Auf den Spuren jüdischer Vergangenheit – Das Beispiel der Erna Weiss

von Hans-Dieter Arntz
29.08.2015

Immer wieder ist es für den Historiker interessant, wenn er – oft durch Zufall – auf Persönliches stößt, was er in den klassischen Archiven niemals finden würde. Während dort die nüchterne Arbeit an Dokumenten im Vordergrund steht, die auch noch Jahre später möglich wäre, fasziniert die zusätzlich investigative Forschung im persönlichen Bereich von Zeitzeugen und Familienangehörigen. Da mit ihrem Tod oft auch deren Erinnerung oder ein wichtiger Beweis, ja, eigentlich ein „Archiv“ verschwindet, sollte jede Minute genutzt werden, Spuren jüdischer Vergangenheit zu finden.

Josef Weiss ist der Protagonist meines letzten Buches Der letzte Judenälteste von Bergen Belsen, dessen historische Leistung ich nachzuweisen versuchte. Erst im Anschluss an die Veröffentlichung im Jahre 2012 wuchs auch das Interesse an der stets bescheiden im Hintergrund wirkenden Ehefrau Erna Weiss geb. Falk (1893-1945), die heute auch in ihrem Geburtsort Krefeld keinem ein Begriff ist. Auch der Frauengeschichtsverein Köln interessiert sich auch für sie und hat inzwischen ihren Lebenslauf im Internet festgehalten.

Die Familienangehörigen des aus Flamersheim – Stadtteil von Euskirchen – stammenden „Judenältesten von Bergen-Belsen“ haben inzwischen zwei bewegende Erinnerungsstücke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie schlummerten jahrzehntelang in Privatarchiven und wären wahrscheinlich nicht mehr an die Öffentlichkeit gelangt: ein Holzteller aus dem niederländischen Konzentrationslager Westerbork und eine Musikaufzeichnung, die an die einstige Opernsängerin Erna Weiss geb. Falk erinnert.

 

 

In meinem Online-Artikel „Erna Weiss-Falk: An extinguished voice heard once again (YouTube) – Eine musikalische Erinnerung an die Ehefrau des letzten Judenältesten von Bergen-Belsen“ stelle ich ihr letztes Konzert im niederländischen Lager Westerbork dar. Hiervon gibt es sogar ein vergilbtes Foto.

Nun steht Erna Weiss seit einiger Zeit im Interesse vieler Holocaust-Überlebender, Musikhistoriker und Musikfreunde, denn eine ihrer Schallplatten aus den 1920er Jahren wurde gefunden und mühevoll vom Museum Yad Vashem in Jerusalem restauriert. Sie ist bei YouTube unter der Überschrift „An extinguished voice heard once again“ abhörbar. Gleichzeitig informieren ein detaillierter Text und viele Fotos über das Leben von Erna Weiss-Falk, mit deren Angehörigen ich seit Jahrzehnten befreundet bin.

Im kleinen Nachlass der Opernsängerin Erna Weiss geb. Falk fand sich neben Notizbüchern und Fotos auch eine zerkratzte Schallplatte aus den 1920er Jahren, die von Yad Vashem restauriert und den Familien Weiss und Zachor rechtzeitig zum Sederabend 2015 zugestellt wurde. Die jüdische Sopranistin, die ihr letztes Konzert noch am 28. Mai 1933 in Deutschland gab, singt zwei Partituren aus Figaros Hochzeit von Wolfgang Amadeus Mozart. Dabei wird sie von dem damals bekannten Musiker und Komponisten Wilhelm Rettich (1892-1988) am Klavier begleitet.

 

 

Schon eine kurze Zeit vorher fand sich im Nachlass des Ehepaares Weiss ein künstlerisch gestalteter Holzteller, den die Lagerinsassen von „Saal 2, Baracke 6, zu Pessach 5702“, Erna und Josef Weiss geschenkt und wegen ihres Engagements „mit Dankbarkeit gewidmet“ hatten. Lesbare Namen auf der Rückseite sind u.a.: „Siegmund Keller, Walter Cremer, Weintraub, Stalo Forgasz, Hans Blume, Hans Leisel, Hans Pincus, Hermann Sonnenschein, August Findel (?), Werner Bloch, Walter Advokat, Harry Klafter, Fritz Tannenwald, Röttgen, Günter Blanche...“.

Recherchen ergaben, dass der bemalte Holzteller von dem jungen Künstler Edgar Reich (*1922) hergestellt wurde, der 1938 aus Wien geflüchtet war und nun in Westerbork mit seiner Verlobten auf sein weiteres Schicksal wartete. Das Erinnerungsstück wurde in derselben Schreinerei hergestellt, in der der junge Klaus-Albert Weiss eine Lehre absolvierte. Ariel Zachor, der heute in Amsterdam lebende Enkel von Josef Weiss, überließ dieses Erinnerungsstück im Frühjahr 2010 dem „Herinneringscentrum Kamp Westerbork“. Über Yad Vashem stellte sich heraus, dass der junge Künstler Edgar Reich in Wien geboren wurde und mit seinen Eltern während des Krieges in Rotterdam und Utrecht einen vorläufigen Wohnsitz gefunden hatte, ehe die Familie in das Lager von Westerbork eingewiesen wurde. Offenbar hat er den Holocaust nicht überlebt, während seine damalige Verlobte Dorrit S. noch vor einem Jahrzehnt auf Jamaica ihren Wohnsitz hatte.

Viele Fakten und Details zum Holocaust wurden inzwischen wissenschaftlich aufgearbeitet. In Archiven lagert noch viel Ungesichtetes. Aber dort ist es sicher und weiterhin zugänglich. Dennoch ist es oft die Regionalhistorie, die mithilfe persönlicher Kontakte bald Verschwundenes ans Tageslicht befördert.

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