerstraße. Alles geschah noch am frühen Nachmittag, bei gutem Tageslicht. Dennoch wollte selbst bei der Bonner Gerichtsverhandlung im Jahre 1947 keiner etwas gesehen haben. Auch hier konnten die Brandstifter nicht benannt werden.

Als die Meldung eintraf, dass das jüdische Möbelhaus Horn auf der Kommernerstraße brannte, wurde sofort ein Zug der Feuerwehrmänner abgezogen, weil die Tankstelle des benachbarten Autohauses Ruland stark gefährdet war.(7) Nach Aussage des damaligen Löschführers Schn. galt auch für den zweiten Zug keineswegs die Losung, dass jüdischer Besitz nicht gelöscht werden sollte. Zumindest wusste zu dem Zeitpunkt keiner etwas davon. Im Gegenteil! Fotos beweisen deutlich, dass sich die Euskirchener Feuerwehr nicht nur auf die Sicherung der Nachbarhäuser konzentrierte, sondern auch das Haus Horn von vorn und hinten mit Wasser belegte. Wegen der nahe gelegenen Tanksäule allerdings lag das Hauptinteresse der Feuerwehr darin, eine Explosion zu verhindern.

Es gibt genügend Beispiele dafür, dass auch Euskirchener Nationalsozialisten ihr Mütchen kühlten. Nach Berichten von zwei Augenzeugen soll doch ein stadtbekannter Euskirchener an der Brandlegung des Möbelhauses Horn beteiligt gewesen sein. Nicht nur der Ehrenbürger Eduard Göring (SPD) bestätigte im Jahre 1979 mir gegenüber, dass der jüngste Sohn des Geschäftsinhabers, Kurt Horn, vor dem väterlichen Hause jämmerlich geschlagen wurde. Daran erinnerte sich Kurt Horn auch noch im Herbst 1997, obwohl er inzwischen sehr erkrankt in North Miami Beach in einem Heim lebte und von der Vergangenheit nichts mehr wissen wollte.

Am 31. August 2008 wies der Amerikaner Jeffrey Horn, Sohn von Kurt Horn, schriftlich auf folgenden wichtigen Tatbestand hin:

Mein Vater suchte daraufhin Schutz bei der Euskirchener Polizei, die ihn auf seinen eige­nen Wunsch hin im Gefängnis unterbrachte. Er wurde also nicht als Jude eingesperrt, sondern - und das ist wichtig! - vor dem Euskirchener Mob geschützt.

Beim „Euskirchener Synagogenbrand-Prozess“ im Sommer 1947 wurde den nur noch wenigen Beschuldigten detailliertes Belastungsmaterial vorgelegt. Da sich mehrere Euskirchener durch besondere „Sühne-Maßnahmen“ und „Persilscheine“ vorzeitig der Anklage entziehen konnten, kam es vor den Bonner Gerichtsschranken nur noch zu einem Prozess gegen eine Handvoll Euskirchener SA-Männer. Aber damit waren dann wirklich die Ermittlungen in Bezug auf den Synagogenbrand von Euskirchen endgültig abgeschlossen. Am 15. Juli 1947 veröffentlichte die Rundschau das Bonner Gerichtsurteil sowie dessen Begründung zum „Synagogensturm in Euskirchen.“ Der Zeitungsbericht nennt alle Täter mit vollem Namen. Die folgende Wiedergabe des ansonsten vollständigen Zeitungsartikels verzichtet jedoch an dieser Stelle absichtlich darauf, entspricht aber ansonsten dem Original:

Der Synagogensturm in Euskirchen

Euskirchen. In einer Verhandlung vor der Bonner Strafkammer entrollte sich noch einmal das Bild jener düsteren Novembertage des Jahres 1938, an denen organisierte Terrorbanden der Nazis gegen Synagogen und jüdische Geschäftshäuser wüteten. Auch im Kreise Euskirchen sollte der Sturm auf die Synagogen unter dem Anschein einer spontanen Volkskundgebung durchgeführt werden.

Der SA-Standartenführer So(…) übermittelte am Morgen des 10. Novembers dem SA-Sturmführer Sp(…) fernmündlich den Befehl, dass alle erreichbaren SA-Männer mittags in der Schlosserei Rövenich am Kahlen-Turm anzutreten hätten. Dort sam­melten sich etwa 30 bis 35 Mann, die von Sp(…) erfuhren, dass der Sturm gegen die jüdischen Gotteshäuser beginne. Darauf ging es durch stille Seitenstraßen im Gänsemarsch zur Synagoge an der Annaturmstraße. Inzwischen waren bereits andere SA-Männer im Kraftwagen dorthin gefahren und hatten die Türe aufgebrochen. Die Horde drang in das Gotteshaus ein und ‚räumte auf.‘

Sp(…), der heute 64 Jahre alt ist, schilderte als Angeklagter, wie er als Führer eines Feuerlöschzuges in Euskirchen zunächst noch verhindert habe, dass bei dieser Aktion Brand angelegt wurde. Er selbst habe sich an der Zerstörung der Inneneinrichtung nicht beteiligt, sondern nur zugesehen. Auch der 67 Jahre alte Oberscharführer J. (K…) will nicht aktiv eingegriffen haben. Er sei nur befehlsgemäß mitgegangen und habe sich bald wieder entfernt, weil er solchen Frevel nicht habe mitmachen wollen. H. K(…), heute 35 Jahre alt, hat sich dagegen besonders hervorgetan. Er legte sich, wie er selbst eingesteht, ein zum Ritus bestimmtes Gewand an und sprang damit während der Zerstörungsarbeit seiner Kameraden in der Synagoge umher. K(…) soll auch die Bundeslade zerstört haben, streitet dies aber in der Verhandlung entschieden ab. Der Scharführer W. D(…), 32 Jahre alt, widerruft das frühere Geständnis, dass er an den Ausschreitungen teilgenommen habe. Völlig passiv schließlich will sich auch der 37 Jahre alte Scharführer M. St(…) verhalten haben. Schließlich war da noch der Scharführer H. Th(…), ein Mann, dem der Medizinalrat bescheinigt, dass er wegen angeborenen Schwachsinns nicht zurechnungsfähig sei bei der Rotte.

Von der Synagoge zog die Bande zum Warenhaus Horn an der Kommernerstraße. Der Angeklagte St(…) gibt zu, dort Ballen Stoff auf die Erde geworfen zu haben. Anschließend bestiegen die SA-Männer einen Lastzug und fuhren nach Kommern, wo ebenfalls die Synagoge zerstört wurde. Standartenführer So(…), so behaupten mehrere Angeklagte, habe einen Benzinkanister in das Gebäude geworfen. Dann seien sie weiter nach Mechernich gefahren. Dort hätten bereits Mechernicher und Schleidener SA-Männer das Zerstörungswerk im jüdischen Bethaus durchgeführt gehabt, während St(…) behauptet, mehrere der Euskirchener SA-Männer seien noch in die Synagoge eingedrungen. Dann brach in Münstereifel der Sturm gegen Synagoge und jüdische Geschäftshäuser los. Die Angeklagten wollen diese Arbeit aber der Münstereifeler SA überlassen haben. Auch in Flamersheim sei man bereits dabei gewesen, das jüdische Bethaus mit der Kreuzhacke niederzulegen, so dass man sich zur Rückkehr nach Euskirchen entschlossen habe. Bei ihrem Eintreffen in Euskirchen wollen die Angeklagten gehört haben, dass am frühen Nachmittag die Synagoge und das Warenhaus Horn von ortsfremden Elementen in Brand gesteckt worden seien. Der Angeklagte Sp(…) habe sich sofort zur Feuerwehr begeben, um sich an den Löscharbeiten zu beteiligen, die sich allerdings auf den Schutz der Nachbarschaft beschränkten.

Vor der Strafkammer versuchten die Angeklagten, sich als harmlose Mitläufer hinzustellen. Unbekannte hätten die Aktion in Wirklichkeit durchgeführt. So bleibt nur die Beteiligung an der Zusammenrottung übrig, deren sich die Angeklagten im Sinne des Landfriedensbruches schuldig gemacht haben. Die Persönlichkeit der Angeklagten lässt aber keinen Zweifel darüber, dass es sich bei ihnen um Männer handelt, denen mehr zuzutrauen ist als eine harmlose Zuschauerrolle. Sogar der alte Kämpfer Th(…) dem das Gericht wegen angeborenen Schwachsinns den Paragraphen 51 zubilligen musste, hatte es bei den Nazis zu Rang und Ansehen gebracht.

Die Strafkammer verurteilte H.K(…) zu einem Jahr, W. D(…) zu neun Monaten, M. St(…) zu sieben Monaten, E. Sp(…) zu sechs Monaten und J. K(…) zu vier Monaten Gefängnis. Wenn auch diese Angeklagten, so führte der Vorsitzende in der Urteilsbegründung aus, nicht zu den geistigen Urhebern der Verbrechen vom 9. und 10. November 1938 gehörten, so hätten sie doch dafür einzustehen, dass sie als gefügige Diener einer ruchlos und verbrecherisch handelnden Parteileitung nicht die Hemmungen aufgebracht hätten, um den ihnen erteilten Befehlen den nötigen Widerstand entgegenzusetzen.“(8)

Viele Gerichtsunterlagen und Zeugenausssagen wurden im „Euskirchener Synagogenbrand-Prozess“, der vor dem Bonner Gericht stattfand, aus verschienen Gründen gar nicht berücksichtigt. Weitere jüdische Geschäfte im Stadtzentrum und Wohnungen wurden geplündert und demoliert. Da die meisten Juden im Laufe der Jahre bereits ihre wirtschaftliche Existenz verloren hatten und nur von ihnen zugeteilten Gelegenheitsarbeiten lebten, traf sie die Vernichtung ihres Privatbesitzes besonders schmerzlich. Das Eindringen in das Gemischtwarengeschäft Lion auf der Adolf-Hitler-Straße (Hochstraße) ist noch vielen in Erinnerung. Hier ließ mancher der jüngeren Zuschauer nachher die Feuerwerkskörper mitgehen, die am Tage darauf auch in Frauenberg oder anderen kleinen Ortschaften in das Martinsfeuer geworfen wurden. Die alte Mutter Rosalie, geb. Herz, sah von der 1. Etage aus ängstlich auf die tobende Menge herunter.

Der bereits erwähnte Gymnasiast J. G. Stegh, der in der benachbarten Kapellenstraße wohnte, war mit seinen Klassenkameraden inzwischen vom Schulausflug aus Bonn zurückgekehrt und wurde Zeuge, wie die Fanatiker gegen 16 Uhr das Geschäft des „Feuerwerkers Lion“ berannten:

(…) Diese hatten einen Rammbaum und versuchten damit, die verschlossene Türe zu erstürmen. Alfred Lion stand am Fenster der 1. Etage, hatte sein Eisernes Kreuz und andere Militärorden angesteckt und beschwor die vielen ihm meist bekannten Stadtbewohner, einen ‚gedienten‘ Deutschen in Frieden zu lassen. Ich erinnere mich an einen Polizeibeamten in Uniform, der die Bevölkerung von der Gruppe der ‚Störenfriede‘ abdrängte. Schließlich wurde die Haustüre der Lions aufgestoßen. Man transportierte die männlichen Hausbewohner ab, wobei man nicht sanft mit ihnen umging.(9)

Auch andere jüdische Wohnungen und Geschäfte wurden nicht verschont. Bestürzt stand Eva Israel mit ihrem Mann vor der Wohnung in der Grünstraße und klagte jedem Passanten, dass zwei Söhne im 1. Weltkriege für das Vaterland gefallen seien, und nun so etwas geschehe. In der seriösen, wohlhabend ausgestatteten Metzgerei Julius Kahn in der Rathausgasse tobten sich inzwischen zwei Euskirchener Nazis aus und zerschlugen mit einem großen Vorschlaghammer die wertvolle marmorne Ladentheke sowie die gesamte Einrichtung, die aus Mahagoni war und den Kunden schon immer imponiert hatte.

Die zerstörten Fensterscheiben und die auf der Neustraße herumliegenden Waren motivierten manchen Euskirchener Bürger zur Selbstbedienung. Beliebt waren bei einigen Frauen die Hüte des Putz- und Modegeschäftes Selma Meyer.

Viele Euskirchener zogen an diesem Nachmittag des 10. November 1938 systematisch durch die Stadt, um sich von den Zerstörungen in den ihnen bekannten jüdischen Häusern persönlich zu überzeugen. Schlimm sah es zum Beispiel auch im Erdgeschoß des Hauses Adolf-Hitler-Straße 56 aus, das dem ehemaligen Fuhrunternehmer und Metzgereibelieferer Isidor Marx gehörte. Die aus Flamersheim stammende Familie Hermann wohnte damals auf der zweiten Etage mit der Familie Marx, einem Vetter von Mutter Regina Hermann, geb. Daniel. Auch die Familien Rolef und Pfeuffer lebten im Hause Marx. Sibylla Hermann (1913-1980) hatte 1932 bei den Dominikanerinnen in Euskirchen das Abitur mit „gut“ bestanden, aber wegen ihres jüdischen Glaubens keine Möglichkeit zur Weiterbildung bekommen. Bis 1938 nahm sie eine Tätigkeit als Hausgehilfin in Essen an. Dort erlebte sie bereits am 9. November den Pogrom, so dass sie erschreckt zu ihrer Familie nach Euskirchen abreiste:

Am 10. November bin ich gleich nach Euskirchen gefahren und kam mittags an (…).In dem Haus Hochstraße (eigentlich hieß sie seit 1933 Adolf-Hitler-Straße) war von oben bis unten alles zerstört. Ich sah kein Stückchen, das noch heil war. Frau Marx, die wirklich viele Euskirchener kannte, sagte damals, dass kein ‚Euskirchener Junge‘ unter den Fanatikern in ihrem Hause war. Sie kamen im Lastwagen aus der Umgebung. Herr Marx war abgeführt worden, aber sein Sohn Erich und mein Bruder Hans waren durch den Garten entkommen. Wir wussten wochenlang nichts von ihnen (…). Als ich den Zustand im Hause Marx sah (…), musste ich erst einmal die Scherben aufkehren. Aber das Unheimliche war die Verwüstung hinter dem Metzgerei-Bedarfsartikel-Geschäft. Alle Gewürze waren aus den Säcken ausgeschüttet worden, und darüber hatten die Idioten die vielen Einmachgläser geleert, womit ein großer Schrank gefüllt war. Wir brauchten Tage, um diesen stinkenden Morast loszuwerden.

Abends waren die Fenster so gut wie möglich verbarrikadiert. Zu unserem Schrecken fanden wir eine besonders große Axt in einer Ecke im Hof. Das war eine ‚Waffe‘, die jetzt kein Jude mehr besitzen durfte. Wir Frauen schliefen alle im selben Zimmer, das heißt, wir hatten zu viel Angst, um überhaupt richtig zu schlafen. Aber am nächsten Morgen lieferte ich die Axt bei der Polizei ab (…). Herr Marx landete in Dachau. Ich beschloss, in Euskirchen zu bleiben und musste mich bei der Polizei anmelden. Da aber seit 1935 den Juden der Zuzug verboten war – und ich war doch in Euskirchen geboren (!) –, meldete ich mich bei der Familie Juhl in Zülpich an (…).(10)

Nachdem es im Stadtgebiet nicht mehr so viel zu sehen gab, zogen viele Schaulustige zum Hause des Rabbiner Bayer, der in einem Neubau auf der Billigerstraße wohnte. H. J. Stegh erinnert sich:

Als ich hinkam, wurde dort die Bevölkerung von Uniformierten zurückgedrängt. Die Euskirchener Parteibonzen verlangten den Zugang zu der Wohnung des Rabbiners. Dieser stand mit anderen am Fenster des grün verputzten Hauses und verteidigte sich und die Sache der Juden mit Worten (…).(11)

Rabbiner Bayer, der seit Beginn der 30er Jahre in der Kreisstadt gewirkt hatte und sich mit seiner Familie im Frühjahr 1939 in die Vereinigten Staaten retten konnte, verlebte seinen Lebensabend bei einem seiner beiden Söhne (Raphael) in Jerusalem. In einem Brief erinnerte sich an diesen schrecklichen Nachmittag des 10. November 1938 in Euskirchen und ergänzte, dass er am Abend mit mehreren Gemeindemitgliedern in seiner Wohnung lange für den Frieden gebetet habe.(12)

Unversehrt blieben u. a. die Wohnungen der Familien Fröhlich/Schnog/Cleffmann in der Bischofstraße 21. Die einstigen Besitzer der florierenden Metzgerei hatten immer noch Sympathien bei der Bevölkerung, so dass eine Zerstörung ihrer Wohnung angeblich gar nicht erst versucht wurde. Auch die Familie Heymann in der Neustraße erlitt nichts Böses, wie der in Australien lebende Sohn Frank erinnerte. Die in der Ursulinenstraße 12 wohnende Familie Mainzer sowie die benachbarten Isidor und Sofia Mayer wurden ebenfalls nicht belästigt.

Das Gerücht, dass sich „Junker“ von der Ordensburg Vogelsang an den Verwüstungen in der Adolf-Hitler-Straße beteiligten, konnte jedoch nicht detailliert belegt werden. Eine unbestrittene Tatsache ist es aber, dass prominente Euskirchener Nationalsozialisten oder Vertreter der Stadt an diesem Nachmittag nicht im Stadtzentrum gesehen wurden. Bekannt wurde jedoch, dass die SS und SA am folgenden Nachmittag einen Appell hatte, nach dem wohl der alte und neue Euskirchener Judenfriedhof verwüstet wurde. Falsch ist die Behauptung,(13) jüdische Männer seien vor der brennenden Synagoge auf einem LKW hin- und hergefahren worden.

Der am Abend durchgeführte Martinszug wurde auf einer plötzlich leicht geänderten Route dennoch planmäßig beendet. Er konnte wegen der noch herumliegenden Wasserschläuche nicht durch die untere Annaturmstraße ziehen. Noch immer hielten hier etwa 15 Männer Brandwache. Allerdings zogen alle Schulkinder an dem ausgebrannten Wagen des jüdischen Kaufmannes Horn auf dem Annaturmplatz vorbei. Zuschauende SA-Männer sollen hier antisemitische Lieder gesungen haben.

Josef Heymann, der letzte Vorsteher der Synagogengemeinde Euskirchen, meinte nach dem Pogrom in Euskirchen zu seinem damals 16jährigen Sohn Friedrich (Frank), „dass man sogar von Glück reden könne, im Rheinland zu leben, weil gerade hier die hauptsächlich katholische Bevölkerung mehr Sympathie den Juden gegenüber“ habe „als die Menschen anderswo.“(14)

Angeblich soll es sogar etwas wie Widerstand gegen die Plünderer gegeben haben. Nach Angaben des 1981 verstorbenen Arthur Israel (Isdale) versammelten sich zahlreiche Menschen vor den Häusern von Ludwig Jülich und Siegmund Schweizer, um den Zerstörern den Zutritt zu erschweren. „Hier gelang den Angreifern nichts.“(15) Ein ähnliches Erlebnis schildert mir der heute in den USA lebende Hans Hermann, der im Hause Isidor Marx die „Kristallnacht“ selber miterlebte:

An diesem Tage waren meine Mutter, Isidor Marx mit Frau und Sohn Erich sowie ich selber in den Wohnungen der damaligen Adolf-Hitler-Straße 56, die über den Geschäftsräumen gelegen waren. Die Nazis brachen ein und zerstörten alles. Sie waren aber nicht von Euskirchen oder aus der nahen Umgebung. Ich kannte aber einen Mann. Dieser stellte sich im Treppenhaus mit ausgebreiteten Armen auf und verweigerte so den anderen die Treppe, die zu unseren Wohnungen führte. Sehr wahrscheinlich verhinderte er körperliche Verletzungen.(16)

Die Euskirchener Ordnungspolizei und die kommunalen Beamten waren an diesem Nachmittag des 10. November 1938 machtlos. Der ehemalige Stadtamtmann Neuburg erinnerte sich in einem Interview mit dem Autor daran, wie Angehörige der Familien Kahn und Horn zu ihm gelaufen kamen und um Hilfe bitten wollten. Aber das war vergeblich. Die Euskirchener Stadtverwaltung hatte angeblich an diesem Tage keine Befugnisse mehr.

Am Tage nach der „Kristallnacht“ – am Freitag, dem 11. November 1938, – holten Euskirchener Polizisten einige jüngere und kräftige jüdische Männer – zur großen Angst ihrer Frauen – in ihren Wohnungen ab. Man beruhigte jedoch alle und forderte die Abgeholten nur auf, sich an den Aufräumungsarbeiten vor und in der Synagoge zu beteiligen. In den Schulen der Kreisstadt wurde am nächsten Tage nicht über die schrecklichen Vorkommnisse gesprochen. Von nun an kamen keine jüdischen Schüler mehr. Dazu wurde keine Erklärung gegeben. Im Oberlyzeum der Dominikanerinnen wurden Irene Oster aus Euskirchen sowie Ruth Scheuer und Helga Hartoch aus Sinzenich mit Wirkung vom 15. November 1938 offiziell aus dem Schülerinnen-Verzeichnis gestrichen.

Auf dem Grundstück der ehemaligen Euskirchener Synagoge befindet sich heute ein Gedenkstein, dessen Errichtung bis zum Jahre 1981 sehr umstritten war.(17) Wenn auch das zerstörte Gebäude abgetragen werden musste und die Parzelle im 2. Weltkrieg durch Bombenabwürfe in Mitleidenschaft gezogen wurde, so könnte doch einiges an die bauliche Substanz des ehemaligen jüdischen Gotteshauses erinnern: Unmittelbar hinter dem Mahnmal, in der Wand zu den rückwärtigen Nachbarhäusern, ist deutlich die Einbuchtung für den Thoraschrein zu erkennen. Weiterhin ist davon auszugehen, dass sich noch das vollständige Kellergewölbe mit der Mikwe – allerdings im zerstörten Zustand – unter der kleinen Grünanlage befindet.

FUSSNOTEN

(1) FLÖRKEN, Norbert, Als die Synagogen brannten. (Hier am Beispiel Bonn). In: Neues Rheinland, Jg. 21, Nr. 11,
 Seite 10 ff.

(2) Juden in der Bürgermeisterei Kuchenheim, Akte 350, Stadtarchiv Euskirchen, Bestand Kuchenheim II.

(3) Akten der Staatsanwaltschaft Bonn zum Verfahren gegen Sp(…) u. a. 7 KLs 12/47, Archivsignatur Gerichte Rep. 195 Nr. 333 (Hauptakte) und Nr. 334 (Vollstreckungshefte und Gnadenheft).

(4) Arntz, Hans-Dieter, „Kristallnacht“ – Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande, a.a.O. S. 57-72

(5) Eidesstattliche Erklärung des P. H., 1946, in: Euskirchener Stadtarchiv, Bestand IV/19 – Erklärung des Be­schuldigten vom 14.9.1945.

(6) Aussage von H. R., Februar 1946, in Euskirchener Stadtarchiv IV, Nr. 19.

(7) Schreiben von Toni Heuser/Euskirchen vom 19.7.1979.

(8) Interview mit Christoph Schmitz/Euskirchen vom 5.11.1980.

(9) Der vollständige Zeitungsartikel der „Rundschau“ vom 15.7.1947 mit voller Namensnennung, aber damals ohne Angabe des Datums, erschien auch schon bei ARNTZ, Hans-Dieter, Judenverfolgung und Fluchthilfe, Euskirchen 1990, Seite 460. Die detaillierten Gerichtsunterlagen liegen im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Bestand Kalkum: Akten der Staatsanwaltschaft Bonn zum Verfahren gegen Sp(…) u. a. 7 KLs 12/47, Archivsignatur Gerichte Rep. 195 Nr. 333 (Hauptakte) und Nr. 334 (Vollstreckungshefte und Gnadenhefte).

(10) Schreiben von J.G. Stegh vom 20.6.1974 an Klaus H. S. Schulte sowie Interview durch Hans-Dieter Arntz am 11.10.1979 mit Rechtsanwalt Stegh (Archiv-Protokoll Nr. 217).

(11) Schreiben von Frau Sibyl Tanner geb. Hermann vom 30.6.1980.

(12) Interview mit J.G. Stegh vom 11.10.1979.

(13) Schreiben von Rabbiner Bayer vom 25.7.1981 aus New York.

(14) SCHULTE, Klaus H.S., Dokumentation zur Geschichte der Juden am linken Niederrhein seit dem 17. Jahrhundert, Düsseldor1972, Seite 62.

(15) Schreiben von Friedrich (Frank) Heymann/Australien vom 22.7.1980.

(16) SCHULTE, Dokumentation, Seite 63.

(17) Schreiben von Hans (Henry) Hermann/England vom 17.6.1981.

(18) ARNTZ, Hans-Dieter, Epilog: Ein Mahnmal, in: ARNTZ, JUDAICA – Juden in der Voreifel,Euskirchen 1983, 3.Auflage 1986, Seite 504/505 sowie als Kurzfassung Ein Mahnmal für die Euskirchener Juden“ auf der Homepage des Verfassers: http://www.hans-dieter-arntz.de/mahnmahl.htm

HINWEIS:

Weitere Originalfotos, die zu dem o.a. Artikel gehören, wurden vom Autor nicht online gestellt, um unberechtigte Kopien zu verhindern. Sie befinden sich jedoch im Jahrbuch 2009 des Kreises Euskirchen, S. 34-46.

 

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