Nur der Briefumschlag des jüdischen Emigranten Leopold Ruhr blieb erhalten
Zur Geschichte eines Briefes aus Peru (1941)

von Hans-Dieter Arntz
29.10.2013

Wer auf der Suche nach den Spuren ehemaliger jüdischer Mitbürger ist, der wird sicher nicht nur in den regionalen Archiven recherchieren, sondern auch noch weitere Möglichkeiten wahrnehmen, um an diesbezügliche Details zu kommen. Selbst nach sieben oder acht Jahrzehnten gibt es nämlich immer noch unentdeckte Sachverhalte, die mit der Zeit der Judenverfolgung und dem Holocaust zu tun haben und Licht in die damals verzweifelte Situation der jüdischen Mitbürger bringen. Oft handelt es sich dabei um unbekannt gebliebene Menschen, deren offizielle Daten zwar aufgelistet wurden, die aber in Bezug auf ihr persönliches Alltagsleben vergessen blieben.

Wenn man regionalhistorisch tätig ist, erkennt man oft, dass vieles sehr subjektiv und oft nur als Mosaiksteinchen zu werten ist. Auch diejenigen, die den Wert der sogenannten Stolpersteine kennen, konzentrieren sich auf einen speziellen Menschen, versuchen etwas über dessen Privatleben herauszufinden und geben dem Opfer dadurch im wahren Sinne des Wortes ein Gesicht, denn Fotos sind oft gar nicht mehr vorhanden. Besonders Genealogen konzentrieren sich auf den Einzelnen bzw. dessen Familie und erarbeiten auf diese Art oft noch ein persönliches Schicksal, das exemplarisch die damalige Zeit verlebendigt und problematisiert. Ergiebig können zudem gezielte Interviews oder Besuche bei betagten Nachbarn oder deren Angehörigen sein, da vergilbte Fotoalben das frühere Neben- und Mitarbeiter dokumentieren, die Mitgliedschaft in Vereinen oder Organisationen bestätigen und den jüdischen Menschen in vielen Positionen nachweisen können. Sie müssen keineswegs von welthistorischem Wert sein!

Dass Tagebücher und Briefe natürlich auch wertvoll sind, brauche ich nicht zu betonen, denn mithilfe meines Buches Isidors Briefe konnte ich dies anhand der Kreisstadt Euskirchen exemplarisch aufzeigen. Wenn Bekannte und Freunde von solchen Forschungsschwerpunkten wissen, sind sie oft bereit, selber die Augen aufzuhalten und den Nachlass interessanter Verstorbener sorgsam zu ordnen. So kam ich zum Beispiel auch zu Fotos der brennenden Synagoge von Euskirchen, die man vom benachbarten Hinterhof aus gemacht hatte.

Manche Leser teilen mir gelegentlich auch mit, wenn sie irgendwo im Ausland Epitaphe auf Friedhöfen entdeckt haben, die auf unsere Region verweisen. Ein Beispiel für Münstereifeler Spuren auf dem Friedhof von Lima (Peru) nannte Frau Gertrud Anne Sch. aus Lingen und bewies dies anhand eines Fotos:

Grabstein Die Genealogin und Historikerin hatte herausgefunden, dass Münstereifel, der Geburtsort von LEOPOLD HERZ (* 17.07.1914, † 02.09.1948), zu meinem Forschungsgebiet gehört und informierte mich. Ich selber wandte mich dann an den „Fernseh“-Standesbeamten Willi Weber von der Stadtverwaltung Bad Münstereifel, der mir dankenswerterweise sofort half, da die NS-Akten nicht ergiebig waren. Für die Genealogen der Eifel kann ganz kurz die Information festgehalten werden:

„Leopold Herz, Sohn von Hermann Herz (geb.08.08.1868 in Münstereifel) und Betty (Sally) Herz geb. Weil, einst wohnhaft in der Orchheimer Str. 40 bzw. Johannisstraße 5. Weitere Kinder: Edith Herz (geb.6.12.1907) und Irene Herz (geb.11.10.1906 in Münstereifel)“.

Bei der Bearbeitung des nun vorliegenden Artikels stellte sich heraus, dass es sogar eine Verbindung zu dem Protagonisten Eduard Ruhr aus Groß-Vernich gibt. Er ist verwandt mit dem in Münstereifel geborenen Leopold Herz, der aus der Linie seiner Mutter, Paulina Ruhr, stammt, deren Mädchenname „Herz“ lautete und die am 31.05.1932 in Kall gestorben war.
Viele Schicksale von jüdischen Emigranten sind bisher im Dunkeln, während die Holocaust-Nachweise inzwischen doch sehr vollständig geworden sind. Aufgrund des Grabsteins in Peru wurde auf diese Art den Münstereifeler Stadthistorikern wieder eine neue jüdische Spur gezeigt, und erweiterte genealogische Forschungen könnten jetzt in Peru angestellt werden.

Anfrage aus England

Und damit ist auch das Stichwort „Peru“ gefallen, wohin sich mehrere jüdische Verfolgte geflüchtet haben, auch der Protagonist dieses kleinen Online-Artikels, Dr. Leopold Ruhr (1883-1950) aus Groß-Vernich (Weilerswist). Er hatte im Frühjahr 1941 einen Brief in das deutsche Rheinland geschickt, genauer gesagt in die Kreisstadt Euskirchen.

Letzte Woche erhielt ich von einem postal historian in England einen Briefumschlag, den er auf einer Briefmarkenbörse erworben hatte. Seit Jahren interessieren ihn besondere Aspekte der deutschen Philatelie: Postleitzahlen aus 1944/45, Landpost, Feldpost der beiden Weltkriege, aber vor allem Zensurbelege und neuerdings Briefe sowie Postkarten an und von Juden, die während der NS-Zeit noch im Deutschen Reich sesshaft waren.

Er hatte also den abgebildeten Umschlag auf einer Briefmarken-Börse erworben, weil ihm als Philatelisten noch ein frankiertes Exemplar von Peru in das kriegführende Deutsche Reich fehlte. Zu seiner Sammlung gehören bereits Umschläge mit abgestempelten Briefmarken aus Brasilien, Argentinien, Chile usw., aber nicht aus Peru. Dass es sich nun um eine jüdische Korrespondenz handelte, die im direkten Bezug zur Voreifel steht, war beim Kauf nicht wesentlich und vorerst uninteressant. Es steckte kein Brief mehr im Umschlag, was für den Briefmarkensammler in der Regel auch unwesentlich ist. Auf jeden Fall passen Personen, Vorgang und Sachverhalt zum Inhalt meiner regionalhistorischen Homepage.

 

Briefumschlag 1

Zum Briefumschlag aus dem Jahre 1941

Die frankierte Vorderseite des Umschlags wies als potenziellen Empfänger „Señorita Johanna Wolff, Euskirchen (Rheinland), Oststraße 22, Bezirk Köln, Alemania“ aus. Umseitig war der „Remitente“, also der Absender, ausgewiesen: Leopold Ruhr, Hacienda „La Granja“, Anco, via Mejorada, Departamento de Huancavelica, Peru, America del Sud.

Tatsache ist, dass das Schreiben vom Juni 1941 durch das Oberkommando der Wehrmacht geöffnet und zensiert wurde. Weiterhin ist erkennbar, dass er „Señorita Johanna Wolff“ tatsächlich erreichte und nicht nach Peru zurückgeschickt wurde, denn sonst wäre dies klar durch einen oder mehrere Handstempel bewiesen. Registriert wurde der Vorgang auf der Vorderseite des Umschlags unter dem Aktenzeichen: 3065 – 1425 – 1990b/2.

Bezüglich der Zensur von Briefen und anderen postalischen Zustellungen ist fachlich anzumerken: Vom Anfang an hat die OKW, Abteilung Abwehr, die Post ins und aus dem Ausland kontrolliert. Im Frühjahr 1944 (also vor dem Attentat auf Hitler) gelang es dem Reichssicherheitshauptamt der SS, die Zensur selber zu übernehmen. Es gab innerhalb Großdeutschlands 7 ABP (= Auslands-Brief-Prüfstellen) mit folgenden Kennbuchstaben: (a) Königsberg (Pr.); (b) Berlin; (c) Köln; (d) München; (e) Frankfurt; (f) Hamburg; (g) Wien. Jm Laufe des Krieges kamen noch andere dazu: (h) Hof [erst 1944, nur für einkommende Kgf-Post]; (k) Kopenhagen; (l) Lyon; (n) Nancy; (o) Oslo; (t) Trondheim; (x) Paris; (y) Bordeaux. Eine absichtlich nicht geöffnete bzw. gelesene Post erhielt einen Durchlaufstempel, z.B. ‘Ab’ (Berlin), ‘Ax’ (Paris) usw. Die zensierte Post wurde durch einen Verschlusszettel bzw. -streifen verschlossen, der durch einen oder mehrere Hand- oder Maschinenstempel bestätigt wurden.

 

Briefumschlag 1

 

Auf der Rückseite des Briefes von Leopold Ruhr, der wahrscheinlich absichtlich seinen Doktortitel im Absender weggelassen hatte, findet man den handschriftlichen Vermerk: „Moritz Herz, Tierarzt Zülpich, geschenkt an (oder von/d.V.) Werner Ruhr.“

Der Stempel vom 10. Juni 1941 kann nichts mit dem handschriftlichem Vermerk zu tun haben, zumal er sich teilweise unter dem Zensurverschlusszettel befindet. Es handelt sich hier tatsächlich um einen Abgangsstempel des Postamts Lima 3, der möglicherweise einige Wochen vorher abgeschlagen wurde. Auch die transatlantische Luftpost dauerte im Jahre 1941 sehr lange. Einen Stempel in dieser Form gab es derzeit in Deutschland überhaupt nicht.

Historische Einordnung

Mithilfe der ausgezeichneten Dokumentation von Helene Kürten und Margarete Siebert „Vergangenheit unvergessen. Schicksale jüdischer Familien in der Gemeinde Weilerswist während der Naziherrschaft“ (2. Auflage, Weilerswist 2008) konnte ich mich über den  „Remitente“, der in der von ihnen erforschten Region Groß-Vernich/Weilerswist von 1906 bis 1938/39 lebte, informieren. Hieraus stammen auch - mit besonderer Erlaubnis von Frau Helene Kürten - die beiden Ruhr-Fotos und die inhaltlichen Aussagen bezüglich des Ehepaares Dr. Leopold Ruhr aus Groß-Vernich, einem Dorf, das 1969 in die Gemeinde Weilerswist eingemeindet wurde. Er selbst und seine Vorfahren stammten ursprünglich aus Kall in der Eifel, so dass ihm „Fräulein Johanna Wolff“ von daher nachweislich bekannt war. Der Grabstein seiner ebenfalls in Kall geborenen Eltern – Salomon Ruhr (1835-1911) und Paulina geb. Herz (* ?, † 1932) ist heute noch auf dem dortigen jüdischen Friedhof zu finden. Wie schon erwähnt, ist der eben erwähnte, in Lima gefundene Epitaph von Leopold Herz (1914-1948) in verwandtschaftlichem Zusammenhang mit den Familien Herz und Ruhr zu sehen.

Nach einem Wohnungswechsel nach Groß-Vernich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts baute Leopold Ruhr mit seiner Ehefrau Gisela geb. Siegel (1883-1958) im heutigen Weilerswist, Trierer Str. 174, ein Haus, in dem er seine Tierarztpraxis führte.

Ehepaar RuhrBei dem von einem Unbekannten handschriftlich – vielleicht von Johanna Wolff selber –, auf der Rückseite erwähnten Werner Ruhr (1918-1986) handelt es sich um den jüngeren Sohn des Absenders, der in der Nazizeit seine gymnasiale Ausbildung am Euskirchener Jungen-Gymnasium abbrechen musste und dann zwangsläufig eine Schlosserlehre absolviert, ehe er dann im September 1938 nach Peru auswanderte.

Dessen älterer Bruder Hans (1910-1966) konnte gerade noch am 20. Dezember 1934 als Mediziner promovieren, ehe er dann als erster nach Peru emigrierte. Nazi-Schikanen waren die Ursache, warum auch die Tochter Hella (1920-2005) und andere Verwandte das Deutsche Reich noch vor dem Novemberpogrom 1938 in Richtung Südamerika verließen. Im Verlauf der Reichskristallnacht - in Groß-Vernich in der Nacht vom 10. zum 11. November 1938 - wurde das Elternhaus von einheimischen Fanatikern völlig demoliert und teilweise zerstört.

Der o.a. Briefschreiber Dr. Leopold Ruhr und seine Frau vegetierten noch bis zum 6. März 1939 im Keller ihres zerstörten Hauses in Groß-Vernich, Trierer Straße 174, dahin, ehe sie dann für die nächsten Monate einen Unterschlupf im Hause der jüdischen Verwandten Heilberg in der benachbarten Kreisstadt Euskirchen, Oststraße 22, fanden. Am 12. Oktober 1939 konnten sie dann endlich ihre Auswanderung zu den Kindern nach Lima in Peru verwirklichen. Das Ehepaar fand in Huancavelica eine neue Heimat – in den zentralperuanischen Anden. Dort kaufte der Tierarzt inmitten der massiven Bergwelt eine kleine Farm, die er mit dem jüngeren Sohn Werner mühsam bewirtschaftete. Von hier aus wurde im Frühjahr 1941 besagter Brief an „Señorita Johanna Wolff“ geschickt. Der eigentliche Grund hierfür ist natürlich nicht bekannt.

Der Zeitpunkt war nicht unproblematisch, denn außenpolitisch hatte die Regierung Cerro noch gute Beziehungen zu Francos Spanien und dem nationalsozialistischen Deutschland. Da sein Nachfolger Manuel Prado (1939–1945) jedoch mit dieser Politik gebrochen hatte, war Peru auch für deutsche Juden ein sicheres Land, und es unterstützte die Alliierten im Zweiten Weltkrieg mit Rohstofflieferungen. Schon jetzt sei vorausgeschickt, dass der jüdische Tierarzt Leopold Ruhr, seine Ehefrau Gisela geb. Siegel, sein ältester Sohn Hans, der jüngere Sohn Werner und dessen Ehefrau Jutta geb. Müller Jahrzehnte später in Peru verstarben und auf dem jüdischen Friedhof in Lima beigesetzt wurden. (Vgl.Kürten/Siebert, „Vergangenheit unvergessen, S.78)

Um jetzt wieder zu dem Briefumschlag aus dem Jahre 1941 zurückzukommen, sei erwähnt, dass nun mit der Anschrift „Euskirchen, Oststraße 22“ ein wichtiges Stichwort gefallen ist, denn besagtes Schreiben des emigrierten Tierarztes Dr. Leopold Ruhr war an eine einstige Mitbewohnerin dieses Hauses gerichtet, an „Señorita Johanna Wolff“, die tatsächlich noch einige Wochen vorher in einem kleinen Zimmer des in der Nähe des Bahnhofs gelegenen Hauses gewohnt hatte. In den Monaten nach dem Novemberpogrom 1938 hatte das Ehepaar Ruhr mit ihr – in Furcht und Schrecken - Tür an Tür gelebt. Man kannte die inzwischen sehr eingeschüchterte Rheinländerin recht gut. Sie war am 29. Juni 1885 in Köln geboren worden und hatte stets nur in Kall, einem kleinen Ort am Ende der nördlichen Voreifel, gelebt. In der Dokumentation Judenverfolgung und Fluchthilfe (Seite 106) wird sie bezüglich der „Erhebungen über die im Kreis Schleiden ansässigen Juden“ noch ausgewiesen: „ Johanna Wolff, wohnhaft am 15.08.1935 in Kall, geb. am 29.06.1885 in Köln, Beruf: Kleingewerbe und Gemüsehandel, Umsatz gering.“ Da Leopold Ruhr ja auch aus Kall stammte, kannte man sich schon aus früheren Jahren.

Wir wissen nicht, welchen Inhalt der Brief vom Juni 1941 hatte, aber vielleicht könnte angenommen werden, dass er auch Geburtstagswünsche enthielt, die rechtzeitig am 29. Juni bei Johanna eintreffen sollten. Auch der handschriftliche, rückseitige Vermerk „geschenkt von (an ?/d.V.) Werner Ruhr“ – also der Hinweis auf den zweitjüngsten Sohn - lässt ähnliches vermuten.

Ehepaar Ruhr Der Inhalt des Schreibens wird einen rein persönlichen Charakter gehabt haben, da man um die Briefzensur während des 2. Weltkrieges wusste. Aufgrund diesbezüglicher Forschungen weiß man heute, dass die Korrespondenz aller Juden genau so zensiert wurde wie die sonstige Post. Ganz selten nur stellen Sammler abweichende Vermerke oder Stempel fest- auch nicht auf den jeweiligen Schreiben in das Warschauer Ghetto! Philatelisten besitzen sogar Post von jüdischen Absendern, die einen Durchlaufstempel aufweist, also gar nicht gelesen wurde. Es kann also konstatiert werden, dass die deutsche Abwehr und die Reichspost auch die jüdische Post bürokratisch und korrekt behandelte, sie ordnungsgemäß beförderte und gegebenenfalls nach- oder an den Absender zurückschickte.

Die Anschrift „Oststraße 22“ ist für die Euskirchener Regionalhistorie keine unbekannte Anschrift, denn hier hatte der jüdische Religionslehrer Dr. Salomon Heilberg (1871-1942) jahrzehntelang ein jüdisch-orthodoxes Schülerheim und Internat. Zudem war es auch das Elternhaus des bekannten amerikanischen Juristen Dr. Lionel Hillburn (Lepold Heilberg, *1904, † 1983). Das Ehepaar Salomon und Rosa Heilberg geb. Ruhr (1876-1964) hatte jedoch bereits im Oktober 1938 die Kreisstadt Euskirchen offiziell verlassen und vorläufig in den Niederlanden Zuflucht gesucht, so dass in ihrem Haus, Oststraße 22, Räumlichkeiten frei wurden. Daher konnte Johanna Wolff, die bereits im Jahre 1936 ihrem früheren Wohnort Kall den Rücken gekehrt hatte, - und nach dem Novemberpogrom 1938 u.a. auch Leopold und Gisela Ruhr aus Groß-Vernich - in dem Gebäude aus der Gründerzeit unterkommen.

Suche nach Johanna Wolff

Das Euskirchener Stadtarchiv konstatiert, dass im Mai 1941 noch mehrere gerade institutionalisierte Judenhäuser nicht ausgelastet waren und dass – wegen größerer Familien – neue Wohnortzuweisungen und -wechsel vorzunehmen waren. Hiervon war Johanna Wolff als Einzelperson betroffen. Die verarmte Jüdin hatte von nun ab mehrfach ihre Wohnung wechseln sowie verkleinern müssen und wurde im Mai 1941 dem „Judenhaus Oster“ zugewiesen, das sich in Euskirchen, Baumstraße 8, immer noch im Besitz des einst renommierten SPD-Ratsherrn und Mediziners Dr. Hugo Oster (1878-1943), befand.

Ehepaar RuhrJohanna Wolff wohnte also nicht mehr in der Oststraße 22, wo der am 10. Juni in Lima abgeschickte Brief von Leopold Ruhr aus Peru eintraf. Seit dem 22. Juni 141 befand sich das Deutsche Reich nun auch mit der Sowjetunion im Krieg und zusätzlich hatte sich im Bezug auf die Judenverfolgung sehr viel im Deutschen Reich getan. Die Situation der inzwischen eingepferchten Juden war bedrohlich geworden, und die ersten Deportationen waren bereits seit Herbst 1940 im Gange.

Obwohl also zu diesem Zeitpunkt Dr. Salomon Heilberg mit seiner Frau Rosa (Rosetta) Heilberg, geb. Ruhr (1876-1964) weiterhin Besitzer des Hauses Oststraße 22 war, hatte er in Tilburg /Niederlande keinen Überblick mehr, wer in seinem Hause von der Euskirchener Stadtverwaltung bzw. der Synagogengemeinde untergebracht worden war. Es gab eine verwirrende Fluktuation bei den eingewiesenen Juden, sodass wahrscheinlich beim Eintreffen des vom „Oberkommando der Wehrmacht“ geöffneten Briefes kein Mieter konkrete Angaben machen konnte, wo Johanna Wolff inzwischen wieder einmal untergebracht worden war. Señorita Johanna Wolff war im Augenblick - innerhalb der sich allmählich auflösenden jüdischen Gemeinde von Euskirchen - als Einzelperson in der Oststraße 22 nicht direkt erreichbar, aber der Brief aus Peru wurde irgendwo dort im Hause abgegeben. Wenn die damaligen Bewohner den Briefträger über eine Nachsendeanschrift benachrichtigt hätten, dann hätte dieser die originelle Anschrift vorschriftsmäßig auf der Vorderseite durchstreichen und die neue an ihrer Stelle erkennbar korrigieren müssen. Das geschah aber nicht. Der rückseitige Vermerk ist somit völlig privat und wurde nach der Zustellung beigefügt -- unter welchen Umständen ist unklar.

Der handschriftliche Hinweises auf einen „Tierarzt Dr. Moritz Herz“ bezieht sich übrigens auf einen jüdischen Kollegen von Leopold Ruhr, der noch bis Ende Mai 1941 im benachbarten Flamersheim, Große Höhle 144, gewohnt hatte. Auch der hoch dekorierte Kriegsveteran war inzwischen - laut einer regionalen Verfügung vom 28. Mai 1941 - mit seiner Familie in die 15 km entfernte Römerstadt Zülpich „verschickt“ worden – daher der handschriftliche Vermerk „Zülpich“ . Hier wurden er (1882-1942), seine Ehefrau Irma (1891-1942) sowie seine beiden Töchter Gerda (1928-1942) und Ruth (1920-1942) auch offiziell und verspätet am 6. Juni 1941 registriert. Der Hinweis auf der Rückseite des Umschlags ist somit nicht amtlich und erfolgte vielleicht von Johanna Wolff selber als Gedächtnisstütze, um auch den Kollegen von Leopold Ruhr über den Inhalt des Schreibens zu informieren. Auf jeden Fall befand sich Dr. Moritz Herz mit Ehefrau und seinen beiden Töchtern in Zülpich, von wo aus alle im Sommer 1942 in den Holocaust (Minsk) deportiert wurden.

Die gesuchte Señorita Johanna Wolff hielt sich im Juni/Juli 1941 schon in der Baumstraße 8 von Euskirchen auf, im Dachgeschoss des „Judenhauses Oster“. Wenig ist über die verängstigte Jüdin bekannt. Sie wird jedoch im Buch Isidors Brief mehrfach genannt. Demzufolge hält sie sich Anfang des Jahres 1942 oft bei dem Ehepaar Isidor und Sofia Mayer, Baumstraße 7, auf und liest der blinden Nachbarin stundenlang aus einem Buch vor. Dies erwähnt Briefschreiber Isidor Mayer recht häufig.
Am 12. Juni 1942 wurde sie dann wie die meisten ihrer jüdischen Nachbarn mit der Eisenbahn zum Sammelort Köln verbracht und von dort aus in den Tod im Osten.

Vor etwa 10 Jahren wurde das Haus Baumstraße 8, wo im Sommer 1941 der Brief von Leopold Ruhr schlussendlich eintraf, abgerissen. Der Inhalt der jüdischen Korrespondenz blieb unbekannt. Aber wie – und von wo? - mag der Briefumschlag vor einiger Zeit auf eine Philatelistenbörse gelangt sein?

« zurück zum Seitenanfang