Ein Geschenk des jüdischen Schriftstellers Aurel Shalev

von Hans-Dieter Arntz
13.08.2008

Wie arbeitet ein jüdischer Psychoanalytiker selber seine eigene Vergangenheit auf? Sind die beiden Bücher von Dr. Aurel Shalev eine Form von Supervision und Selbsttherapie? Oder basieren sie einfach auf einer Lebenserfahrung und humaner Grundeinstellung? Fragen, die sich mir immer noch nach einer persönlichen Begegnung mit dem israelischen deutschsprachigen Schriftsteller stellten.

Ein Vorteil der Regionalhistorie im Vergleich zur manchmal recht trockenen Geschichtswissenschaft im klassischen Sinne ist vielleicht die Möglichkeit, die Historie mehr personifizieren zu können. In einem topografisch und sozial überschaubaren Bereich ergeben sich häufig persönliche Kontakte, die eine systematische Archivarbeit ergänzen und menschlich vertiefen. Zumindest ist das mein Eindruck, wenn ich  Zeitzeugen begegne und diese nicht nur im Rahmen der „Oral History“ befrage. Vielleicht ist die Beschäftigung mit der menschlichen Geschichte dann besonders eindrucksvoll, wenn Zeitzeugen aus einer Region, die man selber gut kennt, berichten. Allerdings müssen anhand der zusätzlichen Archivarbeit Lebensschicksale, Gedankengänge und Lebenserfahrungen wissenschaftlich nachprüfbar sein. Dann sind sie für Lehrende und Lernende, aber auch für historisch interessierte Laien wertvoll und auch interessant. Doch sollte man keineswegs den Wert der einst schon im Schulunterricht  erfahrenen „Heimatkunde“ unterschätzen. Grundsätzlich kann zwar konstatiert werden, dass jeder Zeitzeuge ein „wandelndes Archiv“ ist, aber doch sein eigenes Schicksal sehr individuell bewertet.

aurel_shalev01Vor etwa 15 Jahren machte ich die Begegnung mit einem jüdischen Schriftsteller, der als Psychotherapeut und Arzt nicht nur in Israel wirkte: Dr. Aurel Shalev. Er hielt sich für längere Zeit in Bad Münstereifel zur Kur auf  und bat mich um meinen Besuch. Stundenlang diskutierten wir über die Judenverfolgung und den Holocaust. Da gerade mein umfangreicher Dokumentationsband Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet erschienen war, hatte wir genügend Ansatzpunkte und eine regionalhistorische Grundlage. Er hatte schon vorher einige Rezensionen über mein Buch gelesen und zeigte sich über die jüdische Geschichte in der Eifel und Voreifel gut informiert. Interessant schien für ihn zu sein, dass ich parallel zu meinen Forschungen zum Thema Judentum auch konkret die Entstehung des Nationalsozialismus in unserer Region berücksichtigte. Immer wieder ging er auf meine Dokumentation Ordensburg Vogelsang 1934-1945 – Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich ein, in der ich erstmals die Ausrichtung potenzieller NS-Täter darstellte. Diese „Beschreibung einer Parallelität des Entstehens und der Auswirkung“, so wie er sich ausdrückte, würde seiner Meinung nach eigentlich „Anfang und Ende einer schrecklichen Epoche“ dokumentieren. Mehrfach zitierte er dabei den Spruch aus dem Talmud: „So, wie der Anfang für das Ende zeugt, muss auch das Ende für den Anfang Zeugnis ablegen.“ 

aurel_shalev02Am Schluss eines sehr bewegenden Nachmittags schenkte mir der Psychoanalytiker und Schriftsteller Aurel Shalev die originale Kohlezeichnung  des jüdischen Künstlers Eisenberg aus Jerusalem und zwei seiner Bücher: Vor Toresschluß - Spätherbst eines Lebens (1979) und Ein Tropfen Wasser (1882), die im Keil Verlag Bonn erschienen waren.

Dr. Aurel Shalev hatte bereits – neben seiner medizinischen und psychologischen Tätigkeit - Aufsätze in der ungarischen Monatszeitschrift Izrael Kurir und in der deutschen Tageszeitung  Israel Nachrichten publiziert. Sein Erstlingswerk „Vor Toresschluß“ enthält eine Auswahl von Kurzgeschichten, die nachdenklich stimmen. Der Keil Verlag Bonn stellt dieses Werk folgendermaßen vor:

Die Veröffentlichung dieser voll Weisheit und Witz geschriebenen Kurzgeschichten bedeutet für Aurel Shalev die Erfüllung eines Jugendtraumes, den er ein Leben lang zurückdrängen musste. Denn alles, was er schon als junger Mensch geschrieben und auch auf anderem künstlerischen Gebiet geschaffen hat, ist verlorengegangen. Zu diesem Verlust sagt er: »Aber was ist daran schon wichtig? Im Vergleich mit all dem, was sonst verlorengegangen ist, unbarmherzig zerstört und zertrampelt wurde?«

Natürlich enthalten diese Erzählungen auch seine eigene Lebensgeschicht. Immer war er dabei, oder er hat es selbst erlebt. Ist es nicht ihm selbst geschehen, so war er Zeuge davon. So offenbart sich in diesen Kurzgeschichten ein typisch jüdisches Schicksal unseres Jahrhunderts.

Im „Spätherbst (s)eines Lebens“ fasste der 1906 geborene jüdische Psychoanalytiker Dr. Aurel Shalev seine Lebenserfahrung zusammen. Mit Bezug auf seine erst spät aufgenommene schriftstellerische Arbeit meinte er im Jahre 1979:

Aber letzthin steckt hinter jedem unverwirklichten Traum, jedem nicht eingelösten Versprechen und jeder nicht eingehaltenen Verpflichtung das eigene Unvermögen, die eigene Trägheit und das eigene klägliche Versagen!

Diese erste Sammlung von Kurzgeschichten erschien tatsächlich im Spätherbst seines bewegten Lebens. Sie sollte aber zugleich „Zeugnis für den Anfang ablegen, da der Anfang für das Ende nicht zeugen konnte“. Aurel Shalev ist Jude und wurde in einem schwäbischen Dorf im Konglomerat der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie geboren. Da er zum Jahrgang 1906 gehört, hat er viele Weltuntergänge und noch mehr Höllenfahrten erlebt. Als er seinerzeit heirate, galt diese Ehe als Rassenschande. Später lebte Aurel Shalev in Israel inmitten einer Großfamilie, die bis zu den Urenkeln reichte.

Mein Gesprächspartner wollte offenbar mit dem Schreiben noch etwas einholen, und er war überzeugt davon, dass es noch nicht zu spät ist. Aus überquellendem Herzen und schmerzhaftem, doch auch reichem Erleben erzählt er in diesen Kurzgeschichten seine jüdische Lebensgeschichte.

Sein zweites Buch, Ein Tropfen Wasser, spiegelt in seiner thematischen Anordnung die verschiedenen Stationen seines Lebens wider. Die fast behutsame Erzählung seines jüdischen Lebensschicksals beginnt am Anfang mit einem lebendigen Bild seines slowenischen Dorfes und führt den Leser in die farbig bunte Welt der untergegangenen k.u.k. Donaumonarchie. Es folgen die von ihm dargestellten „Höllenfahrten“ im jüdischen Arbeitsbataillon und die „großen Geschichten aus dem kleinen Israel“.

aurel_shalev03Die vor etwa 15 Jahren geführten Diskussion mit Dr. Aurel Shalev ähnelte der Argumentation seines zweiten Buches. Sein Rückblick und die Beurteilung seines eigenen Lebens zeugten von einer überraschend humanen Grundeinstellung. Die Zeitung Die Welt beschrieb am 29. September 1979 diese Haltung mit „spätherbstliches Licht von Milde, Verstehen und Verzeihen.“ Für mich bleiben Shalevs Geschichten in zwei Hinsichten eine fragmentarische Biographie: einmal die eines einzelnen Menschen, dann die eines Zeitalters. Eigenartig ist es, dass seine Kurzgeschichten aus schlimmer Zeit anrühren, unter die Haut gehen, erschüttern. Aber sie reißen keine alten Wunden auf.

Jetzt, nachdem ich die beiden Bücher Ein Tropfen Wasser sowie Vor Toresschluss erneut gelesen habe, stellt sich mir die Frage. Ist diese humane Darstellung ein melancholischer Rückblick auf ein Leben oder die Supervision des studierten Psychoanalytikers oder die Dankbarkeit eines Juden, der mit dem Leben davongekommen ist.

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