Jüdische Erinnerung an die Heimat
aus "Letters from Rungholt"

von Hans-Dieter Arntz
30.01.2007

Am 19. September 2004 erschien in den ersten „Letters from Rungholt“ ein Bericht, den ich erst heute durch Zufall beim Surfen im Internet fand. Im Rahmen des Wettbewerbs um den „Internationalen Weblog-Award“ hatte dieses Forum von einer internationalen Jury der Deutschen Welle“ im November 2006  die Auszeichnung als beste deutschsprachige Webseite erhalten. Mit der Initiative „The Bobs“ (Best of the Blogs) will die Deutsche Welle Weblogs unterstützen, die sich um die Meinungsfreiheit im Internet verdient machen. In vielen Teilen der Welt stellen Weblogs eine der wenigen Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung dar.

Der Preis für das beste deutschsprachige Weblog ging mit „Letters from Rungholt“ an „Lila“, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Seit vielen Jahren lebt sie in Israel. Aus ihrer persönlichen Perspektive berichtet die Dozentin und Mutter von vier Kindern über das Leben in einem israelischen Kibbuz und die Probleme des Nahen Ostens. Ihre Berichte sind in Fachkreisen inzwischen sehr bekannt und werden weltweit gelesen.

Umso überraschter war ich, als mein Buch „Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet“ in einem der ersten Berichte thematisiert wurde. http://rungholt.blogg.de

Unter der Überschrift „Heimat…“ vom 19.September 2004 wird ein älterer Kibbuznik vorgestellt, den die Lektüre meines Buches offenbar sehr bewegt hat. Tatsächlich weiß ich nicht, wie er in Israel an das 810 -Seiten dicke Buch gekommen ist; jedoch macht es mich stolz, dass meine ehrenamtliche Arbeit hier Beachtung fand. Tatsache jedoch ist, dass er aus der Eifel stammt und Erinnerungen an die Eifel,  seine ehemalige Heimat, geweckt wurden.

Heimat…

In welchem Zustand treffe ich dich an?

Nein, ich steuere meine Einträge nicht, um jemandem ins Gewissen zu reden. Es passiert mir nun mal alles so, und ich schreibe es nieder.

Ich unterrichte sonntags morgens bei den alten Menschen, die aus allen umgebenden Kibbuzim in so eine Art VHS kommen. Dort gebe ich einen Kurs über Kunstgeschichte, den besonders die Yekkes (deutschstämmige Juden) der Umgebung eifrig besuchen. Sie hören mir natürlich sofort an, dass ich Deutsche bin, und da sie davon ausgehen, dass Deutsche besonders kultivierte Menschen sind, rechnen sie mir das als Pluspunkt an. Manchmal kommen sie nach dem Unterricht, um ein bisschen deutsch zu plaudern.

Heute kam nach der Stunde ein stiller, alter Mann und legte mir ein Buch auf den Tisch. "Interessiert dich das?"

Ich sah mir das Buch an. Ein ziemlicher Wälzer. Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Oho.

"Ja, das interessiert mich sehr. Ich forsche gerade über das Thema. Oh, viele Bilder, sehr interessant. Außerdem komme ich aus der Gegend: Malmedy, Rheinbach, Zülpich... das ist hochinteressant. Kann ich's mir ausleihen?"

"Dafür habe ich es mitgebracht. Meine Geschichte wird hier erzählt, wo ich das Lesezeichen reingetan habe“.

Natürlich. Er ist über die grüne Grenze geflohen. Seine Familie ist ermordet worden. Er hat sich in einem Kibbuz voller Yekkes eine neue Existenz aufgebaut. Irgendwann kam ein Historiker und hat ihn interviewt. Und seine Geschichte ist ihm wichtig, er will, dass ich sie zur Kenntnis nehme.

In gewisser Hinsicht sagte er mir damit: "Wisse, wo du dich befindest". Als wüsste ich das nicht sehr gut.

Er sagte mir damit aber auch, "Gut, dass es noch jemanden interessiert". Seine Enkelkinder, was werden die dazu zu sagen haben? Sie können kein Deutsch. Sie kennen weder Schleiden noch Monschau. Für viele junge Israelis ist die Shoah nicht mehr relevant, sie sagen vielleicht: das ist das Problem der Deutschen, nicht unseres. Wir haben daraus gelernt, was zu lernen war, und lassen uns nicht mehr zum Opfer machen.

Aber für den alten Mann  ist die Vergangenheit nicht vergangen. Für mich ja auch nicht. 

Habe ich nicht neulich was davon geschrieben, wie sehr man sich an ein Feuermal gewöhnen kann, wenn alle drumherum eins haben? Wenn man aber die Einzige ist, kann einem so ein Ding ganz schön aufstoßen. Ich treffe meine alte Heimat, die vertrauten Namen, in einem Zusammenhang, der mir grausam klar macht, wie wenig meine Erinnerungen an die Heimat besagen. Wenn ich das Buch aufschlage, sehe ich es.

Die vielen Fotos von feixenden, prahlerisch aufgespreizten HJ-Gruppen machen mir wieder mal klar, wie tief die Indoktrination einer ganzen Generation ging. Und wie viel Spaß sie daran hatten. Wo sind sie heute? Was denken sie?

Die Ausschnitte aus Lokalzeitungen mit ihren ekelhaften, wüsten Verleumdungsgeschichten zeigen, wie einfach es ist, Volksverhetzung zu betreiben, und wie viele Leute da gern mitmachen. Pech, wer zu den Opfern gehört, nicht wahr? Der geile Judenarzt, der verlogene Viehhändler, der betrügerische Metzger - Landjuden, die gänzlich unvorbereitet auf die Jauche waren, die ihnen aus der Zeitung entgegen floss. Was tun, wohin gehen? Ein Albtraum.

Ich habe eine persönliche Ekelmetapher für dieses Gefühl der Heimat gegenüber. Die Nationalsozialisten haben uns in die Muttermilch gepisst. Nein, kein sauberes Gift, sondern der aggressiv-ekelhafte Akt des Pissens ist meine Metapher. Was für andere Völker das natürlichste und nahrhafteste Lebensmittel ist, ist für uns unbrauchbar und ekelhaft. Nein, es bringt uns nicht um, aber wenn wir an der Heimat verzückt kosten wollen wie andere... verziehen wir das Gesicht. Pfui Teufel, fast hätten wir's ja vergessen.

Und so sitze ich mit diesem ekelhaften Gefühl im Magen. Das Buch ist nützlich und gut, ich freue mich ja, dass es mir gerade jetzt über den Weg läuft. Und der nette alte Mann, dem in meiner Heimat die Familie ermordet worden ist, freut sich, dass ich das Buch lese und mit ihm darüber sprechen werde. Und ich wollte das ekelhafte Gefühl einfach mit euch teilen…

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